Prioritäten der Erziehungs- und Bildungsforschung [Textfassung a]
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Prioritäten der Erziehungs- und Bildungsforschung

[046:1] Wie das Erziehungs- und Bildungssystem selbst ist auch die Erziehungs- und Bildungsforschung nicht
«autonom»
, gesellschaftlich neutral oder objektiv, sondern erfüllt gesellschaftliche Funktionen, ist
«parteilich»
. Die Formulierung von Forschungsproblemen und die Wahl von Forschungsgegenständen folgt Interessen, deren Entstehungsort nicht im Bildungswesen allein angenommen werden darf. Jeder Versuch, Forschungsschwerpunkte oder Prioritäten zu ermitteln, muss sich deshalb Rechenschaft über seine bildungspolitische Orientierung, seine gesellschaftliche Funktion, seine gesellschaftspolitische Einschätzung sozialer Lagen und Entwicklungen geben. Dieser Zusammenhang von Wissenschaft und Politik am Beispiel der Bildungsforschung ist ein umfangreiches Thema für sich. Im Zusammenhang meiner Ausführungen kann ich deshalb nur relativ grob verfahren und meine Thesen auf das beschränken, was mir als Orientierungspunkte unerlässlich scheint.
[046:2] Bildungssysteme sind Subsysteme historisch entwickelter Kulturen oder Gesellschaften. Vergleiche haben deshalb ihre eigenen Schwierigkeiten. Aus diesem Grund muss ich darauf hinweisen, dass die Bundesrepublik Deutschland den Hintergrund meiner Thesen darstellt.

A. Ausgangspunkte

1. Verlust an Kommunikation (Sinnverständigung) trotz Informationsfülle

[046:3] Die politisch-ökonomische und technische Entwicklung unserer Zivilisation ist dadurch gekennzeichnet, dass unsere Lebenswelten und Beziehungen immer weniger kommunikativ werden. Diese Behauptung scheint paradox angesichts wachsender Informationsmassen und Informationsmedien; sie gilt deshalb nur unter der Bedingung einer genaueren Bestimmung des Ausdrucks
«Kommunikation»
: die Sinnverständigung zwischen Menschen über ihre Bedürfnisse und deren Befriedigung, ihre Interessen und die Orientierung gemeinschaftlichen Handelns.

2. Entpolitisierte Bürgerlichkeit

[046:4] Die öffentliche und die private Sphäre des Lebens treten zunehmend mehr auseinander. Die bürgerliche Familie und die bürgerliche Geselligkeit sind entpolitisiert; in ihnen werden die Belastungen durch Arbeit und Oeffentlichkeit kompensiert: sie erfüllen die Funktion, die Ware Arbeitskraft zu reproduzieren. Anderseits ist
« Oeffentlichkeit»
nicht die Plattform der über die Probleme des Gemeinwesens diskutierenden Bürger, sondern – vor allem in der Form der Massenmedien – eher ein Kontrollorgan, mit dessen Hilfe das Verhalten der entpolitisierten Bevölkerung berechenbar gemacht wird. Das bedeutet, dass die bürgerliche Idee einer liberalen Oeffentlichkeit, durch die traditionelle Herrschaft kritisiert und aufgelöst werden sollte, zur Illusion geworden ist. Der zeitungslesende Familienvater hat nichts mehr mit Mirabeau, der Curriculumforscher nichts mehr mit Condorcet gemeinsam.

3. Moderne Formen der Klassenherrschaft

[046:5] Die Herrschaftsverhältnisse haben immer noch die Form von Klassenbeziehungen, nur werden sie schwerer erkennbar. An die Stelle der unmittelbaren materiellen Ausbeutung ist die psychische Bedrohung getreten. Diese Bedrohung ist ideologischer Natur; sie drückt sich aus in einem
«kolonialistischen»
(Friedenberg) Umgang mit der jungen Generation, in einer Verleugnung primärer Bedürfnisse und Interessen, in entfremdetem Städtebau, ungleichen Lebenschancen, abstrakter Leistungs- und Statuszuordnung usw.

B. Merkmale des Bildungswesens

[046:6] Das Bildungswesen folgt in der Tendenz diesen Eigentümlichkeiten der gesellschaftlichen Lage:
  1. 1.
    [046:7] Es
    «ökonomisiert»
    die Lebensorientierung der jungen Generation dadurch, dass es sie auf Leistung und Prestige hin ausrichtet; weniger die Inhalte als vielmehr die formalen Aspekte des Bildungsprozesses (formales Training, Lerngeschwindigkeiten, Abschluss usw.) stehen im Vordergrund der Reformen.
  2. 2.
    [046:8] Es reproduziert weiterhin Ungleichheit; die quantitativen Verhältnisse ändern sich zwar, aber nur innerhalb eines begrenzten Spielraums.
  3. 3.
    [046:9] Es kanalisiert die Spielräume und ideologisiert das Bewusstsein. Gleichbehandlung wird praktiziert durch eine unterschiedslose Unterwerfung aller Kinder unter die mittelständischen Verhaltens- und Leistungsnormen. Der
    «Gebrauchswert»
    von Dingen und Inhalten wird von dem Bildungsprozess ferngehalten; Inhalte |a 803|und Formen der Bildung werden vorwiegend nach ihrem gesellschaftlichen
    «Tauschwert»
    beurteilt.
  4. 4.
    [046:10] Es betrachtet Kinder als Objekte von Systeminteressen; sie werden klassifiziert nach ihrer Verwendbarkeit bzw. den Schwierigkeiten, die sie der Verwendung machen: Unterschicht und Mittelschicht, Leistungsfähige und Deprivierte, Schulreife und Schulunreife, Begabte und Unbegabte, Kinder mit
    «praktischer»
    und Kinder mit
    «technischer»
    Intelligenz usw.

C. Gesichtspunkte für die Bildungsforschung

  1. 1.
    [046:11] Die Bildungsforschung muss sich entscheiden, welche Rolle in dem makabren Prozess der
    «Zivilisierung»
    unserer Lebenswelt
    sie spielen will.
  2. 2.
    [046:12] Abgesehen von pragmatischen Gesichtspunkten, die durch die regionale Bildungspolitik vorgegeben sind und auf die die Bildungsforschung sich einlassen muss, will sie realistisch sein, ist ihr ein Prinzip aus der philosophischen und historischen Ueberlieferung gewiss: das Prinzip der Mündigkeit oder der Emanzipation.
  3. 3.
    [046:13] Dieses aus der Aufklärung überlieferte Prinzip bindet die Bildungsforschung an das Interesse an herrschaftsfreier Verständigung der Menschen untereinander und an ein Lernen, das sich nach Massgabe dieses Interesses organisiert (reflexives Lernen).
  4. 4.
    [046:14] Das bedeutet, dass die Bildungsforschung sich inhaltlich eine gegenwirkende aufklärende Funktion geben muss, dass sie sich von Wirtschaft und Staat unabhängig halten und dass sie politisch Partei nehmen muss gegen alle Kräfte, die dabei sind, die genannten Merkmale des Bildungswesens (B.) zu verstärken.

D. Prioritäten der Forschungspraxis

1. Curriculum-Forschung:

[046:15] In der sehr breiten und vielfältigen Forschungs-Diskussion, die in den letzten Jahren über die Probleme des Curriculums geführt wird, nehmen die unterrichtstechnologisch und systemtheoretisch orientierten Ansätze den grössten Raum ein; demgegenüber treten die inhaltlichen Fragen immer stärker zurück. Aber gerade diese erscheinen mir als das Schlüsselproblem einer Erneuerung des Bildungswesens:
[046:16] Welche Inhalte müssen in der Schule zur Darstellung kommen und wie muss zwischen Lehrern und Schülern über sie kommuniziert werden, damit der Schüler lernen kann, sich in eine reflektierte Beziehung zu seiner gesellschaftlichen Lage zu setzen und zu produktiver Beteiligung fähig wird?
[046:17] Zur Beantwortung dieser Frage ist eine Curriculum-Forschung nötig, die sowohl die
«geheimen Curricula»
der verschiedenen Lebenswelten zum Gegenstand hat (Beispiel: die inhaltliche Struktur proletarischer Lebenswelten) als auch neue Curricula im Anschluss an solche Ermittlungen konstruiert.

2. Innovations-Forschung:

[046:18] Die Bildungsforschung leidet darunter, hinter bildungspolitischen Entscheidungen herzulaufen und diese nachträglich zu legitimieren bzw. kurzfristige bildungspolitische Hilfestellung zu geben. Die Bedeutung des Ausdrucks
«Innovation»
verkümmert in diesem Kontext zur unterschiedslosen Unterstützung aller Veränderungen durch Forschung, die den Schulträgern nützlich scheinen. Bindet man aber die Forschungspraxis an das Emanzipations-Postulat, dann kann von Innovation nur dort die Rede sein, wo die von der Bildungspolitik Betroffenen ihre eigenen Entscheidungs- und Selbstbestimmungs-Spielräume erweitern können: unter welchen Bedingungen eine Innovation
«neu»
ist und wem sie nützt. Ich plädiere damit für eine Innovation
«von unten»
und gegen eine Innovation
«von oben.»

3. Handlungs-Forschung (Action Research):

[046:19] Das Paradigma für Forschungsprozesse folgt in der Bildungsforschung immer deutlicher der aus der Naturwissenschaft stammenden Vorstellung, dass Forscher und Forschungsgegenstand deutlich voneinander geschieden werden müssen, dass die Forschung so wenig wie irgend möglich das Feld verändern dürfe, in dem sie arbeitet, dass der Forscher also etwas grundsätzlich anderes tut als der Praktiker. Im Falle der Innovationsforschung (Begleitforschung) heisst das in der Regel: die Forschung misst die Anfangs- und die Endbedingungen eines praktischen Versuchs; sie vermeidet alles, was im Verlauf des zu messenden Prozesses diesen selbst beeinträchtigen könnte; andernfalls leidet die Objektivität der ermittelten Resultate. Nun ist aber – im Falle der Bildungsforschung – das Objekt der Forschung ein Handlungsfeld, das u. a. durch die Intentionen der Beteiligten, deren Handlungs- und Erkenntnis-Interessen strukturiert ist. Dieses Objekt (Schüler, Lehrer, Eltern und deren Interaktionen) würde zum Ding ohne eigene Interessen verstümmelt, würde die Forschung strikt jenem Paradigma folgen. Die Betroffenen erleben denn auch häufig die Forschung genau in dieser Weise; sie argwöhnen – und in der Regel zu Recht – dass die Forschung nicht ihren Interessen folgt, sondern denen von Planungsinstanzen und Auftraggebern. Bildungsforschung muss sich deshalb verstehen als ein Instrument praktischer Selbstreflexion, mit dessen Hilfe Situationen hergestellt werden, die neue Erfahrungen möglich machen – als ein Instrument in der Hand der Praxis.
[046:20] So paradox es klingen mag: um wohlbegründete inhaltliche Entscheidungen über die Gegenstände und die Prioritäten der Bildungsforschung fällen zu können, ist es nötig, zunächst die formalen Bedingungen für praxisnahe Legitimations- und Entscheidungswege zu schaffen. Das bedeutet Unterordnung der Forschung unter die Interessen der Betroffenen, das bedeutet — mit einem leider modisch gewordenen Ausdruck – Demokratisierung des Verhältnisses von Forschung und Praxis.