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Die Vorgeschichte der Schüler
[042:1] Wenn unsere Kinder sechs oder sieben Jahre alt sind, dann werden
sie in der Regel für schulreif erklärt; das bedeutet, daß sie bis zu diesem
Zeitpunkt alles gelernt haben, was als unbedingte Voraussetzung dafür
angesehen werden muß, daß das Kind von der Schule profitiert – will sagen,
daß es in der Schule lernen kann. Dazu gehört offenbar eine hinreichende
körperliche Belastbarkeit; dazu gehören ferner eine gewisse
Konzentrationsfähigkeit, die Fähigkeit, eigene Bewegungslust vorübergehend
zu dämpfen, Aufforderungen anderer zu verstehen und auf sie zu reagieren;
dazu gehören schließlich auch Fähigkeiten wie das Erkennen und
Unterscheidenkönnen von Formen, Farben und Mengen, ein gewisses
Sprachniveau, sowohl in aktiver wie in passiver Hinsicht, und ähnliches
mehr.
[042:2] Obwohl nun aber alle Kinder einer Grundschulklasse in diesen
Hinsichten als schulreif gelten können, ist es doch eine Erfahrung jedes
Lehrers, jeder Lehrerin – ja, wohl eine Erfahrung auch vieler Eltern –, daß
offenbar nicht alle Kinder in gleicher Weise schulfähig
sind. Das ist eine triviale Feststellung, denn wer wollte schon leugnen, daß
auch Kinder Individualitäten sind, verschieden rasch und verschieden gut
lernen, vor allem auch Verschiedenes mit unterschiedlichem Erfolg
lernen!
[042:3] Weniger trivial indessen ist schon die Beobachtung, daß einige
solcher Unterschiede sich hartnäckig halten. Das Bemühen der Lehrpersonen
bringt nicht den gewünschten Erfolg. So werden dann schwache Schüler,
schlechte Schüler, unbegabte Schüler diagnostiziert – oder wie immer die
zusammenfassenden Benennungen dann heißen mögen.
[042:4]
„Unbegabte Schüler“
–: das war lange Zeit, als
wir über die Natur von Lernvorgängen noch wenig wußten, ein Ausdruck, der
alles zu erklären schien: es gibt eben – so hieß es dann – Kinder, die von
Natur aus weniger leisten können, weniger lernfähig und lernwillig sind als
andere; das Schulsystem, so meinte man, nehme auf diesen unabänderlichen
Tatbestand Rücksicht, und zwar dadurch, daß wir die Gymnasien für die gut
und theoretisch
„Begabten“
, die Mittelschule für die
mittelmäßig und eher technisch
„Begabten“
haben; der Rest
bleibt in der Volksschule.
[042:5] Solche Betrachtung kommt uns heute mit Recht mittelalterlich vor.
Aber sie ist nicht nur falsch, sie ist auch barbarisch. Die meisten
Unterschiede in |a 48|der Schulfähigkeit von Kindern hat
nämlich nicht irgendeine anonyme
„Natur“
zu verantworten,
noch viel weniger sind etwa die Kinder selbst daran schuld; zu verantworten
haben allein wir diese Unterschiede. Was heißt das?
[042:6] Wenn also die Leistungsdifferenzen und die Unterschiede in der Lernfähigkeit nicht oder nur zu einem geringen Teil in der Natur des Kindes, in seiner biologischen Ausstattung begründet liegen, worauf sind sie dann zurückzuführen? Allgemein kann die Antwort nur lauten: die Unterschiede sind durch ein unterschiedliches Lernmilieu der Kinder zu erklären, und das bedeutet konkret und im besonderen: durch die Erziehungspraxis der Eltern. Ich will versuchen, das an einigen Beispielen nachzuweisen: an den Wertüberzeugungen, die in der Familie vorherrschen; an den Belohnungs- und Strafpraktiken; an dem, was wir das Planungsverhalten nennen können und am Sprachverhalten.
1. Die Wertüberzeugungen
[042:7] Untersucht man eine Reihe von Familien, die nach dem Zufallsprinzip
zusammengestellt ist, dann wird man schnell finden, daß sie sich in dem, was
sie für wertvoll und erstrebenswert halten, stark unterscheiden, obwohl doch
alle diese Familien scheinbar ein und derselben Kultur, ein und derselben
Gesellschaft, ein und denselben Traditionen angehören. Da gibt es Familien,
die den Gehorsam der Kinder für das wichtigste halten, andere wieder legen
auf Glück und Zufriedenheit, andere auf Neugier und Wißbegierde, andere auf
Anpassungsfähigkeit und Konformität, andere auf individualistische Neigungen
und Wetteifer den größten Wert. Für die einen spielt die spätere
Leistungsfähigkeit des Kindes in der Schule eine große, für andere nur eine
geringe Rolle. Die einen wollen, daß das Kind früh selbständig wird, den
anderen ist das nicht so wichtig.
[042:8] Wer hat nun recht? Oder besser gefragt: bei wessen Wertorientierung
hat das Kind die größte Aussicht, Verhaltensweisen zu lernen, die ihm auch
schulischen Erfolg eintragen? Mit einiger Sicherheit können wir sagen, daß
Lern- und Leistungswilligkeit und -fähigkeit des Kindes dann relativ niedrig
sein werden, wenn in der Familie Gehorsam besonders hoch bewertet wird,
frühe Selbständigkeit nur eine geringe Rolle spielt, die Geborgenheit und
Sicherheit in der Familie für die Eltern weit vor außerfamiliären Werten
rangiert, das Kind zu vielen häuslichen Arbeiten herangezogen wird, um zu
lernen – wie es dann häufig heißt –,
„sich verantwortlich zu
fühlen“
, statt daß ihm schon früh die eigene Entscheidung bei der
Wahl seiner Tätigkeiten gelassen wird. Solche Feststellung widerspricht
vielleicht vielen Überzeugungen von Eltern und Erziehern. Dieser Widerspruch
ist aber nicht so überraschend: unsere Erziehungsüberzeugungen entstammen
|a 49|ja fast alle noch einer Zeit, in der die
Anforderungen, die an das Lernen des Menschen gestellt wurden, nicht so hoch
waren wie heute und in der außerdem – das ist vielleicht noch wichtiger –
niemand etwas Ungerechtes dabei fand, daß der weitaus größte Teil der
Bevölkerung über Generationen hinweg von einer wirklich guten Bildung völlig ausgeschlosesn blieb. Und noch etwas anderes ist bemerkenswert: Untersuchungen
zur Erziehungseinstellung von Eltern haben immer wieder gezeigt, daß es eine
Reihe von Verhaltensweisen gibt, auf die nahezu durchweg nur sehr wenig Wert
gelegt wird, obwohl sie bei einiger Überlegung vielleicht mehr
Aufmerksamkeit verdienen sollten: Originalität, Neugier, Zufriedenheit des
Kindes und die Freiheit des Kindes von Angst. Offenbar sind wir in der Regel
davon überzeugt, daß solche Merkmale entweder für sich selbst wenig wertvoll
sind oder daß sie wenig dazu taugen, das Kind schul- und lebenstüchtig zu
machen. Wenn solche Überzeugungen zutreffen sollten – welch eine Schule,
welch eine Gesellschaft ist das eigentlich, in der Freiheit von Angst,
Kreativität, Zufriedenheit als untergeordnete und wenig zweckmäßige Werte
gelten?
[042:9] 2. Die Unterschiede, die sich so schon bei den Werten zeigen, an
denen Eltern ihr Erziehungsverhalten orientieren, und die sich auf den
Erfolg von Kindern in der Schule auswirken, treten noch deutlicher hervor,
wenn wir nach den Straf- und Belohnungspraktiken fragen. In der
Lerntheorie werden solche Vorgänge unter dem Begriff des
Bekräftigungslernens zusammengefaßt: es geht dabei um die Frage, mit welchen
Mitteln ein Kind dazu bewogen wird, das eine Verhalten zu verstärken, öfter
zu wiederholen und ein anderes Verhalten zu lassen. Für die Entstehung eines
starken Leistungsmotivs, von dem wiederum der spätere Schulerfolg abhängig
ist, hat dieses Bekräftigungslernen große Bedeutung. Der Zusammenhang von
Leistungsmotivation und Bekräftigungsverhalten der Eltern kann an einer
klassischen Untersuchung zu diesem Problem deutlich gezeigt werden:
[042:10] Man hat aus einer großen Zahl neun- bis elfjähriger Jungen zwanzig
herausgesucht, die besonders hoch, und zwanzig, die besonders niedrig
leistungsmotiviert waren. Um nun ermitteln zu können, ob die Unterschiede
mit dem Erziehungsverhalten der Eltern etwas zu tun haben, wurde den Kindern
bei Anwesenheit der Eltern die Aufgabe gestellt, mit verbundenen Augen aus
Bauklötzen einen möglichst hohen Turm zu bauen. Die Eltern durften beliebig
eingreifen, nur am Bauen selbst durften sie sich nicht beteiligen. Die
Beobachtung des elterlichen Verhaltens nun gibt Aufschlüsse über die Art, in
der die Eltern das Verhalten des Kindes durch Bekräftigungen, d. h. also
durch Belohnungen und durch Tadel zu lenken versuchen. Die Eltern hoch
leistungsmotivierter Söhne – das war das Ergebnis |a 50|–
setzen ein hohes Anspruchsniveau, schaffen zugleich aber eine entspannte,
gelöste Atmosphäre und lassen das Kind deutlich spüren, daß sie sich über
jeden Erfolg freuen. Sie bekräftigen also das Verhalten des Kindes durch
Wärme und liebevolle Zuwendung. Das ist bei der Mutter ausgeprägter als beim
Vater. Die Mutter greift jedoch bei Mißerfolg auch tadelnd und ärgerlich
ein. Der Vater dagegen hält sich zurück und läßt den Jungen sein Wohlwollen
deutlich spüren. Bei Kindern mit niedriger Leistungsmotivation ist es eher
umgekehrt: Der Vater ist antreibend und bei Mißerfolg tadelnd, die Mutter
hält sich zurück und zeigt wenig Interesse am Leistungsniveau. Offenbar
verhindert – wie der Psychologe Heckhausen aus dieser und ähnlichen Untersuchungen folgert – die starke Dominanz des Vaters, seine autoritäre Leistungsforderung, auf lange Sicht die Entwicklung eines selbständigen und dauerhaften Leistungsmotivs im Kinde. Der Leistungswille bleibt an eine Autorität gebunden und kann nicht unabhängig werden, weshalb solche Kinder dann auch trotz elterlicher Bemühungen in der Schule doch zu keinen anhaltend besseren Leistungen gelangen.
[042:11] Nach neuesten Forschungsergebnissen scheint es, daß nicht nur der
tadelnde Eingriff des Vaters, sondern auch der der Mutter eher hemmend statt
fördernd wirkt. Die unabhängigste und dauerhafteste Leistungsmotivation wird
danach dann im Kinde entwickelt, wenn auch die Mutter zwar
Leistungsansprüche an das Kind stellt, zwar Erfolge des Kindes belohnt und
seine Selbständigkeit fördert, Mißerfolge aber nicht tadelt, schon gar nicht
bestraft, sondern sie eher übergeht. Solche Erziehungsstrategie nützt aber
wenig, wenn im übrigen in der Familie ein strenges Klima herrscht, die
Kinder stark kontrolliert werden und ihnen auch sonst wenig Selbständigkeit
eingeräumt wird.
3. Das Planungsverhalten
[042:12] Das gerade beschriebene Erziehungsverhalten der Eltern, das die
Selbständigkeit und Leistungsfähigkeit des Kindes zu fördern scheint, hat
man eine
„psychologische“
Erziehungspraxis genannt –
„psychologisch“
deshalb, weil hier nicht grob mit
Befehlen, Verboten und Disziplinierungsmaßnahmen erzogen wird, sondern die
Eltern zurückhaltend und verständnisvoll auf das Seelenleben des Kindes
eingehen. Ein solches pädagogisches Vorgehen ist nun auch für das Erlernen
des Planungsverhaltens wichtig, eines Verhaltens, in dem zukünftige
Ereignisse vorgestellt, die einzelnen Schritte dahin geplant werden können
und das Kind vorübergehend auf unmittelbare Befriedigungen seiner
Bedürfnisse zu verzichten imstande ist. Dieses Verhalten ist für den
Schulerfolg des Kindes besonders wichtig; alles schulische Lernen ist ja auf
die Zukunft hin orientiert und erfordert |a 51|immer einen
mindestens teilweisen Verzicht auf sofortige Befriedigung. Die Lust des
Lesen- oder Schreiben-Könnens muß – auch bei geschickter und lustbetonter
Lehrmethode – immer auch durch Phasen mühseliger Übungen hindurch. Nicht
alles kann spielend erlernt werden, und selbst im Spiel verlangen auch die
Regeln, daß man auf unmittelbare Befriedigung verzichten kann.
[042:13] Je ausgeprägter diese Fähigkeit ist, um so wahrscheinlicher ist
es, daß das Kind die Schule erfolgreich durchläuft. Viele meinen nun
offenbar, daß diese Fähigkeit am ehesten dadurch entsteht, daß das Kind früh
an Versagungen gewöhnt wird durch Verbote und Bestrafungen immer dann, wenn
das Kind gegen die Erwartungsnormen der Erwachsenen verstößt, und zwar ohne
nach den Bedürfnissen und Absichten des Kindes zu fragen. Auf solche Weise
aber lernt das Kind jenes Planungsverhalten gerade nicht. Kinder
mit großer Frustrations-Toleranz – mit der Fähigkeit also,
momentane Versagungen zu ertragen – wachsen vornehmlich in solchen Familien
heran, in denen die Bedürfnisse und Absichten ernst genommen werden, in
denen grundsätzlich wenig gestraft wird, und wenn, dann vornehmlich nur in
der Form sprachlicher Mißbilligung und möglichst nur in solchen Fällen, in
denen das Kind
„seine Fassung verliert“
, in denen es z.
B. unkontrolliert aggressiv ist, in denen es also zeigt, daß es die
Befriedigung plötzlich auftretender Bedürfnisse noch nicht hinausschieben
kann. (Das hat allerdings – das möchte ich hier einschieben – mit dem
bekannten Trotz der Kinder nichts zu tun.) Das sind gerade solche
Situationen – z. B. ein unvermittelter Wutausbruch, eine krasse
Unbeherrschtheit –, in denen das Kind seine spontanen Wünsche nicht
sprachlich formulieren kann. Die Mißbilligung jedoch veranlaßt es, sich über
diese Wünsche klarzuwerden, die unmittelbare Befriedigung zugunsten einer
Überlegung aufzuschieben. Auf diese Weise – so scheint es –
lernt das Kind am ehesten jenes für den Schulerfolg so wichtige Muster des
Planungsverhaltens.
[042:14] 4. Damit ist nun auch der vierte Fragen-Bereich angesprochen, den
ich hier skizzieren möchte, das Sprachverhalten. Auch dabei treten
Unterschiede in der Erziehungspraxis deutlich hervor, die sich dann als
Unterschiede im Schulerfolg der Kinder niederschlagen. Sprechen-Können und
Denken-Können gehören eng zusammen. Schwierige Probleme kann derjenige
besser lösen, der sie auch differenziert zur Sprache bringen kann. Da nun
die wichtigsten Sprachlernprozesse vor dem Schuleintritt ablaufen,
fällt auch in dieser Hinsicht der Familie eine entscheidende Aufgabe zu.
Auch dazu das Beispiel einer Untersuchung:
[042:15] Müttern aus verschiedenen Bevölkerungskreisen wurde die Aufgabe
gestellt, ihren 4jährigen Kindern beizubringen, wie verschiedene Spielsachen
|a 52|nach Farben und Formen geordnet werden können. Die einen nun verhielten sich so, daß sie dem
Kinde die Aufgabe ruhig und sprachlich genau schilderten, das Kind fragten,
ob es verstanden hätte und sich die Lösung der Aufgabe zutraue, das Kind zu
Fragen animierten und danach kaum noch, und wenn, dann nur
sprachlich, in die Lösung eingriffen. Andere dagegen gaben eingangs nur sehr
dürftige oder gar keine Erläuterungen, unterbrachen bei Mißerfolg das Kind
durch plötzliche und schlecht durchformulierte Appelle oder griffen gar ohne
jede sprachliche Äußerung in die Lösungsversuche des Kindes ein. Im ersten
Fall wird die Sprache als ein differenziertes Verständigungsinstrument
verwendet, mit dessen Hilfe das Kind lernt, seine Probleme und Probleme
überhaupt zu lösen oder einer Lösung nahezubringen. Im zweiten Fall aber
scheint gar keine Kenntnis, kein Bewußtsein von dieser Funktion der Sprache
vorhanden zu sein. Daß die Kinder der einen Gruppe höhere intellektuelle
Leistungen erbringen als die der zweiten Gruppe, leuchtet ein. Unterschiede
in den Leistungen zeigen sich übrigens auch je nachdem, ob die Kinder sich
bei den Familienmahlzeiten mit den Eltern und untereinander unterhalten
können. In vielen Familien ist dies ja auch eine der wenigen Gelegenheiten,
bei denen die Kinder sprachliche Erfahrungen mit den Erwachsenen machen
könnten, die über eine abgekürzte Formel-Sprache hinausgehen.
[042:16] Damit habe ich aus der Fülle von wichtigen Aspekten der
Vorgeschichte der Schüler nur vier herausgegriffen. Ich habe allerdings
bisher nur das Verhalten der Eltern kritisch behandelt. Wir müssen fragen,
ob das ganz gerecht war. Das, was wir den Schulerfolg eines Kindes nennen,
ist ja auch eine Folge der schulischen Anforderungen. Wir können also die
Kritik auch gegen die Schule wenden. Muß sie eigentlich so sein,
daß die auf die eine Weise erzogenen den anders erzogenen Kindern gegenüber
im Nachteil sind? Muß sie eigentlich so sein, daß die Angst der
Kinder vor schlechten Zensuren zur Angst der Eltern vor der
Leistungsschwäche ihrer Kinder führt und diese wiederum dazu, daß sie sie zu
mißerfolgsängstlichen Wesen erziehen? Muß eigentlich der
Leistungswettlauf das Prinzip sein, an dem die Schule sich orientiert, oder
wäre nicht auch eine humane und demokratische Schule denkbar, in der
schöpferische Einfälle wertvoller sind als Orthographie, in der das
begründete Widersprechenkönnen höher bewertet wird als das Einprägen von
Wissen, das Fragen-Können höher als das Antworten-Können? Muß die
Schule so sein, daß das sprachliche Niveau der Kinder schon von Anfang ihrer
Schulzeit an zum entscheidenden Faktor ihres Erfolgs oder Mißerfolgs wird?
Muß sie so an Erfolg und Leistung orientiert sein, daß die
Eltern – vor allem die, die des Schulerfolgs ihrer Kinder nicht so sicher
sind – aus Mißerfolgsängstlichkeit zu Erziehungspraktiken greifen, durch die
die Kinder ängstlich, aggressiv, |a 53|unselbständig oder
konformistisch werden statt sicher, glücklich, kritikfähig, selbständig,
kreativ?
[042:17] Das sind Fragen an die Schule, die ich hier nicht mehr beantworten
kann. Die Kritik kann indessen auch noch eine dritte Richtung nehmen. Prüfen
wir nämlich, aus welchen sozialen Schichten jeweils diejenigen Familien
stammen, in denen ein für den Schulerfolg ungünstiges Erziehungsverhalten
praktiziert wird – denen also Gehorsam, Sicherheit und Ordnung besonders
wichtige Werte sind; die zu Strafen Zuflucht nehmen; in denen die Kinder
vorwiegend an der unmittelbaren Gegenwart orientiert werden und jenes
Planungsverhalten nur unzureichend erlernen; in denen ein niedriges
Sprachniveau herrscht –, prüfen wir also die Schichtzugehörigkeit solcher
Familien, dann zeigt sich, daß sie in den meisten Fällen der sozialen
Unterschicht, also der Arbeiterklasse, angehören.
[042:18] Dadurch entsteht nun fast zwangsläufig eine massive Benachteiligung dieser Gruppe. Ich sprach absichtlich von Arbeitern – obwohl manche heute diese Ausdrucksweise für ungenau halten. Von Arbeitern oder Lohnabhängigen zu sprechen ist in diesem Zusammenhang richtig, weil nämlich die Stellung des Vaters im Produktionsprozeß sehr eng mit den Erziehungspraktiken in seiner Familie zusammenhängt: Er ist abhängig, an Anweisungen gebunden, für Kritik ist am manuellen Arbeitsplatz wenig Raum, desgleichen nicht für differenzierte sprachliche Vorgänge. Sein Handlungsfeld ist wenig chancenreich, er kann nur in einzelnen Fällen sozial aufsteigen; in seiner Freizeit muß er sich von körperlicher Anstrengung erholen und wird zudem von der Konsum-Industrie dazu verführt, die Zwänge seiner Arbeitssituation in utopischen Traumbildern zu kompensieren. Es bedürfte wirklich gewaltiger Anstrengungen des einzelnen, sich aus diesem Zirkel zu befreien und in der eigenen Familie nun einen Erziehungsstil zu praktizieren, der nur den mittleren und höheren Schichten unserer Gesellschaft leichtfallen mag: diese verfügen ja nicht nur über entsprechendes Prestige und Selbstbewußtsein, sondern auch über materielle Mittel, den Kindern vielerlei Lernhilfen zukommen zu lassen.
[042:19] Meine Kritik hat sich damit ausgeweitet zu einer Kritik an unserer
Gesellschaft, sofern sie vor diesem Problem resigniert oder gar zynisch
darauf hinweist, daß es Arbeiter ja schließlich immer geben müsse.
Wohlgemerkt: Die Kritik orientiert sich jetzt nicht mehr an den gerade
herrschenden Leistungsanforderungen der Schule, auch nicht an den
Erfordernissen der Wirtschaft, denen die schulischen Leistungsanforderungen
nur allzuleicht dienlich sind – meine Kritik orientiert sich nun an der Idee
eines Gemeinwesens, in dem alle frei von Angst schöpferisch und kritisch an
der Gestaltung der sozialen Verhältnisse mitwirken können. Dazu benötigen
wir nicht nur eine veränderte Familienerziehung, andere Kindergärten und |a 54|andere Schulen, sondern dazu ist offenbar eine
Veränderung nötig, die bis in die Arbeitsverhältnisse der Menschen hinein
die Demokratisierung unserer Gesellschaft betreibt.