Sozialisation und Schulerfolg [Textfassung a]
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Sozialisation und Schulerfolg

I.

[041:1] Die Bemühungen um die Reform des Bildungswesens, besonders die Präzisierung der Probleme, die sich unter dem Gesichtspunkt einer demokratischen, das heißt unter anderem Chancengleichheit garantierende Schule ergeben, haben in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Leitsätzen erbracht, die die Orientierungspunkte der Reformen geworden sind:
  1. 1.
    [041:2] Es gibt die sogenannte
    unausgeschöpfte Begabungsreserve
    .
  2. 2.
    [041:3] Das
    Ausschöpfen
    dieser Begabungsreserve konkretisiert sich in einer größeren sozialen Mobilität größerer Bevölkerungsteile.
  3. 3.
    [041:4] Sozialer Aufstieg für die Leistungsfähigen ist u. a. Zweck der Schule.
  4. 4.
    [041:5] Das alles kann erreicht werden durch bildungspolitische Planung.
[041:6] Die Probleme lassen sich deshalb auch zusammenfassen in der Frage: Wie ist individueller Aufstieg möglich; oder, bezogen auf die Bildungseinrichtungen: Wie kann die Schule individuellen Aufstieg möglich machen? oder, in weiterer Verengung: wie kann die Schule die Leistungsfähigkeit der Schüler mit schwachen Anfangsleistungen steigern? wie bzw. in welchen Grenzen kann der Schulerfolg aller Schüler gesichert werden?
[041:7] An dieser Stelle können die weiteren Überlegungen zwei verschiedene Richtungen nehmen. Wir können die Probleme der Bildungsreform orientieren an der Frage nach einer optimalen Zuordnung von individuellen Fähigkeiten und den entsprechenden Bildungswegen. Die pädagogische Aufgabe bestünde dann darin, auf allen Leistungsstufen und in allen Neigungsrichtungen einen für den einzelnen größtmöglichen Lerneffekt zu erzielen. Das Schulsystem paßt sich auf diesem Wege der fortschreitenden Leistungsgesellschaft an; Schulreform geschieht unter dem Gesichtspunkt einer
demokratischen Leistungsschule
1
1T. Sander, HG. Rolff, G. Winkler, Die demokratische Leistungsschule, Hannover 1967.
. Schwerpunkte einer solchen Interessensrichtung bilden sich bei der Frage nach den geeigneten objektiven Auslesekriterien und Auslese- bzw. Lenkungsverfahren und nach begabungsfördernden, am Leistungsgesichtspunkt orientierten Differenzierungen innerhalb der Schule. Dem entspricht das Leitbild der individuellen Emanzipation durch
theoretische Besinnung
2
2A. a. O., S. 22.
durch Bildung, oder anders formuliert: das Leitbild der Wettbewerbsmobilität (Turner).
[041:8] Daneben ist jedoch auch eine andere Orientierung der Forschung und damit auch der bildungspolitischen Konsequenzen möglich: Wir fragen dann nicht nach den zwar vorhandenen, aber verborgenen Begabungen und damit auch nicht oder nicht in erster Linie nach den besten Wegen ihrer Entdeckung und Förderung, sondern nach den Ursachen ihrer ungleichen Verteilung. Diese Frage führt aus der Schule heraus bzw. verknüpft sie mit den außerschulischen Bedingungen für Lern- und Leistungsfähigkeit. Schulerfolg wird somit nicht als eine Funktion der Schule selbst, sondern auch als eine der vor- und außerschulischen Lernprozesse interpretiert. Diese Frage nach den außerschulischen Lernzusammenhängen wird um so wichtiger, je mehr die Hoffnung schwindet, daß die Schule allein imstande sein könnte, die Ungleichheiten im Hinblick auf die Bildungschancen zu bewältigen. Das gilt allerdings nur, wenn wir solche Ungleichheiten nicht als individuelle Schicksale begreifen, sondern als den Zwang, dem große Gruppen unserer Gesellschaft unterliegen. Die Sozialisationsforschung bemüht sich, u. a. dies begreiflich zu machen.
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II.

[041:9] Der Begriff des Schulerfolgs ist immer noch geeignet, die beiden größten Gruppen der Gesamtbevölkerung, die mittleren und die unteren sozialen Schichten voneinander zu trennen. Die einen kommen in der Regel in den vollen Genuß der Bildungseinrichtungen, die anderen nicht. Diese Relation hat sich in den letzten 40 Jahren kaum geändert. Das gilt nicht nur für die BRD, in der seit 1928 die unteren sozialen Schichten kaum Anteil am Zuwachs der Gesamtschülerzahl weiterführender Schüler hatten3
3W. L. Bühl, Schule und gesellschaftlicher Wandel, Stuttgart 1968.
. Auch in Großbritannien sind – trotz Schulreform – die Anteile nahezu konstant geblieben4
4A. Little, J. Westergaard, The Trend of Class Differentials in Educational Opportunity in England and Wales; in: The British Journal of Sociology, 1964, S. 301 ff.
. Die Veränderungen sind zum einen dadurch entstanden, daß die Mittelschicht ihre Chancen ausgiebiger nutzte und dadurch, daß die Größen der sozialen Schichten sich geändert haben: Die Unterschicht ist kleiner geworden.
[041:10] Wie aber ist solche Hartnäckigkeit zu erklären?
[041:11] Für die Forschung bieten sich angesichts dieser Lage zwei Wege an: Die Kritik der Schule als eines Systems von Anforderungen, die durch ihre Art Kinder des einen Sozialisationstyps benachteiligten zugunsten derer eines anderen – und die Kritik der Sozialisationsprozesse und ihrer Bedingungen, sofern sich in ihnen eine Erziehungspraxis manifestiert, die die volle Beteiligung der Kinder am Bildungssystem verhindert oder erschwert.
[041:12] Die Beziehung zwischen dem Unterschicht- oder Arbeiterkind und der Schule können wir also verstehen als das Zusammentreffen zweier Sozialisationstypen. Der Typus, den die Schule durch ihre Standards und ihre Lehrer repräsentiert, ist im wesentlichen gekennzeichnet durch ein der Konkurrenzsituation entsprechendes Leistungsverhalten, durch individualistische Wertorientierungen, durch die Merkmale mittelständischen Sprachverhaltens und durch personorientiertes Sozialverhalten. Diese Merkmale nun definieren zugleich den unterprivilegierten Status des Arbeiterkindes in diesem System: Es hat in seiner Herkunftsgruppe Lernprozesse durchlaufen, in denen es sich die für das Schulsystem erfolgversprechenden Dispositionen in zureichendem Maße nicht aneignen konnte; oder, positiv formuliert: es hat Lernprozesse durchlaufen, die für andere Sozialzusammenhänge als unsere mittelständisch geprägte Schule funktional sind. Jede Schule bereitet ihre Kinder – idealtypisch gesehen – auf eine schichtspezifische Karriere vor.
[041:13] Dazu einige Befunde: Je niedriger die soziale Position ist, um so mehr sind Mütter der Meinung, daß sie einerseits für die emotionale Sicherheit der Kinder zu sorgen, andererseits aber sie auch strikt zu kontrollieren hätten. Mütter aus der Arbeiterklasse wünschen von ihrem 11 oder 11 Jahre alten Kind signifikant häufiger als Mittelschichtmütter, daß es ordentlich und sauber ist, daß es den Eltern gut gehorcht und gute Manieren zeigt. Sie greifen häufiger zum Mittel der körperlichen Züchtigung, behandeln Jungen und Mädchen stärker unterschiedlich und bestrafen in den Kindern weniger ihre Absichten als vielmehr nur die beobachteten Handlungen. Als die wichtigsten Dinge,
die eine gute Mutter tut
(nach einer Untersuchung von Duvall) werden von den Müttern der Unterschicht genannt: Wohnung und Kind sauber und ordentlich halten, das Kind an Regelmäßigkeit gewöhnen und das Kind anhalten, Erwachsenen zu gehorchen und ihnen Achtung entgegenzubringen. Es ergibt sich so für die familiäre Erziehungspraxis der Unterschicht ein Syndrom von Einstellungen und Verhaltensweisen, das durch ein hohes Maß an Konformitätstendenzen, Kontrollierungen und Disziplinierungen gekennzeichnet werden kann, wohingegen Selbständigkeit und Selbstkontrolle, Unabhängigkeit vom Urteil anderer, Wißbegierde u. ä. nur eine verschwindend geringe Rollen spielen. Wir können deshalb annehmen, daß schichtenspezifische Wertorientierungen, Sozialisationspraxis,
Sozialcharakter
und Schulerfolg miteinander korrespondieren. Dieser Zusammenhang konnte auch insbesondere durch eine Untersuchung der Wirkung von drei Wertorientierungs-Alternativen nachgewiesen werden. Die drei Alternativen waren: passivistisch – aktivistisch, gegenwartsorientiert – zukunftsorientiert und familistisch – individualistisch. Bei der Verteilung dieser Orientierungen über die sozialen Schichten zeigte sich, daß die Kinder der Unterschicht vorwiegend passivistisch, gegenwartsorientiert und familistisch eingestellt waren, die der Mittelschicht dagegen überwiegend aktivistisch, zukunftsorien|a 34|tiert und individualistisch. Mit diesen unterschiedlichen Wertorientierungen geht zugleich ein niedriges Aspirationsniveau im Hinblick auf weiterführenden Schulbesuch bei den Unterschichtkindern einher. Zugleich entsprechen diese Gruppen auch den tatsächlichen Schulleistungen.
[041:14] Die Alternative gegenwartsorientiert – zukunftsorientiert knüpft an ein in diesem Zusammenhang häufig diskutiertes Verhaltensmuster an, das
deferred gratification pattern
. Es handelt sich dabei um die Fähigkeit, Bedürfnisse nicht unmittelbar zu befriedigen, sondern ihre Befriedigung aufzuschieben; also ein notwendiger Bestandteil jedes Planungsverhaltens. Auch diese Verhaltensmöglichkeit ist für Angehörige der Unterschicht nicht typisch, jedenfalls insofern ein solches Planungsverhalten sich auf die in der Schule oder in den sozialen Aufstiegswegen geforderten Leistungen bezieht.
[041:15] In den weiterführenden Schulen, besonders in Gymnasien, sind die Schüler solcher Sozialisationsherkunft in der Minderheit; sie entstammen einem Sozialisationsmilieu, das der Schule nicht kongruent ist, und haben einen Konflikt zu bewältigen, der dadurch entsteht, daß sie sich dem mittelständischen Verhaltensstil der Schule und ihrer Schüler nur anpassen können, um den Preis einer Entfremdung von ihrer sozialen Herkunft. Sie sind durch ihre soziale Position weniger zu Mitgliedern der Gesamtkultur sozialisiert worden als vielmehr zu Mitgliedern ihrer eigenen sozialen Schicht.
[041:16] Es liegt nahe, hier voreilig nach Maßstäben mittelständischer Bewertung zu verfahren und eine Angleichung der Arbeiterkinder an die Mittelschichtnorm zu empfehlen – durch Vorschulerziehung kompensatorische Programme oder Förderkurse – um auf diese Weise das beunruhigende Problem der Chancenungleichheit aus der Welt zu schaffen. Vor einer Erörterung dieser Möglichkeit aber muß noch eine weitere Frage nach den Ursachen gestellt werden.
[041:17] Der Ausdruck Sozialisation meint ja nicht irgendein beliebiges Lernen, sondern impliziert eine theoretische Behauptung derart, daß die soziale Struktur eines Lernfeldes bestimmte Lernprozesse mit großer Wahrscheinlichkeit erzwingt. Das bedeutet, daß die Sozialisationsvorgänge in einer sozialen Gruppe zwischen der Sozialstruktur und dem Schulerfolg vermitteln. Unter den im Begriff Sozialstruktur zusammengefaßten Faktoren scheint die wichtigste die Arbeitsinstitution des Familienernährers zu sein5
5Vergl. dazu L. J. Pearlin, M. L. Kohn, Social Class, Occupation and Parental Values: A Cross-National Study; in: American Sociological Review, 1966, S. 466 ff.
. Denn deutlicher noch als die soziale Position korrelieren die schulerfolgsrelevanten Erziehungshaltungen mit der Stellung des Vaters im Arbeitsprozeß. Danach ist es durchaus legitim, das Problem der Bildungsbenachteiligung als ein Problem der Arbeiterschicht zu behandeln.
[041:18] Ein zentrales Problem, an dem die Verknüpfung von Arbeitssituationen und Sozialisationsmodus der Arbeiterfamilie deutlich wird, ist die Normierung des Verhaltens. Die Arbeitsrolle des manuell Tätigen in einem hierarchisch gegliederten Betrieb –
das Leben im Betrieb – und das immerhin 7 – 8 Stunden am Tag – wird immer noch bestimmt durch eine quasi militärische Disziplin. Über ihm türmt sich eine Pyramide von Vorgesetzten, von denen die wenigsten ... im Arbeiter einen Mitarbeiter sehen, dessen Ansichten über Arbeitsverlauf und andere betriebliche Fragen wert wären, angehört zu werden.
6
6H. P. Bahrdt, Die Industriearbeiter; in: M. Feuersenger (Hrg.) Gibt es noch ein Proletariat>? Frankfurt/M. 1962, S. 29.
– zeichnet sich durch besondere Prägnanz und Unausweichlichkeit aus. Unter den restriktiven Bedingungen seiner sozialen Situation sieht der Arbeiter wenig Möglichkeiten, aktiv sich an der Änderung seiner Lage zu beteiligen. Er befindet sich in Abhängigkeit von anderen sozialen Gruppen und sozialen Systemen, deren Aktivitäten für ihn schwer durchschaubar sind. Er ist von Regeln abhängig, die nicht er, sondern die andere für ihn gemacht haben. Solche Abhängigkeit nun gilt nicht nur für den Bereich der betrieblichen Arbeit, sondern gilt auch – und darin sind sie ein Bestandteil des ganzen Sozialcharakters – für das soziale Verhalten innerhalb seiner außerbetrieblichen Bezugsgruppen. Wo Normen des sozialen Verhaltens eher
empfangen
als
interpretiert
werden, liegt die Betonung auf dem imperativen Charakter dieser Normen, deren Legitimation nicht erst durch rationale Begründungen hergestellt zu werden braucht. Auf die Frage nach dem|a 35| warum gibt es nur die Antwort: weil es so richtig ist. Honoriert wird damit in diesem Sozialisationszusammenhang ein Verhalten, das sich als normenkonform ausweist.
7Für das Folgende vergl. H. Ortmann, Arbeiterfamilie und Bildung – Pädagogische Probleme des individuellen Aufstiegs; Manuskript Kiel 1969 – eine Arbeit, die für die Kritik des Konzepts
individueller Aufstieg durch Bildung
von grundlegender Bedeutung ist.
[041:19] Auf der Ebene der Kindererziehung schlägt sich das nieder als das Verlangen nach einem undiskutablen Gehorsam gegenüber den Eltern und gegenüber den Erwartungen der subkulturellen Bezugsgruppen. Die Verhaltensweisen sind an die Rollen und ihre Vorschriften fixiert, die ihrerseits nicht problematisiert werden können. Darin ist dieses Verhalten durchaus funktional und zweckmäßig: Die Problematisierung der so gesetzten Normen würde dem Arbeiter in seiner Lebenssituation wenig nützen. Sie würde nur zusätzliche Konflikte schaffen angesichts der großen Schwierigkeiten, sich aus den Bedingungen seiner sozialen Schicht zu befreien. Aber nicht nur die unmittelbaren Erfahrungen am Arbeitsplatz haben einen bestimmenden Einfluß auf die Ausbildung der Verhaltensnormen innerhalb der Familie und damit auch auf die Erziehungsnormen. Die verschieden wechselnden Arbeitszeiten (Schichtarbeit) und die Bedürfnisse nach physischer und psychischer Regenerierung als Kompensation der Strapazen am Arbeitsplatz bringen zusätzliche Normierungen mit sich: Die Bedürfnisse aller anderen Familienmitglieder, und damit vor allem der Kinder, unterliegen auf diese Weise starken Restriktionen, da die Ruhe und Ernährungsbedürfnisse des Vaters den Vorrang haben. Insofern ist die auch in den unteren sozialen Schichten ermittelte starke affektive Aufmerksamkeit der Eltern für ihre Kinder etwas anderes als die Kindzentriertheit der bürgerlichen Familie. Zentriert ist das Familiengeschehen der Arbeiterfamilie vornehmlich auf die für die materielle Sicherheit der Familie wichtigste Person: den Vater. Aber nicht nur für den Vater, auch für die anderen Familienmitglieder gilt, daß ihnen ein relativ genau definiertes Rollenverhalten zugeschrieben wird. Die Zuschreibung erfolgt nach den Kriterien des Alters, des Geschlechts und der Funktion für die physische Erhaltung der Familie. Zur Vermeidung von Konflikten dürfen diese Positionen nicht ständig in Frage gestellt werden. Die daraus sich ergebenden verhaltensregulierenden Normen erhalten damit den Charakter der
Selbst-Evidenz
. Der Heranwachsende in dieser Familie lernt infolgedessen, daß es wichtig ist, Regeln anzuerkennen und sich nach ihnen zu richten, in der Rolle zu bleiben, die mit dem Status innerhalb der Familie und auch innerhalb außerfamiliärer Bezugsgruppen verbundenen Erwartungen zu erfüllen. Im Unterschied zum Kind der Mittelschicht kann es auf diese Weise nicht lernen, abstrakte Prinzipien zu internalisieren, Normen und Regeln zu problematisieren und sie auch in ungewohnten Situationen sinnvoll, d.h. eben situationsadäquat anzuwenden und nicht nach Maßgabe eines rigide internalisierten Rollenverhaltens.
[041:20] Das restringierende Sozialisationsmilieu scheint aber nicht nur durch die Arbeitsrolle, sondern – wenn auch nur für eine kleinere Gruppe gültig – auch durch die materiellen Bedingungen erzwungen zu werden. So zeigt sich z. B., daß die Kindersterblichkeit, die Häufigkeiten von Krankheiten bei Kindern, sowie die Schwere der Krankheit mit abnehmenden ökonomischen Status des Vaters steigen. Es scheint danach mindestens plausibel, daß tatsächlich die materiellen Lebensumstände durch ein niedriges Pflegeniveau den Sozialisationsprozeß auch direkt beeinflussen können und dadurch sich in den Schulleistungen niederschlagen. Gravierend im Hinblick auf die Schulleistungen wirken sich ebenso die Wohnbedingungen aus. Je schlechter die Wohnbedingungen, um so niedriger liegen die Werte der Schulleistungen8
8J. W. B. Douglas, The Home and the School; London 1966.
. Dieses Ergebnis gilt für die Mittelschicht wie für die Unterschicht. Ein Unterschied besteht jedoch darin, daß die schlecht wohnenden Kinder der Mittelschicht sich zwischen dem 8. und dem 11. Lebensjahr mit großer Wahrscheinlichkeit wieder den Durchschnittsleistungen der Kinder aus der eigenen sozio-ökonomischen Gruppe annähern, während den schlecht wohnenden Kindern der Unterschicht eine Angleichung an das Durchschnittsniveau ihrer Gruppe nicht gelingt. Noch ungünstiger wirken sich solche Verhältnisse bei Mädchen aus, die damit – sofern sie der Unterschicht zugehören – nicht nur durch das dort ausgeprägtere Geschlechtsstereotyp in der|a 36| Sozialisationspraxis, sondern auch durch materielle Lebensumstände in ihren Lernchancen besonders hart getroffen werden.

II.

[041:21] Der Ausdruck
Schulerfolg
ist offenbar ein Anpassungsmaß, mit dessen Hilfe Kinder des einen Sozialisationstyp von denen eines anderen geschieden werden können. Es mißt den Grad der Anpassung an die von der Schule geforderten Leistungsstandards. Akzeptieren wir diese Standards, dann bleibt die Frage, welche Korrekturen im Sozialisationsmodus der unteren sozialen Schichten möglich sind, und – davor noch – die Frage, ob die Schule nicht selbst über diejenigen Potenzen verfügt, die nötig sind, um immer mehr Individuen zu fördern und ihnen ein erfolgreiches Durchlaufen der Schulen zu ermöglichen.
[041:22] Schon diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, wenn man nicht nur die gemessenen Schulleistungen, sondern auch die Nebenwirkungen ins Auge faßt. Es spricht nämlich vieles dafür, daß die über das Schulsystem sozial aufsteigenden Individuen in eine marginale Rolle gedrängt werden: unter den Leistungsanforderungen der Schule orientieren sie sich mehr und mehr an den Normen und Verhaltensmerkmalen der Mittelschicht und entfremden sich daher der Herkunftsfamilie. Das bedeutet aber nicht, daß sie der Mittelschicht voll integriert würden. Sie werden dort nie ganz heimisch, haben indessen aber die Solidarität mit der Herkunftsschicht sowohl im Hinblick auf die gleichaltrigen Bezugsgruppen mindestens teilweise aufgeben müssen. In dieser Lage sozialer Verunsicherung, die häufig bis zur sozialen Isolierung geht, wird ein Verhalten wahrscheinlich, das politischem Konservatismus und überkonformem Verhalten mindestens zuneigt. Wir müssen uns fragen, ob wir solche Wirkungen unseres Schulsystems wollen. Wir können sie nicht ausschließen, und es wäre leichtfertig, das zu ignorieren.
[041:23] Solche Befürchtungen betreffen auch die als
kompensatorische Erziehung
bekannten Unternehmungen, sofern sie nur ein kognitives Training, nicht aber eine Reflexion des ganzen Handlungsfeldes unterprivilegierter Kinder darstellen. Die Zweifel gegenüber dem Erfolg der Trainingskurse und Programme gründen sich u. a. auf die immer zahlreicher werdenden Nachuntersuchungen9
9Vergl. dazu die Kritik an der Vorschulerziehung von W. Schultze,Die Diskussion um die Vorschulbildung und das Frühlesen – eine kritische Analyse. Minnie Stahl (Hrg.), Zur Situation der Vorschulerziehung, Heidelberg 1968, S. 45 ff.
. Immer häufiger nämlich zeigt sich, daß die zunächst erzielten Gewinne der Kinder – z. B. in IQ-Punkt-Werten – nach wenigen Jahren schon wieder verschwunden sind, so daß sie gegenüber Kontrollgruppen keinen Vorsprung mehr haben. In einem extremen Fall hat Glick10
10R. Hess and R. Bear, Early Education; Current Theory, Research an Action, Chicago 1968. Joseph Glick, Some Problems in the Evaluation of Pro-School Intervention Programs, S. 215 ff. D. A. Wilkerson, Programs and Practices in Compensatory Education for Disadvantaged Children; in H. L. Miller (Ed.), Education for the Disadvantaged; New York, The Free Press, 1967, S. 115 ff.
sogar nachweisen können, daß der Zuwachs der Intelligenzleistungen nichts ist als ein Zuwachs an situativer Motivation: eine Versuchsgruppe von Kindern erzielte einen gleichen Gewinn ohne Training und zwar lediglich auf eine durch besondere Zuwendung hervorgerufene Motivation hin. Der bisweilen einzige Erfolg der kompensatorischen Programme ist, mit einer ironischen Formulierung Glicks, nur, daß
we make the kids look smarter
, d.h. wir erreichen eine vorübergehende Anpassung der Kinder an mittelständische Verhaltensweisen.
[041:24] Einer der wesentlichen Gründe für die mageren Erfolge scheint zu sein, daß häufig aus dem komplexen Verhaltenszusammenhang der Unterschichtkinder nur wenige Variablen herausgegriffen – Lesen, Sprechen, logische Operationen – und gesondert trainiert werden. Demgegenüber weist Gordon darauf hin, daß bedeutsame Verhaltensänderungen immer nur das Produkt bedeutsamer Änderung in der Lebenserfahrung sein können. Demnach müßte sich also die Situation des Schülers, sein schulisches und außerschulisches Sozialisationsmilieu, müßten sich die Handlungsfelder ändern, in denen er Tag für Tag zu interagieren gezwungen ist. Das wird, so vermutet Gordon, um so eher zu einer signifikanten Verhaltensänderung führen, je mehr der Schüler an der Veränderung des Handlungsfeldes mitwirken kann.
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[041:25] Solche Überlegungen führen in eine pädagogisch-politische Aporie. Ich resümiere noch einmal die wichtigsten Thesen:
  1. 1.
    [041:26] Das Thema
    Sozialisation und Schulerfolg
    hat es zu tun mit dem Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Sozialisationsmodi, dem von der Schule repräsentierten der Mittelschicht und dem der unteren oder Arbeiterschicht.
  2. 2.
    [041:27] Die Sozialisationsmodi, d. h. die für das Hineinwachsen in soziale Gruppen relevanten Lernprozesse sind abhängig von den Handlungsfeldern, in denen diese Gruppen ihr Dasein reproduzieren.
  3. Der vermutlich wichtigste Faktor dieser Handlungsfelder ist die Arbeitssituation. Der Zusammenhang von Arbeitsrolle, Sozialverhalten in den Bezugsgruppen, Reproduktion der Arbeitskraft und Konsumverhalten bestimmt auch die Merkmale des Erziehungsverhaltens und damit das Lernmilieu der Kinder.
  4. Der Weg der Auslese vieler einzelner Individuen, sei es durch die Ermittlung von Befähigten mit objektiven Meßverfahren, sei es durch kompensatorische Trainingsprogramme, führt den einzelnen in Konflikte zwischen den beiden Sozialisationsmodi und mit einiger Wahrscheinlichkeit in marginale Positionen hinein mit problematischen Folgen für soziale und politische Einstellung.
  5. Da der Anteil der Arbeiterschicht an weiterführenden Schulen sich in den letzten Jahrzehnten nur unerheblich vergrößert hat und da die kompensatorische Erziehung nach gegenwärtiger Kenntnis kaum in der Lage sein dürfte, die kollektive Lage der unterprivilegierten sozialen Gruppen zu ändern, liegt der Schluß nahe, daß die Bildungseinrichtungen allein vermutlich nicht in der Lage sein werden, die durch verschiedenes Sozialisationsmilieu bedingte Chancenungleichheit zu beseitigen, es sei denn, sie ø sich in ihren wesentlichen Orientierungen. Das ø sie aber nur, wenn sie sich als mittelständische Institution ø.
  6. Wenn überdies die Annahme zutreffend ist, daß der Sozialisationsmodus der Arbeiterschicht von den objektiven Bedingungen der Arbeitsrolle abhängt, dann scheint eine Lösung des Problems in nennenswertem Ausmaß und auf lange Sicht nur möglich über die Veränderung der Arbeitsrolle.
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markieren damit den Übergang von der Bildungs- zur Gesellschaftspolitik.