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Brief von neun Professoren der Pädagogik vom 23.2.1972 an Kultusminister Jürgen Girgensohn
[V34:1] In die öffentliche Diskussion um die von Kollegen der Gesamtschule Fröndenberg (Jutta Kühn, Helmut Böttiger, Wulfgar von Koerber) im Herbst vergangenen Jahres
erprobte Unterrichtseinheit
“Arbeit”
hat der zuständige
Regierungspräsident in Arnsberg in einer Weise eingegriffen, die unseren Protest
hervorruft.
[V34:2] Nachdem bereits die Lehramtsanwärterin Jutta Kühn im Dezember
des Vorjahres versetzt worden war, wurde zum 1. Februar d. J. auch der Lehrer
Wulfgar von
Koerber an |a 83|ein Gymnasium abgeordnet mit der
Begründung, daß durch Herrn von Koerber der Schulfrieden an der Gesamtschule Fröndenberg gestört sei.
[V34:3] Diese Abordnung stützt sich unseres Wissens nicht auf die von Beamten
Ihres Hauses vorgenommene Befragung der drei Kollegen zur Sache. Nach örtlichen
Presseberichten hatten im übrigen zwei Elternversammlungen durchaus
gegensätzliche Auffassungen zu dem Konflikt zum Ausdruck gebracht. Das Kollegium
der Gesamtschule Fröndenberg hatte unseres Wissens den
drei kritisierten Kollegen mehrheitlich das Vertrauen ausgesprochen.
[V34:4] Das oben erwähnte Verfahren des Regierungspräsidenten muß angesichts
dessen den Verdacht politischer Disziplinierung wecken. Die
Schulaufsichtsmaßnahmen scheinen nun die politische Stellungnahme jenes
Fröndenberger Betriebs (Kettenfabrik
Union) zu legitimieren, der als Anschauungsobjekt der
Unterrichtseinheit betroffen war und dessen Inhaber (zugleich Vorsitzender der Elternpflegschaft der
Schule) sich veranlaßt fühlte,
“keine Zustimmung zu
Betriebsbesichtigungen der Gesamtschule zu geben, bis die Unterrichtseinheit
der Wirklichkeit im Arbeitsleben und unserer derzeitig bestehenden
Gesellschaftsordnung angepaßt ist.”
(Schreiben vom 15.11.1971)
[V34:5] Wir, die Unterzeichner dieses Briefes, fühlen uns der Lehrerausbildung
im Land Nordrhein-Westfalen auf vielfache Weise verbunden. Unser
wissenschaftliches und politisches Interesse gilt einer fortschrittlichen
Entwicklung der Schulen in diesem Lande, der Reform ihrer Strukturen und
Inhalte.
[V34:6] Wir betrachten das Fröndenberger Unterrichtsprojekt als ein wichtiges
Beispiel für teamartige Kooperation von Lehrern im curricularen Neuland der
Arbeitslehre, die ja erklärtermaßen auf die Herausbildung von Kritikfähigkeit
nicht verzichten will. Unabhängig davon, ob man allen Argumentationen, die die
Autoren in der
“Sachanalyse”
und der
“Didaktischen Analyse”
zur Begründung ihres Vorhabens entwickeln,
zustimmt oder nicht, kann die ausgearbeitete Unterrichtseinheit als ein
didaktisch reflektierter, aus den geltenden Richtlinien für das Fach durchaus
begründbarer Versuch gelten, bei dem Engagement, Problembewußtsein und
methodischer Einfallsreichtum sich in origineller Weise verbinden. Soweit diese
Unterrichtseinheit dem Schüler die Möglichkeit einer kritischen Einstellung
gegenüber der bestehenden Wirtschaftsordnung eröffnet, hält sie sich im Rahmen
der grundgesetzlich verankerten Variationsbreite gesellschaftlicher Positionen.
Keineswegs garantiert oder schützt das Grundgesetz das gegenwärtig
bestehende Wirtschaftssystem als verfassungsmäßig einzig mögliches, und |a 84|Kritikfähigkeit gegenüber diesem Wirtschaftssystem muß
deshalb als verfassungsmäßig gesicherte, legitime Möglichkeit politischer
Bildung gelten.
[V34:7] Wir sind darüber bestürzt, daß ein solches unterrichtliches
Reformvorhaben in einer Gesamtschule zum Scheitern gebracht wird, bevor eine
öffentliche und wissenschaftlich qualifizierte Erörterung des Projekts überhaupt
zu Ergebnissen kommen kann. Die Versetzung bzw. Abordnung von Lehrkräften
erweckt in diesem Zusammenhang den Eindruck, als sollte dadurch die inhaltliche
Auseinandersetzung mit der Unterrichtsarbeit der Fröndenberger Kollegen ersetzt
werden. Die Gefahr, daß solcherart verfügte und begründete Versetzungen oder
Abordnungen auf reformwillige junge Lehrer oder Studenten des Lehramtes
einschüchternd wirken, ist groß. Damit die bisherige administrative Behandlung
des Falles der Fröndenberger Gesamtschullehrer nicht zu einer gefährlichen
Belastung für die progressive Schulpolitik des Landes Nordrhein-Westfalen wird, fordern wir Sie auf, die
Abordnung des Kollegen von Koerber rückgängig zu machen.
[V34:8] Weil wir das Engagement der Lehrer für eine demokratische Schule – ein
gemeinsames Ziel der Schulpolitik und der Lehrerausbildung an den Hochschulen –
durch den geschilderten administrativen Eingriff beeinträchtigt sehen, bitten
wir Sie um Ihre persönliche Intervention.
[V34:9] Prof. Dr. Wolfgang
Klafki (Uni Marbg.)
[V34:10] Prof. Dr. Klaus Mollenhauer (Uni Ffm.)
[V34:11] Prof. Dr. Hans J.
Krysmanski (Uni Münst.)
[V34:12] Prof. Dr. Chr.
Sigrist (Uni
Münster)
[V34:13] Prof. Dr. E. Harder v.
Gersdorff (PH
Westfalen-Lippe)
[V34:14] Prof. Dr. Jürgen
Feldhoff – " –
[V34:15] Prof. Dr. Arno
Klönne – " –
[V34:16] Prof. Dr. Georg
Rückriem – " –
[V34:17] Prof. Dr. Erich Chr.
Schröder – " –