„Stigmatisierung“ im Kontext von Jugendhilfe-Forschung [Textfassung a]
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Stigmatisierung
im Kontext von Jugendhilfe-Forschung

[048:1] Statt einer unmittelbaren Einführung in die Arbeit von Christoph Bonstedt soll hier der Versuch gemacht werden, einen allgemeinen Bezugsrahmen zu skizzieren, von dem her sich der Stellenwert dieser Arbeit in der gegenwärtigen Diskussion bestimmen läßt und der darüber hinaus – soweit dies in einer kurzen Skizze möglich ist – ein Strukturmodell zur Forschung und Ausbildung im sozialpädagogischen Bereich vorschlägt.
[048:2] Die deutsche Diskussion um die Probleme der Jugendhilfe und ihre Erforschung ist in den letzten Jahren – abgesehen vom Kontext der politischen Auseinandersetzungen – durch eine Reihe neuer Fragestellungen profiliert worden, in deren Zusammenhang sich zum erstenmal ein konsistenter sozialwissenschaftlicher Zugang abzeichnet, der sich bedeutsam von dem bis dahin praktizierten Verfahren der unsystematischen Addition der Forschungsresultate heterogener Disziplinen unterscheidet. In diesem wissenschaftsgeschichtlichen Prozeß spielen vor allem eine Rolle:
    [048:3] die Arbeiten von Matthes und Peters zur Struktur und Funktion des Jugendhilfe-Systems und der Fürsorge Organisationen,
    [048:4] die Entwicklung neuer Fragestellungen der Kriminologie (König/Sack; Kriminologisches Journal),
    [048:5] die gründliche Rezeption der amerikanischen Sozialisationsforschung,
    [048:6] die Renaissance der pädagogisch orientierten psychoanalytischen und psychotherapeutischen Arbeiten,
    [048:7] nicht zuletzt aber auch die Forschungen Cicourels zum Funktionieren des Systems der Behandlung von Jugenddelinquenz und die Untersuchungen Goffmans von
    Totalen Institutionen
    und
    Stigmatisierung
    .
[048:8] Auf der Ebene der Praxis vollzog sich eine parallele Entwicklung insofern, als auch hier die geläufigen Orientierungsstandards problematisiert wurden und ein neuer Verständigungsrahmen sich abzuzeichnen beginnt — wenn auch zunächst erst in noch relativ kleinen Gruppen. Die dafür vor allem bedeutsam gewordenen Vorgänge in der Jugendhilfe-Praxis sind:
    [048:9] die immer intensiver gewordene Auseinandersetzung mit extrem deprivierten Randgruppen der Gesellschaft in sogenannten Obdachlosensiedlungen, |a 8|die Angriffe gegen die herkömmliche Heimerziehung und die in deren Gefolge entstandenen Wohnkollektive für ehemalige Insassen sozialpädagogischer Institutionen,
    [048:10] Anfänge therapeutischer Orientierung im Jugendstrafvollzug und therapeutische Institutionenberatung in Heimen und Anstalten,
    [048:11] schließlich die verschiedenen Ansätze abgewandelter Formen von Gemeinwesenarbeit, vornehmlich in großstädtischen Neubau-Gebieten.
[048:12] Das systematische Problem, das nahezu allen Neu-Ansätzen, den theoretischen wie den praktischen, unterliegt, läßt sich in zwei praktischen Fragen zusammenfassen:
  1. 1.
    [048:13] Wie und unter welchen Bedingungen ist eine Jugend- und Sozialhilfe möglich, die auf die repressiven Mittel der Disziplinierung abweichender Individuen und Gruppen verzichtet, ohne damit zugleich den Anspruch der minimal notwendigen Verhaltensintegration aufzugeben?
  2. 2.
    [048:14] Wie und unter welchen Bedingungen ist eine Jugend- und Sozialhilfe abzuschaffen, die den Klienten nur als Individualität zu sehen vermag, d. h. in Kategorien denkt und handelt in denen die Kriterien der sozialen Lebenswelt der Klienten und damit deren praktische Kontexte ignoriert werden zugunsten einer Orientierung am
    einzelnen Fall
    – ohne damit zugleich das Individuum und seine Probleme ohne Rest der kollektiven Orientierung aufzuopfern?
[048:15] Macht man diese Fragen – wie das in jüngster Zeit zunehmend geschieht – auch für die wissenschaftliche Theorie zum Gegenstand, dann ergibt sich eine Kontinuität von Hauptproblemen, die von der Struktur der Interaktion zwischen Sozialarbeiter und Klient bis zu den Problemen von Sozialstaat und ökonomischem Qualifikationsbedarf reichen. Dieser Zusammenhang soll hier in einem theoretisch-hypothetischen Gedankengang skizziert werden.
[048:16] Wir gehen aus von den sozialpädagogischen
Verteilungsinstanzen
; das am ehesten durchschaubare Exempel dafür ist das Jugendamt. Was hier institutionalisiert ist, das ist unter anderem ein Klassifikationssystem für interventionsbedürftige Probleme von einzelnen oder Gruppen (Cicourel). Interventionsbedürftigkeit wird dabei nicht von den Klienten definiert, sondern von den intervenierenden Organisationen, also den Fürsorgeverbänden (vgl. Peters), den Jugendämtern und Jugendgerichten (Cicourel, Quensel). Völlig ungeklärt ist dabei, ob die Interventionsinstanzen überhaupt eine signifikante Anzahl derjenigen Fälle erreichen, |a 9|die nach ihrer Definition interventionsbedürftig sind. Da es kaum eine Rückmeldung gibt im Hinblick auf die Frage, wie wirkungsvoll das Interventionssystem ist, und da überdies die Interventionsinstanz dem Klienten gegenüber immer in der Situation des Mächtigeren ist, ist es wenig wahrscheinlich, daß die Klienten ihren Problemdefinitionen, ihren Kriterien für relevante Probleme im Interventionsprozeß Geltung verschaffen können. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß sie angesichts bevorstehender oder schon eingeleiteter Intervention ihre Probleme nach den Klassifikationsstandards der Institution umdefinieren. Was geschieht mit den Betroffenen?
[048:17] Zunächst werden natürlich nur Verhaltensmerkmale als Indizien für Interventionsbedürftigkeit identifiziert: Schulschwänzen, Ladendiebstahl, Alkoholismus des Vaters usw. Das Entscheidende daran ist aber, daß
Schulschwänzen
im Kontext der Institutionen eine andere Bedeutung hat als das Fernbleiben vom Unterricht für den betreffenden Schüler. Was sich hier abspielt, ist mehr als eine beliebig reparable technische Ungenauigkeit.
Schulschwänzen
ist ein Element eines Klassifikationssystems, in dem es nicht nur beschreibend klassifikatorische Ausdrücke gibt, sondern in dem zugleich bestimmte Erklärungsmuster enthalten sind.
Schulschwänzen
ist dort Teil einer Vorstellung von devianten Karrieren; das zunächst scheinbar in nur einem Merkmal als deviant klassifizierte Individuum wird im antizipierten Rahmen dieser Karriere interpretiert. Ihm wird – wiederholt und verstärkt sich dieser Vorgang – eine deviante Rolle zugeschrieben. Unter der Frage
Wie wird man kriminell?
hat Stephan Quensel diesen Vorgang eindrucksvoll beschrieben. Was an dieser Stelle mit dem betroffenen Individuum geschieht, wird in der vorliegenden Arbeit im Anschluß an Goffman
Stigmatisierung
genannt. Es ist gleichsam die Nahtstelle zwischen dem institutionalisierten Jugendhilfe-System und der persönlichen Biographie des Klienten.
[048:18] Die persönliche Biographie des Klienten aber hat primär ihren Ort nicht in bezug auf eine Einrichtung der Jugendhilfe, sondern im Rahmen der
Lebenswelt
des Klienten, als deren Komponenten die materielle Lage, der Ort im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung und die Subkultur bzw. die Bezugsgruppen, denen er angehört, gelten können.
[048:19] Diese Lebenswelt ist für ihn der Konstitutionszusammenhang seiner Relevanz-Kriterien, d. h. derjenigen Gesichts|a 10|punkte, nach denen er Bedeutsames von weniger Bedeutsamem unterscheidet, Situationen, Probleme und Problemlösungen definiert. Man kann auch sagen: Die Lebenswelt ist das System von Definitionsregeln, in dem sich das Individuum alltäglich bewegt. Genauere Betrachtung bringt jedoch schnell zum Vorschein, daß eine solche Formulierung nur vorläufig sein kann: Die Regeln, mit denen das Individuum alltäglich konfrontiert wird und die zu akzeptieren ihm angeraten werden, sind nicht notwendig kongruent, sie können sogar widersprüchlich sein. Außerdem ist seine Beteiligung an diesem System nicht als passives Reagens zu denken, sondern als Interaktion, in der Beziehungen neu definiert und damit auch Regeln modifiziert werden können. Primäre Lebenswelten, z. B. eine Familie im Kontext ihrer Bezugsgruppen, können nun danach beurteilt werden, wieweit sie imstande sind, auftauchende Probleme (Diskrepanzen in Beziehungen und Regeln, Störungen durch materielle Veränderungen, Störungen durch psychische Belastungen, Krankheiten signifikanter Personen usw.), zu lösen (Hansen/Hill). Damit stellt sich die Frage nach den Ressourcen, über die eine Lebenswelt mindestens verfügen muß, damit Probleme lösbar werden (die Frage nach den sozio-ökonomischen Bedingungen und damit den materiell
definierten
Spielräumen, den Bezugsgruppen usw.), und die Frage nach dem Niveau, auf dem überhaupt Problem-Lösungen antizipiert werden können: für die Familie in einer Obdachlosen-Siedlung z. B. sind die realistischen Problemlösungs-Strategien vermutlich vergleichsweise außerordentlich restringiert (vgl. Haag. In diesem Sinne ist die Ausarbeitung eines differenzierten und gesellschaftlich präzisierten Begriffs der
Lebenswelt
eine der wichtigsten Forschungsaufgaben im Felde der Jugendhilfe und Sozialarbeit. Gleichwohl ist es sinnvoll, eben diese Lebenswelten von dem mit Sanktionen und also mit Macht ausgestatteten Bedeutungs-Kontext der Interventions-Instanzen zu unterscheiden, weil erst durch solche Unterscheidung die Frage nach der Gerechtigkeit (hier: der Angemessenheit an die Lebenswelt des Klienten) der Maßnahmen beantwortet werden kann.
[048:20] Die Interventionsinstanzen können als vermittelnd zwischen den Erwartungen der
Gesellschaft
und den
Lebenswelten
der Klienten angesehen werden. Die Institutionen produzieren vermutlich ihr Klassifikationssystem für
problematische Fälle
nicht selbst, sondern folgen darin gesellschaftlich herrschenden Erwartungen, vermutlich also den mit Macht ausgestatteten und deshalb einflußreichen Grup|a 11|pen. So wäre z. B. die Frage zu prüfen, in welchem Umfang Klassifikationen von Verhalten als
deviant
ihre Rechtfertigung nur in ökonomischen Qualikationserwartungen haben. Welche
Partei
der Sozialarbeiter oder Sozialpädagoge nimmt, zeigt sich im Konfliktfall nicht so sehr an seinem pädagogischen Verfahren, den methodischen Schritten im Umgang mit den Klienten oder dem Klima positiver Zuwendung, das er zu schaffen versucht, sondern daran, welche Probleme er als interventionsbedürftig interpretiert.
[048:21] Die oft beschworene Diskrepanz von
Innendienst
und
Außendienst
, von
Administration
und
Treatment
erscheint so theoretisch wie praktisch in einem neuen Licht. Der im praktischen Umgang mit den Klienten tätige Sozialarbeiter ist einem Berufsrollen-Problem konfrontiert, dessen Lösung ihm institutionell unmöglich gemacht wird: Einerseits ist er abhängiger Agent einer Institution, die an einem relativ starren System von Problem- und Lösungs-Klassifikationen festhält; er kann aber andererseits innerhalb dieser Institution keine stabile Berufsidentität aufbauen, da seine tägliche Praxis ihn mit den originären Problemen der Lebenswelt des Klienten konfrontiert, denen gegenüber die institutionalisierten Klassifikationen als disfunktional erscheinen. Das gilt z. B. auch für Arbeit in Heimen und Vollzugsanstalten, wenngleich hier der institutionelle Rahmen in der Regel viel von der Unmittelbarkeit der Konfrontation mit der primären Lebenswelt wegnimmt.
[048:22] Der in dieser Gedankenskizze durchlaufene Zusammenhang besteht also aus folgenden Gliedern und Komponenten:
    [048:23] die Lebenswelt des Klienten mit den Komponenten der sozio-ökonomischen Situation,
    [048:24] das
    Treatment
    -System mit den Komponenten der unmittelbaren Interaktion, den institutionellen Abhängigkeiten und der Berufsrolle des Sozialarbeiters bzw. Sozialpädagogen,
    [048:25] die Klassifikation- und Verteilungsinstanzen mit den Komponenten der Träger-Interessen, der Administration und der diagnostischen Klassifikation,
    [048:26] der Sozialstaat mit den verfassungs-, jugend- und familienrechtlichen Komponenten und den Komponenten der ökonomischen Verteilungen und Abhängigkeiten.
[048:27] Schematisch skizziert lassen sich diese Elemente des sozialpädagogischen Prozesses und der Ort des Stigma-Problems darstellen:
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Hier ist ein Schaubild des sozialpädagogischen Prozesses und der Ort des Stigma-Problems zu sehen.
[048:28] Bei diesem Schema handelt es sich nicht um eine Theorie, sondern um einen Begriffs- und Beziehungsrahmen für Probleme. Dieser Rahmen ist zwar aus theoretischen Elementen konstruiert – so z. B. aus Sozialisationstheorien, Stigma-Theorie, Devianz-Theorien, ökonomischer Theorie, therapeutischen Theorien –, kann aber für sich selbst nicht den Status einer Theorie beanspruchen. Ob eine
Theorie der Jugendhilfe
bzw. eine
Theorie der Sozialarbeit
auf diesem Niveau von Komplexität überhaupt möglich ist, ist zweifelhaft. Das wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, daß in unsere Rahmenskizze psychologische und medizinische Daten noch gar nicht aufgenommen wurden. Die Komplexität der Praxis selbst ist also hier schon beträchtlich reduziert worden. Gleichwohl scheint es mir sinnvoll zu sein – nicht zuletzt der notwendig gewordenen Revision bzw. Neukonstruktion sozialpädagogischer Ausbildungsgänge wegen –, mit solchen Rahmenvorstellungen zu arbeiten, innerhalb derer Theorien lokalisierbar werden, und damit Hypothesen formulieren zu können, deren Relevanz im Rahmen des faktischen sozial-pädagogischen Feldes, sowohl praktisch wie theoretisch, bestimmbar ist.