Diskussionsbeitrag zur Frage pädagogischer
„Handlungsforschung“
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a)[045:6] Man versucht eine Kritik jener Formprinzipien des Forschungs- und Erkenntnisprozesses. Das hat z. T. beispielsweise versucht. Wie sein Beispiel aber zeigt, ist das ein mühseliger und langer Weg, der sicher beschritten werden muß, der aber – wenn man ein konkretes Forschungsprojekt im Auge hat, das man in absehbarer Zeit realisieren will – für Sie mindestens unzweckmäßig ist, solange die Argumentationen zur Begründung eines konkreten einzelnen Forschungsvorhabens verwendet werden sollen.
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b)[045:7] Man vermeidet eine grundsätzliche Argumentation auf allgemeiner Ebene – läßt also die Frage nach den konventionellen Forschungskriterien auf sich beruhen – und argumentiert stattdessen im Hinblick (nur!) auf den konkreten Forschungsgegenstand und die, in bezug auf die interessierenden Ergebnisse, relevanten Methodenfragen.
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a)[045:10] Erkenntnisvorgänge, die ein pädagogisches Handlungsfeld zum Gegenstand haben, sind immer und notwendigerweise von bestimmten›background expectancies‹›Lebenswelt‹(Forschungstradition, Schule, Subkultur usw.) gehören und nach deren Maßgabe bedeutsame Dimensionen für einen Forschungsprozeß festgelegt werden. Der Forscher also nimmt schon immer›an Sprachspielen und Lebensformen‹() teil; allerdings müssen diese nicht identisch sein mit den Sprachspielen und Lebensformen des›Forschungsgegenstandes‹. Seine Forschung wird umso›kommunikativer‹, d. h. für die untersuchte Population um so handlungsrelevanter sein, je mehr er nicht an irgendwelchen Sprachspielen und Lebensformen teilhat, sondern gerade an denen, in denen das zu erforschende›Objekt‹existiert.
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b)[045:11]›Teilhabe an der Lebenswelt des zu erforschenden Objektes‹heißt natürlich nicht naive Identifikation mit ihm, sondern – für den Forschungsprozeß – Ermittlung derjenigen Dimensionen, in denen für eine gegebene Lebenswelt Sinn sich konstituiert oder konkret wird. Das bedeutet, daß diese Form der Teilhabe von Anfang an›reflexiv‹ist: die Frage nach den Wegen, auf denen sich Sinn im Untersuchungsfeld konstituiert (also z. B.: welche Dimensionen des Schülerverhaltens werden für dieses Lehrerkollegium relevant? Welche Bedeutsamkeit haben für es Lernziele und welche Lernziele? In welchen Lernsituationen entdecken Schüler eine über die Situation hinausgehende Perspektive? usw.) – die Frage nach den Gründen für solche Bedeutsamkeiten also gehört von Anfang an dazu.Der reflexive Charakter dieses›approachs‹muß sich z. B. auch darin zeigen, daß›kommunizierte Bedürfnisse‹(Stickelmann)›Bedürfnis‹(an welches sollte man da denken?) zum Forschungsgegenstand werden könnte, wir müßten da ja immer interpolieren und z. B. aus einer bestimmten Art zu reden oder zu agieren ein›Bedürfnis‹erschließen. Diese Art zu agieren aber gehört ja der je bestimmten Lebenswelt zu, die als eine gesellschaftlich erzeugte unterstellt wird. Was wir also sinnvoll können, ist, die Art des Agierens und die in ihr sich ausdrückenden, in ihr formulierten oder definierten Bedeutsamkeiten ermitteln und zwar so, daß ihr gesellschaftlicher Erzeugungsprozeß als weiterer Erkenntnisschritt mindestens im Kopfe des Forschers bleibt. Dies›im Kopfe haben‹scheint mir deshalb wichtig zu sein, weil es nur das Komplement der Tatsache ist, daß die›naiven‹Relevanzkriterien des Forschers ja auch solcher gesellschaftlicher Erzeugung unterworfen sind. Nur dadurch, daß er gesellschaftliche Erzeugung unterstellt, hat er ja überhaupt ein Motiv, sich den besonderen und – im Vergleich zu ihm selbst – anderen Sinnkontexten zuzuwenden mit der Absicht, diese nach deren eigenem Maß zu beschreiben. Dieses Maß aber findet er nicht in›Bedürfnissen‹, sondern in der Lebenswelt-spezifischen Bestimmung von Relevanzen, (nach deren Maßgabe sich dann bedeutsame von weniger bedeutsamen›Bedürfnissen‹scheiden lassen;›Bedürfnisse‹aber sind dann das, was in der Lebenswelt dafür gilt!). Oder anders: wenn ich keine naturalistische Trieb- oder Bedürfnislehre unterstelle, dann müssen mir Bedürfnisse als gesellschaftlich erzeugte erscheinen; erscheinen sie mir so, dann sind sie ein abgeleitetes Datum, z. B. Ideologie; sind sie ein abgeleitetes Datum, können sie keinen Anspruch auf eine theoretisch begründende Funktion machen.›Vorab konstruierten Erfolgskontrollen‹
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c)[045:12] Daraus nun ergibt sich ein erstes methodisches Postulat, das dem der traditionellen Felduntersuchung gleich ist: Es ist ein Verfahren zu wählen, das die Sinn-Momente des Handlungsfeldes möglichst unverkürzt beschreibbar macht. Das kann nur durch Teilnahme gelingen, weil die grundsätzliche Skepsis gegenüber meinen eigenen Standards, meinen eigenen Relevanzkriterien mich auch skeptisch machen muß gegenüber jedem entwickelten Untersuchungsinstrument, jedenfalls soweit es bereits inhaltliche – d. h. die Sinn-Aspekte des Feldes betreffende – Entscheidungen enthält. Man kann das auch so ausdrücken: Die Sinn-Momente dürfen nicht auf einem›künstlichen‹Parameter abgebildet werden, sondern auf einem, den das Sprachspiel der Lebenswelt›liefert‹. Dabei ist anzunehmen, daß die so zu findenden Parameter umso angemessener sein werden, je näher das Sprachspiel bzw. die für Beobachtung und Teilnahme ausgewählten Situationen dem Handlungskontext der Lebenswelt liegen.
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d)[045:13] Daraus ergibt sich eine zweite methodische Schwierigkeit und ein entsprechendes Postulat. Da nämlich auch im Falle einer auf den Handlungskontext des Forschungsfeldes sich einlassende Forschungspraxis nicht angenommen werden kann, daß der Forscher›vorurteilsfrei‹verfährt, ist eine Explikation derjenigen Kategorien unerläßlich, die seine primäre Beobachtung, seine Aufmerksamkeit leiten. Der Forscher hat, wie sagt,›eine theoretische Voreinstellung‹›Untersuchungsobjekt‹richten, er kann seine›Voreinstellung‹testen: Sie erscheint, in ausgearbeiteter, (begründeter und diskutierbarer) Form als Konstrukt, das am Handlungsfeld und mit den kooperierenden Praktikern validiert wird. Die ausgearbeitete Form eines solchen Konstruktes im Hinblick auf den Forschungsvorgang aber ist ein – wie auch immer rudimentäres – Untersuchungsinstrument (Beobachtungsleitfaden, strukturierter Fragebogen, Interviewleitfaden usw.). Ohne eine solche Umsetzung in ein›Instrument‹wäre ja die Voreinstellung des Forschers gar nicht zu überprüfen. Es ergibt sich also das Postulat: Die Anfangsphasen (mindestens) einer handlungsorientierten Forschung sind charakterisiert durch den Versuch, Reziprozität von Sinn-Normen der zu untersuchenden Lebenswelt und den›Sinn-Normen‹der Forschergruppe herzustellen, und zwar mit Hilfe von operationalen Anweisungen für den Forschungsprozeß. Das impliziert – wenn Reziprozität gewollt wird – daß die im Untersuchungsfeld Handelnden (also z. B. Lehrer, Schüler, Eltern) an der›Validierung‹der vorgegebenen Konstrukte beteiligt werden.
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e)[045:14] Handlungsorientierte Forschung aber will darüber hinaus noch mehr erreichen: Sie will nicht nur lebensweltspezifische Sinnorientierungen ermitteln, sondern – gemäß der Unterstellung, daß solche Orientierungen gesellschaftlich erzeugt sind – durch den Forschungsprozeß bewirken, daß gegebene (vorgefundene) Orientierungen revidiert werden. Sie will Praxis ändern, und zwar so, daß diese Änderung von den Praktikern gewollt wird. Wenn es sinnvoll ist, einen Unterschied zwischen›Forschung‹und›Agitation‹zu machen – und ich meine, daß das sinnvoll ist – dann muß genauer bestimmt werden, in welcher Weise hier›Praxisveränderung‹gedacht wird. Ich beantworte diese Frage hier nur in der knappsten Form: Praxisveränderung durch Forschung (also durch Erkenntnis) kann nur geschehen dadurch, daß die›Forschungsobjekte‹in die Lage einer wissenschaftlichen Selbstreflexion ihrer Sinnorientierungen versetzt werden. Das geht nur, wenn sie ihre Situation in den Formen wissenschaftlicher Reflexion objektivieren können, also durch Teilhabe am wissenschaftlich instrumentalisierten Prozeß, der durch die Forschergruppe in Gang gesetzt wurde. Das heißt aber nichts anderes, als daß die Kommunikation |a 16|zwischen Forscher und Praktiker sich tendenziell der Form des Diskurses nähert.
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f)[045:15] Dieser Vorgang kann als Aufklärung beschrieben werden, wobei der Forscher über die Sinngrenzen seiner theoretischen Vorentwürfe, der Praktiker über Möglichkeiten, Sinnorientierung zu erklären, Alternativen theoretisch zu denken, aufgeklärt wird. Eine so angelegte Forschung kann›systemüberschreitend‹(oder wie immer das genannt werden mag) nur insofern genannt werden, als sie im Diskurs die eingespielten Sinnorientierungen überschreitet, und zwar dadurch, daß er sie in den Horizont theoretischer Fragen rückt. Handlungsrelevant wird ein solches Verfahren dadurch, daß auf diese Weise Alternativen möglich, im glücklichen Fall als konkret sichtbar erscheinen. Die daran, sich möglicherweise anschließende Praxis von Neu-orientierung und Handlungsentwurf, Handlungsdurchführung, stellt einen neuen Fall etablierten Sinnhorizontes dar. Ihm gegenüber gilt nun wieder das Gleiche, wie am Anfang des ganzen Prozesses, wenngleich nun vielleicht in abgekürzter Form absolvierbar: ich muß wieder bei a) beginnen. Das kann besonders dann bzw. unter der Bedingung der Fall sein, daß die Forschungsgruppe sich mit dem neu entstandenen Sinn-Kontext derart identifiziert, daß kritische Distanz sich gleichsam nicht mehr von selbst versteht oder ergibt.˂