Familienerziehung [Textfassung a]
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Familienerziehung

[050:1] Die geringe theoretische Aufmerksamkeit, die die Familienerziehung innerhalb der Erziehungswissenschaft erfahren hat, steht in eigentümlichem Kontrast sowohl zur gesellschaftspolitisch postulierten Bedeutsamkeit wie auch zum großen Umfang der Literatur, die die Geschichte der europäischen Familie begleitet hat. Das mag damit zusammenhängen, daß Familienerziehung als der gleichsam selbstverständlichste Fall der von einer Gesellschaft vorgenommenen Institutionalisierung von Erziehung ist. In der literarisch dokumentierten Frühzeit der europäischen Familie drückt sich dieser Sachverhalt schon bei den antiken Schriftstellern deutlich aus. Probleme der Familienerziehung erscheinen als leicht zu folgernde Konsequenz aus der Struktur der Familie und ihrer sozialen Funktion als einer Stätte bäuerlicher Produktion; die Theorie des
»Hauswesens«
(Oikos) ist die Ökonomik (Hesiod, Xenophon), die die
»Natur«
der Familie in den Dimensionen Eigentumsordnung, Produktionsweise, Arbeitsteilung, Geschlechtsrollendifferenzierung, Machtverteilung usw. beschreibt. In der römisch-antiken Ökonomik, im Unterschied zur griechischen, wurde vorwiegend das grundbesitzende Patriziat angesprochen; dieser Bezug entfiel zwar in den neutestamentlichen
»Haustafeln«
, dafür entbehrten diese aber auch entschieden die vordem im Vordergrund stehenden wirtschaftlichen Probleme; es blieben die Beziehungen von Mann und Frau, Eltern und Kindern, Herrschaft und Gesinde. Diese thematische Orientierung wurde in der Reformation (Luther) bekräftigt, die Kindererziehung wird hier sogar den ökonomischen Problemen als die entschieden erste Aufgabe gegenübergestellt. In dieser Aufmerksamkeit auf die pädagogischen Probleme dokumentiert sich vermutlich weniger christliche Tradition, als vielmehr hinter derselben der im Verlauf der Neuzeit und im Zusammenhang mit der Entstehung des Bürgertums eingetretene Strukturwandel der Familie. Im privaten Charakter der innerfamiliaren Beziehungen – obwohl zunächst noch nicht unter der historischen Bedingung der |a 209|strikten Trennung von Arbeit und Interaktion der Familienmitglieder – hat nun die bürgerliche Kleinfamilie ihr Thema, was u. a. in der
»Hausväterliteratur«
, in den Essays Montaignes, in den
»Moralischen Wochenschriften«
, später auch in der Erziehungstheorie (Rousseau, Pestalozzi, Schleiermacher) seinen Niederschlag findet. Im Zusammenhang mit der Entstehung der großen Industrie und der Formierung der kapitalistischen Klassengesellschaft im 19. Jahrhundert gab die europäische Familie – und zwar die bürgerliche wie auch proletarische – mehr und mehr einzelne von ihr bis dahin noch wahrgenommene Aufgaben, insbesondere im erzieherischen Bereich, an die neuen sozialen Institutionen ab, in denen vorwiegend die instrumentelle Bildung besorgt wurde. Die Familie selbst behielt und konzentrierte sich auf die Vermittlung des normativen Rahmens, den
»Aufbau der sozial-kulturellen Persönlichkeit«
(König). Der anschaulichste theoretische Ausdruck dieser Entwicklung ist die konservativ-normative Familienlehre W. H. Riehls (1855), in der eine Rückkehr zum
»ganzen Haus«
moralisch empfohlen wird. Tatsächlich handelte es sich dabei um eine Illusion: Insbesondere der proletarischen Familie wurden durch rigorose Trennung von Familie und Arbeitsstätte und gleichzeitig materieller Deprivation nahezu alle Ressourcen für einen befriedigenden Aufbau der sozial-kulturellen Persönlichkeit entzogen; sie wurde vorwiegend der Ort für die Regeneration der Arbeitskraft. Die damit erzeugte Dichotomisierung von proletarischer oder Unterschicht-Familie und bürgerlicher oder Mittelschicht-Familie ist in der Tendenz bis in die Gegenwart zu beobachten.
[050:2] Trotz der durch den Klassenantagonismus erzeugten Schichtdifferenzen in den familiären Erziehungs- bzw. Sozialisations-Milieus können doch mehrere Merkmale der Familie nicht nur als dominant geltend, sondern auch als empirisch zutreffend behauptet werden: Das Vorherrschen der Kernfamilie (Zwei-Generationen-Familie), die in der Tendenz abnehmende Haushaltsgröße (Kinderzahl), das Festhalten an der Gruppengrenze, die Privatisierung der innerfamiliaren Beziehungen, die emotionale Dichte der Beziehungen, das Aufrechterhalten der Rollentrennungen. Die so entstandene Struktur ist nach drei Seiten hin prekär:
  1. 1.
    [050:3] Da von der Familie seitens der Gesellschaft (z. B. Schulen) eine basale und verwertbare Erziehungsleistung erwartet wird, diese Leistung aber nur unter entsprechend günstigen Bedingungen erbracht werden kann, gerät die Familie, je nach sozialer Lage verschiedenartig und verschieden stark, unter
    »Leistungsdruck«
    ;
  2. 2.
    [050:4] die starke Ausprägung der emotionalen Binnen-Beziehung zwischen den Familienmitgliedern (
    »Gatten-Familie«
    ,
    »Kinderzentriertheit«
    ) verstärkt die Bedeutung der innerfamiliaren Beziehungsmuster, besonders in der affektiven Dimension, und bewirkt eine vermutlich ansteigende Anfälligkeit für psychische Probleme;
  3. 3.
    [050:5] Die Abschließung der Familie als Kleinstgruppe gegen die Öffentlichkeit, Privatisierung und Gruppengrenze, beschränkt ihre Ressourcen zur Problem- und Konfliktlösung auf das innerfamiliare Kommunikationssystem.
[050:6] Solche Beobachtungen bzw. Hypothesen haben dazu geführt, das Erziehungsmilieu stärker als ein Ensemble von Interaktionen und Kommunikationen anzusehen, das sich nach Rollen und wechselseitigen Erwartungsmustern organisiert. Die soziolinguistische Forschung (Bernstein, Oevermann), die klinische Soziologie (Bateson u. a.), die interaktionistische Familienforschung (Stryker und Hansen/Hill in: Christensen), die psychotherapeutische Forschung (Richter) haben in jüngerer Zeit Bausteine für eine solche Kommunikationstheorie der Familie geliefert. Die Erziehung in der Familie ist |a 210|danach unlöslich geknüpft an den Status und die Kompetenzen der erwachsenen Mitglieder, an die Muster interpersonellen Verhaltens (Laing), die sie unter dem Druck ihrer gesellschaftlichen Stellung entwickeln und die sie an ihre Kinder weitergeben. Dies geschieht auf drei
»Ebenen«
: Im Eltern- bzw. Erwachsenen-System , in dem nach Maßgabe der gesellschaftlichen Stellung Arbeitsteilung vorgenommen, Rollen realisiert und Beziehungen definiert werden; im Eltern-Kind-System, in dem die Wertorientierungen, Handlungsmuster und Fertigkeiten, die mit dem Erwachsenen-System übereinstimmen, an die Kinder vermittelt werden, u. U. auch Beziehungs- und Identitätskonflikte der Erwachsenen
»kompensiert«
werden (Sündenbockstrategie); im Kinder-System, in dem Bedürfnisse und ihre Befriedigungen spielerisch balanciert, Handlungsmuster und Rollen spielerisch antizipiert und familienexterne Orientierungen (Gleichaltrigengruppe) eingeübt werden. Diese drei Ebenen der familiären Kommunikation lassen sich von drei Handlungssystemen
»durchschnitten«
denken: Dem Sympathiesystem, bei dem es um den Austausch von Zuwendung und Affekten geht; dem Dominanzsystem, bei dem es um die besondere Staffelung von Abhängigkeiten geht (Mann zu Frau, Mann zu Kindern, Frau zu Kindern, Geschwister zu Geschwistern); dem sachbezogenen System, in dem es um die Aufgaben geht, die die Familie in einer je besonderen historischen Situation zu erfüllen hat, ihre Inhalte und zu lösenden Probleme (Classens).
[050:7] Diese Aspekte für die Beschreibung der Familie und ihre Erziehungsfunktionen sind jedoch nur phänomen-analytischer Art. Sie sind dienlich zur Beschreibung des familiaren Systems, weniger indessen zur Erklärung. Tatsächlich gibt es ja
»die«
Familie der Gegenwart nur im Sinne eines abstrakt-allgemeinen Begriffs. Die Wirklichkeit der Familie dagegen steht unter je besonderen ökonomischen, kulturellen und sozialen Bedingungen. Für ihre Erfassung hat sich der Begriff der sozialen Schicht bewährt, mit dessen Hilfe die unterschiedliche Ausstattung der Familie mit Macht, Geld, Bildung und Prestige und die damit zusammenhängenden Differenzen der Erziehungspraxis bestimmt werden können. Obwohl durch einige Untersuchungen (Kohn) wahrscheinlich geworden ist, daß auch die Stellung des Familienernährers im System der Arbeitsteilung einflußreich ist, zumindest auf die in seiner Familie geltenden Erziehungswertvorstellungen, gibt es derzeit keine praktikable und begründete Alternative zur Verwendung der Schicht-Indikatoren. Der marxistische Klassenbegriff liegt auf einer anderen Ebene und vermag, jedenfalls unter den gegenwärtigen Bedingungen, Differenzen im familiären Erziehungssystem nicht zu erklären, jedenfalls solange er nicht im Sinne empirischer Indikatoren differenziert worden ist. Die erwähnte Bedeutsamkeit der Stellung im Produktionsprozeß kann indessen als erster empirischer Schritt in dieser Richtung gewertet werden. Neben der Schichtzugehörigkeit, innerhalb derer der Bildungsgrad der Eltern noch das sicherste prognosefähige Merkmal ist, fallen heute vor allem Merkmale wie Kinderzahl, Berufstätigkeit der Mutter, Wohnquartier und Wohnung, Aufstiegsinteresse im Hinblick auf die Erziehungsfunktionen ins Gewicht. Demgegenüber zeigt sich bei ehemals für wichtig gehaltenen Merkmalen (z. B. Unvollständigkeit der Familie,
»Schlüsselkinder«
, Stadt/Land-Differenz), daß ihre Bedeutung entweder im Schwinden begriffen ist oder auf Fehlinterpretationen beruhte; Kinder im Unehelichen-Verhältnis indessen bezeichnen einen Fall von
»Unvollständigkeit«
, der – der negativen sozialen Bewertung wegen – immer noch nachteilige Folgen für das Kind nach sich zieht. Verwendet man diese Merkmale zur Bestimmung je spezifischer Erziehungssituationen in Familien, dann |a 211|zeigen sich deutlich Unterschiede in der Belastung und entsprechende pädagogische Folgen. Die proletarische Familienerziehung steht unter dem stärksten Stress, der neben der materiellen Einschränkung ihrer Chancen häufig auch noch durch Widersprüche gekennzeichnet ist, die von diesen Familien selbst nicht zu lösen sind: Die aufgrund niedrigen Familieneinkommens aufgenommene Erwerbstätigkeit der Frau gerät in Widerspruch zu der traditionellen Rollenerwartung des Mannes an die Frau als Mutter und Hausfrau, die Aufstiegsinteressen geraten in Widerspruch zu der faktisch äußerst geringen Aufstiegschance, eingeschränkte Wohnsituation und Größe des Haushalts geraten in Widerspruch zu den Bildungserwartungen für die Kinder usw. Die Angabe der Schichtzugehörigkeit also sagt noch zu wenig über die tatsächlichen Erziehungsprobleme aus; sie steckt nur einen Bedingungsrahmen ab, innerhalb dessen erst eine differenziertere Analyse die einzelnen Merkmale der pädagogischen Situation ermitteln kann. Das gilt nicht nur für die proletarische Familie, sondern – wenngleich in bezug auf besondere Problemprofile – auch für die anderen sozialen Gruppen. Unterschiede im Familieneinkommen, in der Familiengröße, im Bildungsniveau der mütterlichen Familie bewirken – bei gleicher
»Klassenlage«
– höchst unterschiedliche Erziehungsperspektiven.
[050:8] Ähnlich wie für die Schule läßt sich auch für die Familie konstatieren, daß sie die drei Funktionen der Qualifikation, Selektion und Integration erfüllt. Ihre Qualifikations-Funktionen erfüllt sie im Hinblick auf die Bildung eines basalen Repertoires für interpersonelles und sachbezogenes Verhalten: Das Kind erwirbt in ihr die Sprache, die den Grundrollen entsprechenden Erwartungen und Reaktionen, die Struktur der Wechselseitigkeit von Beziehungen und damit Distanz zu den Rollenerwartungen, soziale und persönliche Identität, schließlich auch Muster oder Schemata der Weltauffassung, des Umgangs mit Objekten, Problemen und Problemlösungen. Eine selektive Funktion erfüllt die Familie auf zweierlei Weise; einerseits wirkt sie wie ein Filter für mögliche Erfahrungen des Kindes, selektiert also sowohl Lerninhalte wie auch – durch die innerfamiliare Kommunikationsstruktur – Lernwege; andererseits reproduziert sich durch die Familie gesellschaftliche Ungleichheit, und zwar dadurch, daß das familiäre Lernmilieu im Regelfall die Begrenzung der Lebenschancen, die in der sozialen Lage enthalten sind, nur unbeträchtlich verändern kann; bereits in der Familie werden Chancen verteilt, wird zukünftiger Status zugewiesen, werden Bildungskarrieren vorgezeichnet. Eine integrative pädagogische Funktion erfüllt die Familie insofern, als in ihr die dominanten und für die Gesellschaft allgemein geltenden Werte vermittelt werden, aber auch insofern, als eine Integration in die sozialen Subgruppen erfolgt: Die Kinder in Arbeiterfamilien, in Familien der akademischen Mittelschicht, in Familien aufstiegsorientierter mittlerer Angestellter usw. werden in die Handlungsorientierung der Gruppe integriert, der ihre Eltern zugehören. Je nach dem Ausmaß und der Art der Differenz zwischen den dominanten und den gruppenspezifischen Werten und Handlungsnormen bekommt das Erziehungsmilieu der Familie seine besondere problematische Struktur.
[050:9] Aus derartigen Gründen gerät die Familie und ihre pädagogische Funktion gegenwärtig zunehmend unter Kritik. Diese Kritik gilt vornehmlich den negativen Folgen jener drei Funktionen und ihren Bedingungen in der Familienstruktur: Sie erschwert Änderungen in der Handlungsorientierung durch ihren privatistischen Charakter, sie beschränkt den Erwerb von öffentlich relevanten Handlungsmustern durch die Starrheit ihrer Gruppengrenze, sie erschwert durch die Geschlechtsrollenfixierung die |a 212| Emanzipation der Frauen und Töchter, sie erzeugt durch ihre starke Binnenorientierung und deren affektive Besetzung psychische Probleme ihrer Mitglieder. Trotz solcher Kritik aber kann nicht geleugnet werden, daß für das Heranwachsen von neuen Generationen, wenigstens in der Phase der Primärsozialisation, Kleingruppen erforderlich sind, die sich aus mindestens zwei Generationen und erwachsenen Mitgliedern verschiedenen Geschlechts zusammensetzen. Was
»Familienerziehung«
leistet oder leisten soll, sollte deshalb – damit nicht das Mißverständnis einer ideologischen Fixierung auf die besondere historische Form der bürgerlichen Kleinfamilie entsteht – im Hinblick auf solche Gruppierungen und ihre pädagogische Funktion diskutiert werden. Ob wir die bürgerliche Kleinfamilie, die Großfamilie und die Wohngemeinschaft unter einem Namen, nämlich
»Familie«
zusammenfassen, ist dann nur noch eine terminologische Frage, wenn wir daran festhalten, daß uns unter dem Namen Familienerziehung Fragen der optimalen Organisation der Primärsozialisation interessieren. Diese vollzieht sich freilich historisch unter unterschiedlichen institutionellen Bedingungen, was auch für die Zukunft gilt. Die gegenwärtige Form der Kleinfamilie ist eine der historischen Möglichkeiten; die Wohngemeinschaft oder Großfamilie eine andere, vielleicht bessere. Allerdings ist unsere Kenntnis solcher Alternativen zu gering, um mit guten Gründen die Abschaffung der
»Familie«
und ihrer Erziehungsleistung fordern zu können.

Literatur

[050:10] Bateson, G. (u. a.): Schizophrenie und Familie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1964. Bronfenbrenner, U.: Zwei Welten. Kinder in den USA und UdSSR. Stuttgart: Dt. Verl. Anst. 1972. Caesar , B.: Autorität und Familie. Reinbek: Rowohlt 1972. = rowohlts deutsche Enzyklopädie. Bd 366. Christensen, H. T. (Hrsg.): Handbook of marriage and the family. Chicago: Rand McNally 1964. Claessens, D., P. Milhoffer (Hrsg.): Familiensoziologie. Frankfurt a. M.: Athenäum Verl. 1973. Goode, W. J.: Soziologie der Familie. München: Juventa Verl. 1967. Kohn, M.: Class and conformity. Georgetown/Ontario: Dorsey Press 1969. Lüschen , G., E. Lupri (Hrsg.): Soziologie der Familie. Opladen: Westdt. Verl. 1970. Neidhardt, F.: Die Familie in Deutschland. Opladen: Leske 1966. Richter , H. E.: Eltern, Kind und Neurose. Reinbek: Rowohlt 1969. = rororo Taschenbücher. Bd 6082-6083. Richter, H. E.: Patient Familie. Reinbek: Rowohlt 1970. = rororo Taschenbücher. Bd 6772. Vogel, E. F., N. W . Bell (Hrsg.): A modern introduction to the family. London: Routledge 1961. Willmott, P., M. Young: Family and class in a London suburb. London: Routledge 1960.