[041:1] Die Bemühungen um die Reform des Bildungswesens, besonders die
Präzisierung der Probleme, die sich unter dem Gesichtspunkt einer
demokratischen, das heißt unter anderem Chancengleichheit garantierende Schule ergeben, haben in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von
Leitsätzen erbracht, die die Orientierungspunkte der Reformen geworden
sind:
1.
[041:2] Es gibt die sogenannte
„unausgeschöpfte
Begabungsreserve“
.
2.
[041:3] Das
„Ausschöpfen“
dieser Begabungsreserve
konkretisiert sich in einer größeren sozialen Mobilität größerer
Bevölkerungsteile.
3.
[041:4] Sozialer Aufstieg für die Leistungsfähigen ist u. a. Zweck
der Schule.
4.
[041:5] Das alles kann erreicht werden durch bildungspolitische
Planung.
[041:6] Die Probleme lassen sich deshalb auch zusammenfassen in der Frage:
Wie ist individueller Aufstieg möglich; oder, bezogen auf die Bildungseinrichtungen: Wie kann die Schule
individuellen Aufstieg möglich machen? oder, in weiterer Verengung: wie kann die Schule die Leistungsfähigkeit der Schüler mit schwachen
Anfangsleistungen steigern? wie bzw. in welchen Grenzen kann der Schulerfolg aller Schüler gesichert
werden?
[041:7] An dieser Stelle können die weiteren Überlegungen zwei verschiedene
Richtungen nehmen. Wir können die Probleme der Bildungsreform orientieren an
der Frage nach einer optimalen Zuordnung von individuellen Fähigkeiten und
den entsprechenden Bildungswegen. Die pädagogische Aufgabe bestünde dann
darin, auf allen Leistungsstufen und in allen
Neigungsrichtungen einen für den einzelnen größtmöglichen Lerneffekt zu erzielen. Das
Schulsystem paßt sich auf diesem Wege der fortschreitenden
Leistungsgesellschaft an; Schulreform geschieht unter dem Gesichtspunkt einer
„demokratischen
Leistungsschule“
1
1T. Sander, HG. Rolff, G. Winkler, Die demokratische Leistungsschule, Hannover
1967.
. Schwerpunkte einer solchen Interessensrichtung
bilden sich bei der Frage nach den geeigneten objektiven Auslesekriterien
und Auslese- bzw. Lenkungsverfahren und nach begabungsfördernden, am
Leistungsgesichtspunkt orientierten Differenzierungen innerhalb der Schule. Dem entspricht das Leitbild der individuellen
Emanzipation durch
„theoretische Besinnung“
2
2A. a. O.,S. 22.
durch Bildung, oder anders formuliert: das Leitbild der
Wettbewerbsmobilität (Turner).
[041:8] Daneben ist jedoch auch eine andere Orientierung der Forschung und
damit auch der bildungspolitischen Konsequenzen möglich: Wir fragen dann
nicht nach den zwar vorhandenen, aber verborgenen Begabungen und damit auch
nicht oder nicht in erster Linie nach den besten Wegen ihrer Entdeckung und
Förderung, sondern nach den Ursachen ihrer ungleichen
Verteilung. Diese Frage führt aus der Schule heraus bzw. verknüpft sie mit den
außerschulischen Bedingungen für Lern- und Leistungsfähigkeit. Schulerfolg
wird somit nicht als eine Funktion der Schule selbst, sondern auch als eine
der vor- und außerschulischen Lernprozesse interpretiert. Diese Frage nach
den außerschulischen Lernzusammenhängen wird um so wichtiger, je mehr die
Hoffnung schwindet, daß die Schule allein imstande sein könnte, die
Ungleichheiten im Hinblick auf die Bildungschancen zu bewältigen. Das gilt
allerdings nur, wenn wir solche Ungleichheiten nicht als individuelle
Schicksale begreifen, sondern als den Zwang, dem große Gruppen unserer
Gesellschaft unterliegen. Die Sozialisationsforschung bemüht sich, u. a.
dies begreiflich zu machen.
|a 33|
II.
[041:9] Der Begriff des Schulerfolgs ist immer noch geeignet, die beiden größten Gruppen der Gesamtbevölkerung, die mittleren und die unteren sozialen Schichten voneinander zu trennen. Die einen kommen in der Regel in den vollen Genuß der Bildungseinrichtungen, die anderen nicht. Diese Relation hat sich in den letzten 40 Jahren kaum geändert. Das gilt nicht nur für die BRD, in der seit 1928 die unteren sozialen Schichten kaum Anteil am Zuwachs der Gesamtschülerzahl weiterführender Schüler hatten3
3W. L. Bühl, Schule und gesellschaftlicher Wandel, Stuttgart 1968.
. Auch in Großbritannien sind – trotz
Schulreform – die Anteile nahezu konstant geblieben4
4A. Little, J. Westergaard, The Trend of Class Differentials in Educational Opportunity
in England and Wales; in: The British Journal of Sociology, 1964,
S. 301
ff.
. Die Veränderungen sind zum einen dadurch entstanden, daß die
Mittelschicht ihre Chancen ausgiebiger nutzte und dadurch, daß die Größen der sozialen Schichten sich geändert haben: Die
Unterschicht ist kleiner geworden.
[041:10] Wie aber ist solche Hartnäckigkeit zu erklären?
[041:11] Für die Forschung bieten sich angesichts dieser Lage zwei Wege an:
Die Kritik der Schule als eines Systems von Anforderungen, die durch ihre
Art Kinder des einen Sozialisationstyps benachteiligten zugunsten derer eines anderen – und die Kritik der Sozialisationsprozesse und ihrer Bedingungen,
sofern sich in ihnen eine Erziehungspraxis manifestiert, die die volle
Beteiligung der Kinder am Bildungssystem verhindert oder erschwert.
[041:12] Die Beziehung zwischen dem Unterschicht- oder Arbeiterkind und der
Schule können wir also verstehen als das Zusammentreffen zweier
Sozialisationstypen. Der Typus, den die Schule durch ihre Standards und ihre
Lehrer repräsentiert, ist im wesentlichen gekennzeichnet durch ein der
Konkurrenzsituation entsprechendes Leistungsverhalten, durch
individualistische Wertorientierungen, durch die
Merkmale mittelständischen Sprachverhaltens und durch personorientiertes
Sozialverhalten. Diese Merkmale nun definieren zugleich den
unterprivilegierten Status des Arbeiterkindes in diesem System: Es hat in
seiner Herkunftsgruppe Lernprozesse durchlaufen, in denen es sich die für
das Schulsystem erfolgversprechenden Dispositionen in zureichendem Maße
nicht aneignen konnte; oder, positiv formuliert: es hat Lernprozesse
durchlaufen, die für andere Sozialzusammenhänge als unsere mittelständisch
geprägte Schule funktional sind. Jede Schule bereitet ihre Kinder –
idealtypisch gesehen – auf eine schichtspezifische Karriere vor.
[041:13] Dazu einige Befunde: Je niedriger die soziale Position ist, um so
mehr sind Mütter der Meinung, daß sie einerseits für die emotionale
Sicherheit der Kinder zu sorgen, andererseits aber sie auch strikt zu
kontrollieren hätten. Mütter aus der Arbeiterklasse wünschen von ihrem 11
oder 11 Jahre alten Kind signifikant häufiger als Mittelschichtmütter, daß
es ordentlich und sauber ist, daß es den Eltern gut gehorcht und gute
Manieren zeigt. Sie greifen häufiger zum Mittel der körperlichen Züchtigung,
behandeln Jungen und Mädchen stärker unterschiedlich und bestrafen in den
Kindern weniger ihre Absichten als vielmehr nur die beobachteten Handlungen.
Als die wichtigsten Dinge,
„die eine gute Mutter tut“
(nach einer Untersuchung von Duvall)
werden von den Müttern der Unterschicht genannt: Wohnung und Kind sauber und
ordentlich halten, das Kind an Regelmäßigkeit gewöhnen und das Kind
anhalten, Erwachsenen zu gehorchen und ihnen Achtung
entgegenzubringen. Es ergibt sich so für die familiäre Erziehungspraxis der
Unterschicht ein Syndrom von Einstellungen und Verhaltensweisen, das durch
ein hohes Maß an Konformitätstendenzen,
Kontrollierungen und Disziplinierungen gekennzeichnet werden kann,
wohingegen Selbständigkeit und Selbstkontrolle, Unabhängigkeit vom Urteil
anderer, Wißbegierde u. ä. nur eine verschwindend geringe Rollen spielen. Wir können deshalb annehmen, daß schichtenspezifische
Wertorientierungen, Sozialisationspraxis,
„Sozialcharakter“
und Schulerfolg miteinander
korrespondieren. Dieser Zusammenhang konnte auch insbesondere durch eine
Untersuchung der Wirkung von drei Wertorientierungs-Alternativen
nachgewiesen werden. Die drei Alternativen waren: passivistisch –
aktivistisch, gegenwartsorientiert – zukunftsorientiert und familistisch –
individualistisch. Bei der Verteilung dieser Orientierungen über die
sozialen Schichten zeigte sich, daß die Kinder der Unterschicht vorwiegend
passivistisch, gegenwartsorientiert und familistisch eingestellt waren, die
der Mittelschicht dagegen überwiegend aktivistisch, zukunftsorien|a 34|tiert und individualistisch. Mit diesen
unterschiedlichen Wertorientierungen geht zugleich ein niedriges
Aspirationsniveau im Hinblick auf weiterführenden Schulbesuch bei den
Unterschichtkindern einher. Zugleich entsprechen diese Gruppen auch den
tatsächlichen Schulleistungen.
[041:14] Die Alternative gegenwartsorientiert – zukunftsorientiert knüpft
an ein in diesem Zusammenhang häufig diskutiertes Verhaltensmuster an, das
„deferred gratification pattern“
. Es handelt sich dabei um die Fähigkeit, Bedürfnisse
nicht unmittelbar zu befriedigen, sondern ihre Befriedigung aufzuschieben;
also ein notwendiger Bestandteil jedes Planungsverhaltens. Auch diese
Verhaltensmöglichkeit ist für Angehörige der Unterschicht nicht typisch,
jedenfalls insofern ein solches Planungsverhalten sich auf die in der Schule
oder in den sozialen Aufstiegswegen geforderten Leistungen bezieht.
[041:15] In den weiterführenden Schulen, besonders in Gymnasien, sind die
Schüler solcher Sozialisationsherkunft in der Minderheit; sie entstammen
einem Sozialisationsmilieu, das der Schule nicht kongruent ist, und haben
einen Konflikt zu bewältigen, der dadurch entsteht, daß sie sich dem
mittelständischen Verhaltensstil der Schule und ihrer Schüler nur anpassen können, um den Preis einer Entfremdung von ihrer
sozialen Herkunft. Sie sind durch ihre soziale Position weniger zu
Mitgliedern der Gesamtkultur sozialisiert worden als vielmehr zu Mitgliedern
ihrer eigenen sozialen Schicht.
[041:16] Es liegt nahe, hier voreilig nach Maßstäben mittelständischer
Bewertung zu verfahren und eine Angleichung der Arbeiterkinder an die Mittelschichtnorm zu empfehlen – durch
Vorschulerziehung kompensatorische Programme oder Förderkurse – um auf diese Weise das beunruhigende Problem der Chancenungleichheit
aus der Welt zu schaffen. Vor einer Erörterung dieser Möglichkeit aber muß
noch eine weitere Frage nach den Ursachen gestellt werden.
[041:17] Der Ausdruck Sozialisation meint ja nicht irgendein beliebiges Lernen, sondern impliziert eine theoretische Behauptung derart, daß die soziale Struktur eines Lernfeldes bestimmte Lernprozesse mit großer Wahrscheinlichkeit erzwingt. Das bedeutet, daß die Sozialisationsvorgänge in einer sozialen Gruppe zwischen der Sozialstruktur und dem Schulerfolg vermitteln. Unter den im Begriff Sozialstruktur zusammengefaßten Faktoren scheint die wichtigste die Arbeitsinstitution des Familienernährers zu sein5
5Vergl. dazu L. J. Pearlin, M. L. Kohn, Social Class, Occupation and Parental Values: A
Cross-National Study; in: American Sociological Review, 1966, S. 466 ff.
.
Denn deutlicher noch als die soziale Position korrelieren die
schulerfolgsrelevanten Erziehungshaltungen mit der Stellung des Vaters im
Arbeitsprozeß. Danach ist es durchaus legitim, das Problem der
Bildungsbenachteiligung als ein Problem der Arbeiterschicht zu behandeln.
[041:18] Ein zentrales Problem, an dem die Verknüpfung von
Arbeitssituationen und Sozialisationsmodus der Arbeiterfamilie deutlich
wird, ist die Normierung des Verhaltens. Die Arbeitsrolle des manuell
Tätigen in einem hierarchisch gegliederten Betrieb –
„das Leben im Betrieb – und das immerhin 7 – 8
Stunden am Tag – wird immer noch bestimmt durch eine quasi
militärische Disziplin. Über ihm türmt sich eine Pyramide von
Vorgesetzten, von denen die wenigsten ... im Arbeiter einen Mitarbeiter sehen, dessen Ansichten über
Arbeitsverlauf und andere betriebliche Fragen wert wären, angehört
zu werden.“
6
6H. P. Bahrdt, Die Industriearbeiter; in: M. Feuersenger (Hrg.) Gibt es noch ein Proletariat>? Frankfurt/M. 1962,
S.
29.
– zeichnet sich durch besondere Prägnanz und
Unausweichlichkeit aus. Unter den restriktiven Bedingungen seiner sozialen
Situation sieht der Arbeiter wenig Möglichkeiten, aktiv sich an der Änderung
seiner Lage zu beteiligen. Er befindet sich in Abhängigkeit von anderen
sozialen Gruppen und sozialen Systemen, deren Aktivitäten für ihn schwer
durchschaubar sind. Er ist von Regeln abhängig, die
nicht er, sondern die andere für ihn gemacht haben. Solche Abhängigkeit nun
gilt nicht nur für den Bereich der betrieblichen Arbeit, sondern gilt auch –
und darin sind sie ein Bestandteil des ganzen Sozialcharakters – für das
soziale Verhalten innerhalb seiner außerbetrieblichen Bezugsgruppen. Wo
Normen des sozialen Verhaltens eher
„empfangen“
als
„interpretiert“
werden, liegt die Betonung auf dem
imperativen Charakter dieser Normen, deren Legitimation nicht erst durch
rationale Begründungen hergestellt zu werden
braucht. Auf die Frage nach dem|a 35|warum gibt es nur die Antwort: weil es so richtig ist. Honoriert wird
damit in diesem Sozialisationszusammenhang ein Verhalten, das sich als
normenkonform ausweist.
7Für das Folgende vergl. H. Ortmann, Arbeiterfamilie und Bildung – Pädagogische
Probleme des individuellen Aufstiegs; Manuskript
Kiel 1969 – eine Arbeit, die für die Kritik
des Konzepts
„individueller Aufstieg
durch Bildung“
von grundlegender Bedeutung
ist.
[041:19] Auf der Ebene der Kindererziehung schlägt sich das nieder als das
Verlangen nach einem undiskutablen Gehorsam gegenüber den Eltern und
gegenüber den Erwartungen der subkulturellen Bezugsgruppen. Die
Verhaltensweisen sind an die Rollen und ihre Vorschriften fixiert, die
ihrerseits nicht problematisiert werden können. Darin ist dieses Verhalten durchaus funktional und zweckmäßig: Die Problematisierung der so gesetzten Normen würde dem Arbeiter in
seiner Lebenssituation wenig nützen. Sie würde nur zusätzliche Konflikte
schaffen angesichts der großen Schwierigkeiten, sich aus den Bedingungen
seiner sozialen Schicht zu befreien. Aber nicht nur die unmittelbaren
Erfahrungen am Arbeitsplatz haben einen bestimmenden Einfluß auf die
Ausbildung der Verhaltensnormen innerhalb der Familie und damit auch auf die Erziehungsnormen. Die verschieden
wechselnden Arbeitszeiten (Schichtarbeit) und die Bedürfnisse nach
physischer und psychischer Regenerierung als Kompensation der Strapazen am Arbeitsplatz bringen zusätzliche Normierungen mit sich: Die Bedürfnisse aller
anderen Familienmitglieder, und damit vor allem der Kinder, unterliegen auf
diese Weise starken Restriktionen, da die Ruhe und Ernährungsbedürfnisse des
Vaters den Vorrang haben. Insofern ist die auch in den unteren sozialen
Schichten ermittelte starke affektive Aufmerksamkeit der Eltern für ihre
Kinder etwas anderes als die Kindzentriertheit der bürgerlichen Familie.
Zentriert ist das Familiengeschehen der Arbeiterfamilie vornehmlich auf die
für die materielle Sicherheit der Familie wichtigste Person: den Vater. Aber
nicht nur für den Vater, auch für die anderen Familienmitglieder gilt, daß
ihnen ein relativ genau definiertes Rollenverhalten zugeschrieben wird. Die Zuschreibung erfolgt nach den Kriterien des
Alters, des Geschlechts und der Funktion für die physische Erhaltung der
Familie. Zur Vermeidung von Konflikten dürfen diese Positionen nicht ständig
in Frage gestellt werden. Die daraus sich ergebenden verhaltensregulierenden
Normen erhalten damit den Charakter der
„Selbst-Evidenz“
.
Der Heranwachsende in dieser Familie lernt infolgedessen, daß es wichtig ist, Regeln anzuerkennen und sich nach ihnen zu richten, in der Rolle
zu bleiben, die mit dem Status innerhalb der Familie und auch innerhalb
außerfamiliärer Bezugsgruppen verbundenen Erwartungen zu erfüllen. Im Unterschied zum Kind der
Mittelschicht kann es auf diese Weise nicht lernen, abstrakte Prinzipien zu
internalisieren, Normen und Regeln zu problematisieren und sie auch in ungewohnten
Situationen sinnvoll, d.h. eben situationsadäquat anzuwenden und nicht nach
Maßgabe eines rigide internalisierten Rollenverhaltens.
[041:20] Das restringierende Sozialisationsmilieu scheint aber nicht nur
durch die Arbeitsrolle, sondern – wenn auch nur für eine kleinere Gruppe
gültig – auch durch die materiellen Bedingungen erzwungen zu werden. So
zeigt sich z. B., daß die Kindersterblichkeit, die Häufigkeiten von Krankheiten bei Kindern, sowie die Schwere der Krankheit mit abnehmenden ökonomischen Status des Vaters steigen. Es scheint danach mindestens plausibel, daß tatsächlich die materiellen Lebensumstände durch ein niedriges Pflegeniveau den Sozialisationsprozeß auch direkt beeinflussen können und dadurch sich in den Schulleistungen niederschlagen. Gravierend im Hinblick auf die Schulleistungen wirken sich ebenso die Wohnbedingungen aus. Je schlechter die Wohnbedingungen, um so niedriger liegen die Werte der Schulleistungen8
8J. W. B. Douglas, The Home and the School; London 1966.
. Dieses Ergebnis gilt für die Mittelschicht wie
für die Unterschicht. Ein Unterschied besteht jedoch darin, daß die schlecht
wohnenden Kinder der Mittelschicht sich zwischen dem 8. und dem 11.
Lebensjahr mit großer Wahrscheinlichkeit wieder den Durchschnittsleistungen
der Kinder aus der eigenen sozio-ökonomischen Gruppe annähern, während den
schlecht wohnenden Kindern der Unterschicht eine Angleichung an das
Durchschnittsniveau ihrer Gruppe nicht gelingt. Noch ungünstiger wirken sich
solche Verhältnisse bei Mädchen aus, die damit – sofern sie der Unterschicht
zugehören – nicht nur durch das dort ausgeprägtere
Geschlechtsstereotyp in der|a 36| Sozialisationspraxis,
sondern auch durch materielle Lebensumstände in ihren Lernchancen besonders
hart getroffen werden.
II.
[041:21] Der Ausdruck
„Schulerfolg“
ist offenbar ein
Anpassungsmaß, mit dessen Hilfe Kinder des einen Sozialisationstyp von denen eines anderen geschieden werden können. Es mißt den Grad
der Anpassung an die von der Schule geforderten Leistungsstandards.
Akzeptieren wir diese Standards, dann bleibt die Frage, welche Korrekturen
im Sozialisationsmodus der unteren sozialen Schichten möglich sind, und –
davor noch – die Frage, ob die Schule nicht selbst
über diejenigen Potenzen verfügt, die nötig sind, um immer mehr Individuen
zu fördern und ihnen ein erfolgreiches Durchlaufen
der Schulen zu ermöglichen.
[041:22] Schon diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, wenn man nicht
nur die gemessenen Schulleistungen, sondern auch die Nebenwirkungen ins Auge
faßt. Es spricht nämlich vieles dafür, daß die über das Schulsystem sozial
aufsteigenden Individuen in eine marginale Rolle gedrängt werden: unter den
Leistungsanforderungen der Schule orientieren sie sich mehr und mehr an den
Normen und Verhaltensmerkmalen der Mittelschicht und entfremden sich daher
der Herkunftsfamilie. Das bedeutet aber nicht, daß sie der Mittelschicht
voll integriert würden. Sie werden dort nie ganz heimisch, haben indessen
aber die Solidarität mit der Herkunftsschicht sowohl im Hinblick auf die
gleichaltrigen Bezugsgruppen mindestens teilweise aufgeben müssen. In dieser
Lage sozialer Verunsicherung, die häufig bis zur sozialen Isolierung geht,
wird ein Verhalten wahrscheinlich, das politischem Konservatismus und
überkonformem Verhalten mindestens zuneigt. Wir müssen uns fragen, ob wir
solche Wirkungen unseres Schulsystems wollen. Wir können sie nicht
ausschließen, und es wäre leichtfertig, das zu ignorieren.
[041:23] Solche Befürchtungen betreffen auch die als
„kompensatorische Erziehung“
bekannten Unternehmungen, sofern sie nur ein kognitives Training, nicht aber eine Reflexion des ganzen Handlungsfeldes unterprivilegierter Kinder darstellen. Die Zweifel gegenüber dem Erfolg der Trainingskurse und Programme gründen sich u. a. auf die immer zahlreicher werdenden Nachuntersuchungen9
9Vergl. dazu die Kritik an der Vorschulerziehung von W. Schultze,Die Diskussion um die
Vorschulbildung und das Frühlesen – eine kritische Analyse.Minnie Stahl(Hrg.), Zur Situation der Vorschulerziehung, Heidelberg 1968,
S. 45
ff.
. Immer häufiger
nämlich zeigt sich, daß die zunächst erzielten Gewinne der Kinder – z. B. in
IQ-Punkt-Werten – nach wenigen Jahren schon wieder
verschwunden sind, so daß sie gegenüber Kontrollgruppen keinen Vorsprung
mehr haben. In einem extremen Fall hat Glick10
10R. Hess and R. Bear, Early Education; Current Theory, Research an Action, Chicago 1968.Joseph Glick, Some Problems in the Evaluation of Pro-School Intervention Programs, S.
215 ff.D. A. Wilkerson, Programs and Practices in Compensatory Education for
Disadvantaged Children; in H. L. Miller (Ed.), Education for the Disadvantaged; New York, The Free Press, 1967, S. 115 ff.
sogar
nachweisen können, daß der Zuwachs der Intelligenzleistungen nichts ist als
ein Zuwachs an situativer Motivation: eine Versuchsgruppe von Kindern
erzielte einen gleichen Gewinn ohne Training und zwar lediglich auf eine
durch besondere Zuwendung hervorgerufene Motivation hin. Der bisweilen
einzige Erfolg der kompensatorischen Programme ist, mit einer ironischen
Formulierung Glicks, nur,
daß
„we make the kids look smarter“
, d.h. wir
erreichen eine vorübergehende Anpassung der Kinder an mittelständische
Verhaltensweisen.
[041:24] Einer der wesentlichen
Gründe für die mageren Erfolge scheint zu sein, daß häufig aus
dem komplexen Verhaltenszusammenhang der Unterschichtkinder nur
wenige Variablen herausgegriffen – Lesen, Sprechen, logische
Operationen – und gesondert trainiert
werden. Demgegenüber weist Gordon darauf hin, daß bedeutsame Verhaltensänderungen immer nur
das Produkt bedeutsamer Änderung in der Lebenserfahrung sein
können.Demnach
müßte sich also die Situation des Schülers, sein schulisches und
außerschulisches Sozialisationsmilieu, müßten sich die
Handlungsfelder ändern, in denen er Tag für Tag zu interagieren
gezwungen ist. Das wird, so vermutet Gordon, um so eher zu einer signifikanten Verhaltensänderung
führen, je mehr der Schüler an der Veränderung des
Handlungsfeldes mitwirken kann.
|a 37|
[041:25] Solche Überlegungen führen in eine pädagogisch-politische Aporie.
Ich resümiere noch einmal die wichtigsten Thesen:
1.
[041:26] Das Thema
„Sozialisation und
Schulerfolg“
hat es zu tun mit dem Aufeinandertreffen zweier
unterschiedlicher Sozialisationsmodi, dem von der Schule repräsentierten
der Mittelschicht und dem der unteren oder Arbeiterschicht.
2.
[041:27] Die Sozialisationsmodi, d. h. die für das Hineinwachsen in
soziale Gruppen relevanten Lernprozesse sind abhängig von den Handlungsfeldern, in denen diese Gruppen
ihr Dasein reproduzieren.
Der vermutlich wichtigste Faktor dieser Handlungsfelder ist
die Arbeitssituation. Der Zusammenhang von Arbeitsrolle, Sozialverhalten in den Bezugsgruppen, Reproduktion der
Arbeitskraft und Konsumverhalten bestimmt auch die Merkmale des
Erziehungsverhaltens und damit das Lernmilieu der Kinder.
Der Weg der Auslese vieler einzelner Individuen, sei es
durch die Ermittlung von Befähigten mit objektiven Meßverfahren, sei es
durch kompensatorische Trainingsprogramme, führt den einzelnen in
Konflikte zwischen den beiden Sozialisationsmodi und mit einiger
Wahrscheinlichkeit in marginale Positionen hinein mit problematischen
Folgen für soziale und politische Einstellung.
Da der Anteil der Arbeiterschicht an weiterführenden
Schulen sich in den letzten Jahrzehnten nur unerheblich vergrößert hat
und da die kompensatorische Erziehung nach gegenwärtiger Kenntnis kaum
in der Lage sein dürfte, die kollektive Lage der unterprivilegierten
sozialen Gruppen zu ändern, liegt der Schluß nahe, daß die Bildungseinrichtungen allein vermutlich nicht in der Lage sein
werden, die durch verschiedenes
Sozialisationsmilieu bedingte Chancenungleichheit zu beseitigen, es sei
denn, sie ø sich in ihren wesentlichen Orientierungen. Das ø sie aber nur, wenn sie sich als mittelständische Institution ø.
Wenn überdies die Annahme zutreffend ist, daß der
Sozialisationsmodus der Arbeiterschicht von den objektiven Bedingungen
der Arbeitsrolle abhängt, dann scheint eine Lösung des Problems in
nennenswertem Ausmaß und auf lange Sicht nur möglich über die
Veränderung der Arbeitsrolle.
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Gesellschaftspolitik.