An dieser Stelle sind vermutlich Matthes, 1964 und
Peters, 1968 gemeint. Dies liegt nahe, da Mollenhauer diese
auch in anderen Texten aus den späten 1960er Jahren referenziert, die
sich mit der Thematik von Jugendhilfe auseinandersetzen. []
Editorische Anmerkung
Hier sind wahrscheinlich Cicourel,
1968, Goffman, 1968
und Goffman, 1967
gemeint. []
[048:1] Statt einer unmittelbaren Einführung in die Arbeit von Christoph Bonstedt soll hier der
Versuch gemacht werden, einen allgemeinen Bezugsrahmen zu skizzieren, von dem
her sich der Stellenwert dieser Arbeit in der gegenwärtigen Diskussion bestimmen
läßt und der darüber hinaus – soweit dies in einer kurzen Skizze möglich ist –
ein Strukturmodell zur Forschung und Ausbildung im sozialpädagogischen Bereich
vorschlägt.
[048:2] Die deutsche Diskussion um die Probleme der Jugendhilfe und ihre
Erforschung ist in den letzten Jahren – abgesehen vom Kontext der politischen
Auseinandersetzungen – durch eine Reihe neuer Fragestellungen profiliert worden,
in deren Zusammenhang sich zum erstenmal ein konsistenter
sozialwissenschaftlicher Zugang abzeichnet, der sich bedeutsam von dem bis dahin
praktizierten Verfahren der unsystematischen Addition der Forschungsresultate
heterogener Disziplinen unterscheidet. In diesem wissenschaftsgeschichtlichen
Prozeß spielen vor allem eine Rolle:
[048:3] die Arbeiten von Matthes und Peters zur Struktur und Funktion des Jugendhilfe-Systems und der Fürsorge Organisationen,
[048:4] die Entwicklung neuer Fragestellungen der Kriminologie (König/Sack; Kriminologisches Journal),
[048:5] die gründliche Rezeption der amerikanischen
Sozialisationsforschung,
[048:6] die Renaissance der pädagogisch orientierten psychoanalytischen
und psychotherapeutischen Arbeiten,
[048:7] nicht zuletzt aber auch die Forschungen Cicourels zum
Funktionieren des Systems der Behandlung von Jugenddelinquenz und die
Untersuchungen Goffmans von
„Totalen Institutionen“
und
„Stigmatisierung“
.
[048:8] Auf der Ebene der Praxis vollzog sich eine parallele Entwicklung
insofern, als auch hier die geläufigen Orientierungsstandards problematisiert
wurden und ein neuer Verständigungsrahmen sich abzuzeichnen beginnt — wenn auch
zunächst erst in noch relativ kleinen Gruppen. Die dafür vor allem bedeutsam
gewordenen Vorgänge in der Jugendhilfe-Praxis sind:
[048:9] die immer intensiver gewordene Auseinandersetzung mit extrem
deprivierten Randgruppen der Gesellschaft in sogenannten
Obdachlosensiedlungen, |a 8|die Angriffe gegen die
herkömmliche Heimerziehung und die in deren Gefolge entstandenen
Wohnkollektive für ehemalige Insassen sozialpädagogischer
Institutionen,
[048:10] Anfänge therapeutischer Orientierung im Jugendstrafvollzug und
therapeutische Institutionenberatung in Heimen und Anstalten,
[048:11] schließlich die verschiedenen Ansätze abgewandelter Formen von
Gemeinwesenarbeit, vornehmlich in großstädtischen Neubau-Gebieten.
[048:12] Das systematische Problem, das nahezu allen Neu-Ansätzen, den
theoretischen wie den praktischen, unterliegt, läßt sich in zwei praktischen
Fragen zusammenfassen:
1.
[048:13] Wie und unter welchen Bedingungen ist eine Jugend- und
Sozialhilfe möglich, die auf die repressiven Mittel der Disziplinierung
abweichender Individuen und Gruppen verzichtet, ohne damit zugleich den
Anspruch der minimal notwendigen Verhaltensintegration aufzugeben?
2.
[048:14] Wie und unter welchen Bedingungen ist eine Jugend- und
Sozialhilfe abzuschaffen, die den Klienten nur als Individualität zu sehen
vermag, d. h. in Kategorien denkt und handelt in denen die Kriterien der sozialen Lebenswelt der Klienten und
damit deren praktische Kontexte ignoriert werden zugunsten einer
Orientierung am
„einzelnen Fall“
– ohne damit zugleich
das Individuum und seine Probleme ohne Rest der kollektiven Orientierung
aufzuopfern?
[048:15] Macht man diese Fragen – wie das in jüngster Zeit zunehmend geschieht
– auch für die wissenschaftliche Theorie zum Gegenstand, dann ergibt sich eine
Kontinuität von Hauptproblemen, die von der Struktur der Interaktion zwischen
Sozialarbeiter und Klient bis zu den Problemen von Sozialstaat und ökonomischem
Qualifikationsbedarf reichen. Dieser Zusammenhang soll hier in einem
theoretisch-hypothetischen Gedankengang skizziert werden.
[048:16] Wir gehen aus von den sozialpädagogischen
„Verteilungsinstanzen“
; das am ehesten durchschaubare
Exempel dafür ist das Jugendamt. Was hier institutionalisiert ist, das ist unter
anderem ein Klassifikationssystem für
interventionsbedürftige Probleme von einzelnen oder Gruppen (Cicourel). Interventionsbedürftigkeit wird
dabei nicht von den Klienten definiert, sondern von den intervenierenden
Organisationen, also den Fürsorgeverbänden (vgl.
Peters), den Jugendämtern und Jugendgerichten (Cicourel, Quensel). Völlig ungeklärt ist dabei, ob die Interventionsinstanzen
überhaupt eine signifikante Anzahl derjenigen Fälle erreichen, |a 9|die nach ihrer Definition interventionsbedürftig sind. Da es kaum
eine Rückmeldung gibt im Hinblick auf die Frage, wie wirkungsvoll das
Interventionssystem ist, und da überdies die Interventionsinstanz dem Klienten
gegenüber immer in der Situation des Mächtigeren ist, ist es wenig
wahrscheinlich, daß die Klienten ihren Problemdefinitionen,
ihren Kriterien für relevante Probleme im Interventionsprozeß
Geltung verschaffen können. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß sie angesichts
bevorstehender oder schon eingeleiteter Intervention ihre Probleme nach den
Klassifikationsstandards der Institution umdefinieren. Was geschieht mit den
Betroffenen?
[048:17] Zunächst werden natürlich nur Verhaltensmerkmale als Indizien für
Interventionsbedürftigkeit identifiziert: Schulschwänzen, Ladendiebstahl,
Alkoholismus des Vaters usw. Das Entscheidende daran ist aber, daß
„Schulschwänzen“
im Kontext der Institutionen eine andere
Bedeutung hat als das Fernbleiben vom Unterricht für den betreffenden Schüler.
Was sich hier abspielt, ist mehr als eine beliebig reparable technische
Ungenauigkeit.
„Schulschwänzen“
ist ein Element eines
Klassifikationssystems, in dem es nicht nur beschreibend klassifikatorische
Ausdrücke gibt, sondern in dem zugleich bestimmte Erklärungsmuster enthalten
sind.
„Schulschwänzen“
ist dort Teil einer Vorstellung von
devianten Karrieren; das zunächst scheinbar in nur einem Merkmal
als deviant klassifizierte Individuum wird im antizipierten Rahmen dieser
Karriere interpretiert. Ihm wird – wiederholt und verstärkt sich dieser Vorgang
– eine deviante Rolle zugeschrieben. Unter der Frage
„Wie wird man kriminell?“
hat
Stephan Quensel diesen
Vorgang eindrucksvoll beschrieben. Was an dieser Stelle mit dem betroffenen
Individuum geschieht, wird in der vorliegenden Arbeit im Anschluß an Goffman
„Stigmatisierung“
genannt. Es ist gleichsam die Nahtstelle zwischen dem
institutionalisierten Jugendhilfe-System und der persönlichen Biographie des
Klienten.
[048:18] Die persönliche Biographie des Klienten aber hat primär ihren Ort
nicht in bezug auf eine Einrichtung der Jugendhilfe, sondern im Rahmen der
„Lebenswelt“
des Klienten, als deren
Komponenten die materielle Lage, der Ort im System gesellschaftlicher
Arbeitsteilung und die Subkultur bzw. die Bezugsgruppen, denen er angehört,
gelten können.
[048:19] Diese Lebenswelt ist für ihn der Konstitutionszusammenhang seiner
Relevanz-Kriterien, d. h. derjenigen Gesichts|a 10|punkte, nach
denen er Bedeutsames von weniger Bedeutsamem unterscheidet, Situationen,
Probleme und Problemlösungen definiert. Man kann auch sagen: Die Lebenswelt ist
das System von Definitionsregeln, in dem sich das Individuum alltäglich bewegt.
Genauere Betrachtung bringt jedoch schnell zum Vorschein, daß eine solche
Formulierung nur vorläufig sein kann: Die Regeln, mit denen das Individuum
alltäglich konfrontiert wird und die zu akzeptieren ihm angeraten werden, sind
nicht notwendig kongruent, sie können sogar widersprüchlich sein. Außerdem ist
seine Beteiligung an diesem System nicht als passives Reagens zu denken, sondern
als Interaktion, in der Beziehungen neu definiert und damit auch Regeln
modifiziert werden können. Primäre Lebenswelten, z. B. eine Familie im Kontext
ihrer Bezugsgruppen, können nun danach beurteilt werden, wieweit sie imstande
sind, auftauchende Probleme (Diskrepanzen in Beziehungen und Regeln, Störungen
durch materielle Veränderungen, Störungen durch psychische Belastungen,
Krankheiten signifikanter Personen usw.), zu lösen (Hansen/Hill). Damit
stellt sich die Frage nach den Ressourcen, über die eine Lebenswelt mindestens
verfügen muß, damit Probleme lösbar werden (die Frage nach den
sozio-ökonomischen Bedingungen und damit den materiell
„definierten“
Spielräumen, den Bezugsgruppen usw.), und die Frage nach
dem Niveau, auf dem überhaupt Problem-Lösungen antizipiert werden können: für
die Familie in einer Obdachlosen-Siedlung z. B. sind die realistischen
Problemlösungs-Strategien vermutlich vergleichsweise außerordentlich
restringiert (vgl. Haag. In diesem Sinne
ist die Ausarbeitung eines differenzierten und gesellschaftlich präzisierten
Begriffs der
„Lebenswelt“
eine der wichtigsten
Forschungsaufgaben im Felde der Jugendhilfe und Sozialarbeit. Gleichwohl ist es
sinnvoll, eben diese Lebenswelten von dem mit Sanktionen und also mit Macht
ausgestatteten Bedeutungs-Kontext der Interventions-Instanzen zu unterscheiden,
weil erst durch solche Unterscheidung die Frage nach der Gerechtigkeit (hier:
der Angemessenheit an die Lebenswelt des Klienten) der Maßnahmen beantwortet
werden kann.
[048:20] Die Interventionsinstanzen können als vermittelnd zwischen den
Erwartungen der
„Gesellschaft“
und den
„Lebenswelten“
der Klienten angesehen werden. Die Institutionen
produzieren vermutlich ihr Klassifikationssystem für
„problematische Fälle“
nicht selbst, sondern folgen darin
gesellschaftlich herrschenden Erwartungen, vermutlich also den mit Macht
ausgestatteten und deshalb einflußreichen Grup|a 11|pen. So
wäre z. B. die Frage zu prüfen, in welchem Umfang Klassifikationen von Verhalten
als
„deviant“
ihre Rechtfertigung nur in ökonomischen Qualikationserwartungen haben. Welche
„Partei“
der Sozialarbeiter oder
Sozialpädagoge nimmt, zeigt sich im Konfliktfall nicht so sehr an seinem
pädagogischen Verfahren, den methodischen Schritten im Umgang mit den Klienten
oder dem Klima positiver Zuwendung, das er zu schaffen versucht, sondern daran,
welche Probleme er als interventionsbedürftig interpretiert.
[048:21] Die oft beschworene Diskrepanz von
„Innendienst“
und
„Außendienst“
, von
„Administration“
und
„Treatment“
erscheint so theoretisch wie praktisch in
einem neuen Licht. Der im praktischen Umgang mit den Klienten tätige
Sozialarbeiter ist einem Berufsrollen-Problem konfrontiert, dessen Lösung ihm
institutionell unmöglich gemacht wird: Einerseits ist er abhängiger Agent einer
Institution, die an einem relativ starren System von Problem- und
Lösungs-Klassifikationen festhält; er kann aber andererseits innerhalb dieser
Institution keine stabile Berufsidentität aufbauen, da seine tägliche Praxis ihn
mit den originären Problemen der Lebenswelt des Klienten konfrontiert, denen
gegenüber die institutionalisierten Klassifikationen als disfunktional erscheinen. Das gilt z. B. auch für Arbeit in Heimen und
Vollzugsanstalten, wenngleich hier der institutionelle Rahmen in der Regel viel
von der Unmittelbarkeit der Konfrontation mit der primären Lebenswelt
wegnimmt.
[048:22] Der in dieser Gedankenskizze durchlaufene Zusammenhang besteht also
aus folgenden Gliedern und Komponenten:
[048:23] die Lebenswelt des Klienten mit den Komponenten der sozio-ökonomischen
Situation,
[048:24] das
„Treatment“
-System mit den Komponenten der unmittelbaren
Interaktion, den institutionellen Abhängigkeiten und der Berufsrolle des
Sozialarbeiters bzw. Sozialpädagogen,
[048:25] dieKlassifikation- und Verteilungsinstanzen mit den Komponenten der
Träger-Interessen, der Administration und der diagnostischen
Klassifikation,
[048:26] der Sozialstaat mit den verfassungs-, jugend- und familienrechtlichen
Komponenten und den Komponenten der ökonomischen Verteilungen und
Abhängigkeiten.
[048:27] Schematisch skizziert lassen sich diese Elemente des
sozialpädagogischen Prozesses und der Ort des Stigma-Problems darstellen:
|a 12|
[048:28] Bei diesem Schema handelt es sich nicht um eine Theorie, sondern um
einen Begriffs- und Beziehungsrahmen für Probleme. Dieser Rahmen ist zwar aus
theoretischen Elementen konstruiert – so z. B. aus Sozialisationstheorien,
Stigma-Theorie, Devianz-Theorien, ökonomischer Theorie, therapeutischen Theorien
–, kann aber für sich selbst nicht den Status einer Theorie beanspruchen. Ob
eine
„Theorie der Jugendhilfe“
bzw. eine
„Theorie der Sozialarbeit“
auf diesem Niveau von Komplexität überhaupt
möglich ist, ist zweifelhaft. Das wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen
hält, daß in unsere Rahmenskizze psychologische und medizinische Daten noch gar
nicht aufgenommen wurden. Die Komplexität der Praxis selbst ist also hier schon
beträchtlich reduziert worden. Gleichwohl scheint es mir sinnvoll zu sein –
nicht zuletzt der notwendig gewordenen Revision bzw. Neukonstruktion
sozialpädagogischer Ausbildungsgänge wegen –, mit solchen Rahmenvorstellungen zu
arbeiten, innerhalb derer Theorien lokalisierbar werden, und damit Hypothesen
formulieren zu können, deren Relevanz im Rahmen des faktischen
sozial-pädagogischen Feldes, sowohl praktisch wie theoretisch, bestimmbar
ist.