[054:106] Mit den Erörterungen im letzten Abschnitt haben wir dem
Erkenntnisgang vorgegriffen: Wir haben schon Behauptungen über die Familie
zusammengestellt, die eigentlich nicht am Anfang, sondern eher am Ende einer
Theorie der Familienerziehung sinnvoll angebracht wären; denn jene
Behauptungen setzen bereits eine Theorie voraus, in wissenschaftlicher
Arbeit entwickelt und empirisch bewährt. Nun wiesen wir schon darauf hin,
daß die Familie für nahezu niemanden von uns – die Leser und die Autoren –
ein fremder Gegenstand ist, mit dem wir uns erst durch ein künstliches
Arrangement von Informationen (z. B. in der Form von Literatur) bekannt
machen müßten. Vor jeder wissenschaftlichen Theorie
»haben«
wir diesen Gegenstand schon,
»hat«
er für
uns eine Bedeutung,
»hat«
die Familie uns in unseren
Erinnerungen und
»haben«
wir sie in den Bildern, die wir
aus Wahrnehmungen, Gefühlen, Gedanken, vor allem aber aus den vielen
Ich-Du-Konstellationen in den 15 oder mehr Jahren ihrer Herrschaft über uns
montiert haben. Der theoretische Gegenstand
»Familie«
ist
uns zuallererst vor jeder wissenschaftlichen Theorie subjektiv gegeben, in
durchaus problematischer Weise – unsere Erinnerung an ihn ist im Regelfall
gebrochen.
[054:107] Die
»Brechung«
der Erinnerung erscheint –
wiederum im Regelfall – in zweierlei Weise:
[054:108] Zum einen sind in ihr verschiedene und häufig widersprüchliche
Erfahrungsteile miteinander verknüpft. Die Familie erscheint uns als der
gesellschaftlich sonst seltene Fall, in dem die Mitglieder einer Gruppe sich
wechselseitig relativ vorbehaltlos akzeptieren (wie ein Jugendlicher sagte:
»Familie ist, wo man nicht rausgeschmissen wird, auch
wenn andere einen für einen Versager halten«
) und wo durch die
»auf Bedürfnisbefriedigung
gerichtete eigene Produktionsweise der Frau«
(Negt/Kluge 1972, S. 50)
die interpersonellen Beziehungen (noch?) nicht auf Tauschbeziehungen
reduziert sind. Sie erscheint uns aber auch als der Ort, an dem uns
Triebunterdrückung gelehrt, Angst vor Sanktionen beigebracht, das
Selbständigwerden erschwert wurde, und zwar auf eine Weise, daß dies für uns
meistens ein lebenslanges Problem bleibt.
[054:109] Zum anderen ist unsere Erinnerung an die Familie, als eines
theoretischen Gegenstandes, auch dadurch gebrochen, daß wir in der Reflexion
– z. B. jetzt, wo es nicht darum geht, eine Autobiographie
niederzuschreiben, sondern ein Thema theoretisch, d. h. mit Anspruch auf
Gültigkeit abzuhandeln – nicht nur das Abstraktum
»Familie«
, sondern die Erinnerung an die besondere
lebensgeschichtliche Bedeutung, die die Familie für uns hat, zum Gegenstand
machen. Diese Brechung besteht darin, daß wir die eigene oder die Erinnerung
anderer konfron|a 120|tieren mit den Mustern ihrer Deutung.
Wenn beispielsweise gerade eben von
»Bedürfnisbefriedigung«
, von
»Produktionsweise der Frau«
,
von
»Triebunterdrückung«
und
»Sanktionen«
die Rede war, dann waren das nicht die unmittelbaren
sprachlichen Ausdrücke für ein erfahrenes Geschehen; der autobiographische
Report, wenn er
»echt«
sein wollte, würde vermutlich ganz
andere sprachliche Formen wählen. Es war vielmehr die versuchte
Zusammenfassung von subjektiver Erfahrung mit den Mitteln von
Deutungsmustern, die von solcher Erfahrung schon relativ abgehoben sind. In
diesem Fall handelte es sich um solche Deutungsmuster, die den Traditionen
wissenschaftlicher Theoriebildung entstammen, z. B. der marxistischen und
der psychoanalytischen Theorie.
[054:110] Das Eigentümliche eines Deutungsmusters wissenschaftlicher Art
besteht darin, daß durch die Nötigung, subjektive Erfahrung in der Form
eines auch intersubjektiv gültigen und an der Erfahrung überprüfbaren Satzes
auszudrücken, die Aufmerksamkeit sich in solchen Fällen nicht mehr der
ganzen Erfahrungsfülle des Subjektes zuwendet, sondern nur noch einem
Ausschnitt. Jedenfalls ist dies der Regelfall bei der Verwendung
wissenschaftlicher Deutungsmuster. Die praktischen Problemstellungen des
»Alltagsbewußtseins«
und die theoretischen
Problemstellungen des
»wissenschaftlichen Bewußtseins«
decken sich nicht. Außerdem aber gibt es noch eine dritte, eine Zwischenzone
von Deutungsmustern, die für das ganze Problemfeld eine wichtige Funktion
hat. Diese drei Ebenen von Deutungsmustern seien an folgendem Beispiel
illustriert:
[054:111] Nehmen wir den Fall an, daß abends vor dem
Fernsehgerät die Eltern mit einem zehnjährigen Kind sitzen. Der Vater ist
eine Stunde vorher von der Arbeit nach Hause gekommen und sieht nun
beispielsweise eine Sportsendung. Das Kind möchte eine Kindersendung im
anderen Programm sehen und bittet darum; die Mutter verhält sich
unentschieden angesichts dieses Versuchs; der Vater aber lehnt kategorisch
ab, das andere Programm einzuschalten, gibt auch keine Begründung dafür, droht vielmehr dem Kinde,
es aus dem Zimmer zu schicken, falls es seine Bitten nicht unterläßt. – Das
ist freilich eine Klischee-Situation, es läßt sich an ihr jedoch unsere
Frage nach den verschiedenen Ebenen von Deutungsmustern demonstrieren.
1.
[054:112] Deutungsmuster der primären subjektiven
Erfahrung: Der Vater denkt:
»Ich bin müde und
abgespannt. Es ist für mich einfach zuviel, daß ich jetzt auf das
Kind eingehen soll.«
Die Mutter denkt:
»Er könnte
ruhig dem Kind auch mal seinen Willen lassen; aber ich weiß in
solchen Situationen meistens nicht, zu wem ich halten soll.«
Das
Kind denkt:
»Es hat ja doch keinen Zweck; immer, wenn
der Vater nach Hause kommt, denkt er nur an sich.«
Alle drei
haben vielleicht noch diesen gemeinsamen Gedanken:
»Irgendwie müßte das anders sein; so wie wir uns in dieser Situation
verhalten, wird keiner so recht glücklich.«
2.
[054:113] Theoretische Deutungsmuster der
Wissenschaft: Der vorliegende Fall erscheint, unter dem
Gesichtspunkt der Familienstruktur, als ein Beispiel für das Problem der
»Dominanz«
in der Familie, z. B. meßbar in Form
eines
»Autoritäts-Index«
(Lupri in Lüschen 1970). Unter
dem Lerngesichtspunkt wird das Lernfeld für das Kind in diesem Fall
vielleicht eingeordnet als
»depriviertes |a 121|Sozialisationsmilieu«
, unter dem Gesichtspunkt der
verbalen Kommunikation als
»restriktives
Sprachmilieu«
. Die Entstehung dieser Merkmale – die der konkreten
Erfahrung gegenüber abstrakt sind – wird vielleicht erklärt mit Hilfe
einer Lerntheorie, einer Theorie sozialen Wandels oder einer
psychoanalytischen Theorie.
3.
[054:114] Zwischen diesen beiden Deutungsmustern ist ein drittes
eingelagert, das wir vorläufig Zwischenzone nannten und in dem kollektive, kulturspezifische Erfahrungen
zusammengefaßt werden. Es ist bezogen auf die
»soziale
Mitwelt«
(A.
Schütz), also nicht nur auf die Personen, mit denen
ich konkret zusammenlebe, sondern auch auf den weiteren Kreis derer, von
denen ich zwar keine unmittelbare Erfahrung habe, die aber durchaus
Gegenstand meiner Erfahrung sein könnten, vor allem also die Angehörigen
meiner Kultur. Im Falle der Familienerziehung handelt es sich dabei also
um jene Deutungsmuster, in denen sich die Erfahrungen von Familien in
gleicher oder ähnlicher sozio-kultureller Lage kristallisieren, die
Bedeutung nicht nur für diese, sondern auch für andere Familien haben.
Im vorliegenden Beispiel könnte es sich etwa um die folgenden Schemata
handeln:
»Das Verhalten von Kindern beeinflußt man am
besten dadurch, daß ein
verbaler Appell mit einer Sanktionsdrohung verknüpft wird«
(Vater);
»in Konfliktfällen ist es besser, wenn die
Regulierung dem Vater überlassen wird und die Mutter sich
zurückhält«
(Mutter);
»es hat keinen Zweck, sich
gegen die Anordnung des Vaters zu stellen; einerseits ist er sowieso
der Stärkere, andererseits weiß ich, daß es den anderen Kindern in
meinem Alter ähnlich ergeht«
(Kind).
[054:115] Unsere Interpretation des Beispiels im Hinblick auf die erste und
die dritte Klasse der Deutungsmuster ist natürlich fiktiv. Erst durch eine
genaue Beschreibung des Falles und vor allem durch eine Selbstexplikation
der Beteiligten wären wir in der Lage, den Sachverhalt zutreffend zu
ermitteln; denn um herauszubekommen, mit welchen Kategorien die Subjekte
einer solchen Situation diese deuten, müssen wir notwendigerweise mit ihnen
reden. Indessen kommt es hier ja auch nur darauf an, deutlich zu machen, daß
familienpädagogisch relevante Erkenntnis sich nicht naiv den in der
Wissenschaft angesammelten Theorie-Traditionen anschließen, sondern zunächst
bemüht sein sollte, die Dimensionen zu ermitteln, in denen sich
Familienerziehung für das Alltagshandeln
»konstituiert«
,
d. h. in denen sie Bedeutung für die Familienmitglieder hat. Daß ein solches
Vorgehen gleichwohl nicht unproblematisch ist, seine Fallstricke hat, wird
noch zu zeigen sein.
[054:116] Im folgenden nun sollen zunächst zwei Beispiele für familiale
»Lebenswelten«
vorgestellt und interpretiert werden. Wir
wollen dabei so vorgehen, daß wir sie nicht als Einzelfälle behandeln, die
irgendeine der vorhandenen wissenschaftlichen Theorien nur illustrieren
würden – ein solches Verfahren wäre nur sinnvoll, wenn wir die zu
illustrierende Theorie als zweifelsfrei gültig unterstellen, uns also
dogmatisch verhalten wollten. Vielmehr wollen wir sehen, was in den Texten
selbst – beide gehören nicht der wissenschaftlichen Literatur an – über
Familie zur Sprache gebracht wird.
|a 122|
[054:117] Erstes Beispiel: Die Bütows1
1Mit freundlicher Genehmigung, Verlag Eremitenpresse, Düsseldorf
(früher Stierstadt), aus
Gabriele Wohmann: Die Bütows, 1. Auflage 1967, 6. Auflage
1975
(leicht gekürzter Text).
[054:118]
»Die Bütows sind beliebt. Karl Bütow war in
sämtlichen Semesterferien Werkstudent. Als Pharmazeut handelte er
klug, Else, die
Apothekerstochter, zu heiraten. Er hat die Schwiegereltern rasch von
seinen Fähigkeiten überzeugt und leitet längst die Apotheke allein,
eine Goldgrube. [054:119] … [054:120] Es sieht freundlich aus bei den Bütows. Else schafft jetzt alles
ohne fremde Hilfe. Die Kinder kann sie zu immer größeren Aufgaben
heranziehen. Die Bütows sind keine Langweiler. Karl
ist beispielsweise sehr witzig. Mit der Frage nach der Übersetzung
des lateinischen Wortes Miserere bringt er Gäste zum Lachen: Sein
›Erbarme dich‹
ist die Krankheit namens
Darmkoterbrechen. Beide Bütows treiben Sport. Das Familienmotto
heißt Ertüchtigung. Neben Schwimmen, Ski und Rodeln, Diskus und
Gymnastik pflegen die Bütows auch den Tennissport. Die Kinder
bewähren sich ebenfalls in verschiedenen Sportarten, außer Tennis
mit seinen hohen Clubgebühren. [054:121] Der Kleinste ist jetzt vier. Die Eltern werden
ihn insgesamt jeder schätzungsweise zweihundertmal geschlagen haben,
im ersten Lebensjahr noch gar nicht. Alle Bütow-Kinder sind
vorzüglich erzogen. Gäste kommen gern ins Haus. Die Kinder fallen
niemandem lästig. Bloß die Bütow-Eltern selber werden auf winzige
Untaten aufmerksam, die Fremden durchaus entgehen. Die Bütows
bestrafen ihre Kinder sehr gern vor Zeugen. Scham verschärft den
Schmerz der Schläge. Karl und Else schlagen aber immer
nur mit der Hand. Karl schlägt meistens
auf den Hinterkopf, Else schlägt
mütterlicher, schlägt ins Gesicht, da trifft sie, als Linkshänderin,
die linke Ohrgegend ihrer durchweg tapferen Kinder. Die Bütows
nennen ihre Erziehung Vorbereitung fürs Leben. In der Bütowschen
Garderobe hängt holzgerahmt und hinter Glas ein Register von
Benennungen, die in dieser Familie keiner verdienen will: Weichling,
heulendes Elend, Tränentier, Jammergestalt, Schwachmatikus, Wrack,
Bubi und Pole. [054:122] …[054:123] Die Frau sei dem Mann untertan: Es
gibt nicht viele Bibelstellen, die Karl
Bütows Auffassung vom Zusammenleben der Geschlechter so
präzise wiedergeben. Auf die Frage des Pfarrers, ob sie Karl gehorchen wolle,
habe doch Else mit Ja geantwortet,
sagt er den Leuten, die sich über die Einmütigkeit dieses Paares
wundern. Auch du hast seine Beweisführung sehr verständig gefunden.
Seit wann soll Else nicht mehr mein
Vorbild sein? [054:124] Die Bütows
geben Geld aus für die Winterfütterung des einheimischen Wildes.
Karl Bütow wirft
geangelte Fische zurück ins Wasser. Den Kirschbaum in ihrem kleinen
Garten verteidigen sie allerdings. Die Amseln haben sich sehr
vermehrt. Karl findet, es schade
nichts, wenn die Söhne einige mit dem Luftgewehr abknallen. Er hat
Verständnis für die Kinder. Die Bütows besitzen eine deutsche Dogge
mit einer Widerristhöhe von genau achtzig Zentimetern. Das ist der
höchste Widerrist, der bei deutschen Doggen gemessen wird. Dieses
Tier namens Hasso kann überhaupt als Vorbild gelten. Sein
Oberschädel ist stark entwickelt, der Stirnabsatz deutlich, an der
kurzen Schnauze hängt genug überschüssige Haut, die vorschriftsmäßig
Lefzen bildet. Karl Bütows
Erziehungskunst hat sich auch bei Hasso bewährt. Hasso hört aufs
Wort. Die Bütows lassen ihn sogar im Wald frei laufen. Es ist immer
sehr komisch mitanzusehen, wie |a 123|Hasso, der
furchterregend aussieht, nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene
erschreckt. Die Bütows lehnen Leute ab, die sich vor Hunden
fürchten. Ihr Ältester hat vor kurzem die Pflege Hassos übernehmen
dürfen, eine ehrenvolle Verantwortung. Für die kleineren Kinder reichen Pflichten. Sogar
der etwa vierhundertmal geschlagene Vierjährige darf jetzt schon
helfen, die Pflanzen zu betreuen. Das Zweitälteste trat in den Bund
für Vogelschutz ein. Dieses Kind hat eine Zeitlang um einen eigenen
Vogel gebettelt: ein ziemlich unwürdiges Verhalten für einen Bütow.
Um dieses etwas aufsässige Kind abzulenken, ließ man ihm
Musikunterricht erteilen. Zwar ist es so wenig musikalisch wie alle
Bütows – um so besser, um so härter die Schulung. Das Klavier steht
dadurch auch nicht nutzlos herum. Karl
will es nicht nur um des Sachwerts willen seiner Schwiegermutter
abgeluchst haben. [054:125] Karl ist ein guter
Vater, Else ist eine gute
Mutter. Alle Kinder sollen Gemeinschaftsgeist und
Einsatzbereitschaft lernen. Es scheint, als liebten die Bütows
Substantive, die auf
›schaft‹
enden. Die Bütows
finden es schwierig, für die Kinder die richtigen Gruppen
auszusuchen. Uniformen werden ja kaum noch getragen. Ideale sind im
Schwinden. Es bleiben eigentlich nur noch die verlorenen
Territorien, für die daher zwei der Bütow-Kinder trommeln. Und
religiöse Jugendverbände. Die Bütows aber sind nicht religiös.
Trotzdem werden alle Kinder konfirmiert, sind auch getauft; wozu
anecken? Jedoch in neun Jahren, wenn der Jüngste konfirmiert ist,
werden die Bütows Schluß mit der Kirche machen.[054:126] … [054:127] In seinem Beruf opfert Karl
sich so ziemlich auf. Nicht nur mit langer Arbeitszeit. Kranke
verachtet er. Beide Bütows entrüsten sich über die Tränentiere und
Wracks und Schlappschwänze, die nicht einmal am Rost die Schuhsohlen
abstreifen können, törichte Fragen stellen, Schirme vergessen und
sich immer wieder an der Apothekentür irren: Innen steht ziehen, da drücken sie, außen steht drücken, da ziehen sie. Karl
wird nicht müde, während wir auf den netten Bütowschen
Geselligkeiten Elses süßsaure Salate
verspeisen, Anekdoten über die Torheit seiner Kunden zu erzählen.
Die Bütows nehmen auch am kulturellen Leben der Stadt teil. Im
Theater sind sie auf Premieren abonniert. Das bedeutet, daß sie ihre
Nerven nicht schonen, denn sie kommen meist verärgert nach Haus. Der
Spielplan wird immer schlechter, laut Karl.[054:128] …
[054:129] Karl
ist so gutmütig, sagt Else von Karl. Else ist sehr
weichherzig, sagt Karl von Else. Trotzdem müssen
die Strafen in die Alben der Kinder eingetragen werden, wo zwischen
den Fotos alle wichtigen Ereignisse verzeichnet sind, also alle
Sprechverbote, Geldstrafen, Zimmerarreste und
Wiedergutmachungsbußen. [054:130] Daß
die Bütows gute Eltern sind, habe ich sicher bereits
erwähnt.«
[054:131] Im vorliegenden Text handelt es sich um einen Bericht, in dem das
Bemühen um Distanziertheit und außerordentliche Sachlichkeit in die Augen
springt. Die Autorin enthält sich selbst jeder ausdrücklichen Bewertung der
Ereignisse; alle vorgenommenen Wertungen sind auf eine Art mitgeteilt, die
den Eindruck erzeugt, es seien die Wertungen der beschriebenen Personen. So
fremd auch der Text durch die distanzierte Darstellungsform anmuten mag – was über diese Familie
mitgeteilt wird, ist deutlich
»dimensioniert«
die
Ereignisse werden offenbar nach Maßgabe eines Begriffs familialer Struktur
mitgeteilt, in dem sie aufeinander bezogen und damit in ihren Bedeutungen
klargemacht werden. Es ist nicht nur von einem einzelnen Aspekt der Sache
die Rede, sondern vom
»Gan|a 124|zen«
.
Das Erziehungsgeschehen wird deshalb auch nicht isoliert, sondern als ein
Moment dieser
»Lebenswelt«
bestimmt.
[054:132] Versuchen wir nun, die Dimensionen zu ermitteln, in denen diese
Familie sich uns darstellt, und zwar noch ohne sie schon zu gewichten, d. h.
nach dem Grad ihrer Bedeutsamkeit (Relevanz) zu fragen:
1.
[054:133] Der Text beginnt mit einem Hinweis auf die Beziehung zwischen der Familie und der
Sozialwelt.
»Die Bütows
sind beliebt.«
Dieser Satz sagt etwas über den Status, das
Prestige der Familie aus, darüber, daß sie anerkannt wird, offenbar mit
herrschenden Normen übereinstimmt. Diese Zugehörigkeit zu den
»Herrschenden«
wird nicht nur für die Dimension der
normativen Orientierungen konstatiert, sondern auch für das tatsächliche
Verhalten der Familie: Menschen, die anderen Normen folgen, werden
diskriminiert (
»Pole«
,
»Leute, die sich vor Hunden
fürchten«
,
»Schlappschwänze«
, die die in der Apotheke geltenden Regeln
nicht befolgen).
2.
[054:134] Diese Lokalisierung der Familie in der Herrschaftsstruktur
der Sozialwelt hat eine materielle Basis: die
Apotheke. Es ist indessen auffallend, daß die damit angesprochene
Dimension
»Arbeit«
nicht ausgeführt wird. Die Familie
verdankt dieser Dimension zwar ihre Gründung (
»Als Pharmazeut handelte er klug, Else, die
Apothekerstochter, zu heiraten«
), das aber verblaßt vor dem
sich offenbar verselbständigenden familialen Alltagshandeln.
3.
[054:135] Der Text bringt ferner die von der Familie angestrebten
Werte, die normative Orientierung zur Sprache.
»Das Familienmotto heißt
Ertüchtigung«
;
»Gemeinschaftsgeist und Einsatzbereitschaft«
gelten als
besonders wichtige Normen;
»Ideale«
sollen angestrebt werden, insbesondere eine
Identifikation mit den
»verlorenen
Territorien«
. Allerdings will die Familie nicht riskieren,
als Außenseiter zu gelten (
»wozu
anecken?«
).
4.
[054:136] Solche normativen Orientierungen gelten für die Familie
absolut. Es gibt über sie keine Reflexion, kein
auch nur versuchsweises In-Zweifel-Ziehen. Infolgedessen werden Menschen
mit anderem kulturellen Habitus diskriminiert. Im Selbstverständnis der Familie wird das
durch die Identifikation mit der Berufstätigkeit motiviert (
»In seinem Beruf opfert Karl sich so
ziemlich auf ... Kranke verachtet er. Beide Bütows entrüsten sich
über diese Tränentiere ...«
), aber zugleich zu einem
allgemeinen dogmatischen Wertungsmuster generalisiert (vgl. die in der
Familie gebräuchlichen negativen Benennungen).
5.
[054:137] Die Wertorientierung der Familie drückt sich auch auf der
Ebene der pädagogischen Zielvorstellungen aus.
Sie nennt
»ihre Erziehung
Vorbereitung fürs Leben«
, die Kinder
»bewähren sich ... in verschiedenen Sportarten«
,
müssen
»Pflichten«
und
»Aufgaben«
übernehmen.
Diese Zielvorstellungen aber sind formal; um
welche inhaltlichen Aufgaben es sich dabei handelt, bleibt dahinter
verborgen (
»Die Bütows sind nicht
religiös. Trotzdem werden alle Kinder konfirmiert«
).
»Gemeinschaftsgeist«
und
»Einsatzbereitschaft«
gelten als Werte für sich, nicht im Hinblick auf die inhaltlichen
Aufgaben, die durch solche Tugenden verwirklicht werden könnten.
6.
[054:138] Die Familie folgt in ihrem pädagogischen Handeln einer
bestimmten Lern|a 125|theorie, d. h. einer Vorstellung
(instrumentellen Annahmen) darüber, auf
welchen Wegen die angestrebten Ziele am zweckmäßigsten erreicht werden
können. Auch dieses Deutungsmuster, mit dem sie sich die pädagogischen
Zweck-Mittel-Beziehungen verständlich macht, ist formal, wie der Vorgang
bei der Tierdressur (
»Karl Bütwos Erziehungskunst hat sich auch bei Hasso bewährt«
).
Beim Musikunterricht geht es nicht um Musik, sondern um die
»harte Schulung«
; als
»wichtige Ereignisse«
der
Familienerziehung (
»Sprechverbote,
Geldstrafen, Zimmerarreste und Wiedergutmachungsbußen«
)
erscheinen den Bütows offenbar vornehmlich Strafen, die bei der
Verhaltensregulierung verwendeten negativen Sanktionen.
7.
[054:139] Eine in ihrer besonderen Bestimmtheit ebenso
selbstverständliche wie für die Familien-Struktur dominante Dimension
ist die Beziehung der Eheleute zueinander, die Rollenstruktur des Ehesystems (
»die Frau sei dem Manne untertan«
). Diese Form
der Beziehung ist bereits mit der Eheschließung gesetzt, in der
»Else«
nur in ihrer Qualität
als
»Apothekerstochter«
erscheint. Beide werden in ihrer Beziehung zu den Kindern
(Rollen-Struktur des Eltern-Kind-Systems) ebenso eindeutig und ohne
Reflexion als
»guter
Vater«
,
»gute
Mutter«
, wechselseitig noch einmal gespiegelt als
»gutmütig«
und
»weichherzig«
bestimmt.
8.
[054:140] Eine letzte Dimension wird aus dem Text nur erkennbar
durch ihre betonte Abwesenheit: Von der Perspektive
der Kinder ist nicht
die Rede, es sei denn aus der diskriminierenden Sicht der Eltern (
»dieses Kind hat eine Zeitlang um
einen eigenen Vogel gebettelt; ein ziemlich unwürdiges Verhalten
...«
).
[054:141] Der auf diese Weise
»dimensionierte«
Text
versucht, Gewichtungen möglichst zurückzuhalten. Die Dimensionen erscheinen
vorwiegend beschreibend; dennoch aber werden ursächliche Verknüpfungen
nahegelegt; durch die Beschreibung hindurch wird ein Deutungsmuster
erkennbar, in dem die Dimensionen gleichsam hierarchisch angeordnet
erscheinen, vorgeblich das eine aus dem anderen folgt, eben ein
»Muster«
sichtbar wird, das wir versuchsweise
schematisch darstellen wollen(vgl. das Schema auf S.
126)::
[054:142] An unserem Schema ist dem Leser gewiß eines aufgefallen: es
erweckt einen überraschend geordneten (systematischen) Eindruck; wie kommt
es zu der Symmetrie, die sich in der Anordnung der Begriffe andeutet? Diese
Symmetrie ist keinesfalls eine Eigentümlichkeit des Berichts über die
Familie Bütow; sie ist vielmehr ein Merkmal, das den Deutungsmustern der
Interpreten zugehört. In anderen Worten: das Schema ist ein Konstrukt
unserer intellektuellen Arbeit, in das zwar die Dimensionen des Berichtes
eingegangen sind, in dem aber zugleich diese Dimensionen auf eine besondere Weise verarbeitet wurden,
und sei es nur in der Weise der graphischen Anordnung. Dennoch zeigt sich an
unserer Interpretation mindestens folgendes:
1.
[054:143] Wählt man nicht von vornherein eine Art des Zugangs zu
Fragen der Familienerziehung, für die – etwa nach Maßgabe irgendeiner
wissenschaftlichen Tradition – aus dem ganzen ein einziger Aspekt zum
Gegenstand des Nachdenkens wird, dann erscheint Familienerziehung als
ein Moment in einem Geflecht von Ereignissen, Familie als ein komplexes
Feld mit mannigfachen Inter|a 126|(Die gestrichelten Linien sollen anzeigen, daß Beziehungen
zwischen den
»Dimensionen«
(oder auch
»Kategorien«
) im Text kaum angedeutet sind;
die durchgezogenen Linien sollen anzeigen, daß im Text durchaus
Abhängigkeiten zwischen denjenigen Ereignissen oder Tatbeständen
hergestellt werden, die den Kategorien je zuzuordnen sind.)dependenzen (wechselseitigen Abhängigkeiten) sowohl im Inneren als
auch nach außen (soziale Mitwelt, Arbeit).
2.
[054:144] Dieses Geflecht erscheint dem Darstellenden nicht
chaotisch, sondern in bestimmter Weise geordnet, nach Dimensionen, die
er für bedeutsam hält oder als bedeutsam erfahren hat,
gegliedert.
3.
[054:145] In solcher Darstellung drückt sich schließlich die
besondere Perspektive des Darstellenden aus, seine Art, Erfahrung zu
machen und diese auch mitzuteilen. Der Darstellende ist also nicht mit
seinem
»Gegenstand«
allein, sondern seine Perspektive
ist mitbestimmt durch diejenigen, denen seine Mitteilung gilt.
[054:146] Im vorliegenden Fall war der Autor des Berichts nicht die Familie
selbst oder ein Familienmitglied, sondern ein Außenstehender. Er hat zwar
versucht, durch angestrengte Sachlichkeit, soweit wie möglich die
Perspektive der Familie Bütow zur Geltung zu bringen. Wir können aber nicht
sicher sein, ob ihm das gelungen ist; wir haben keine Möglichkeit, das zu
prüfen. Ob sich also wirklich das Bewußtsein der Familie von sich selbst in
den herausgestellten Dimensionen
»konstituiert«
, d. h. in
ihnen sich notwendig und zutreffend ausdrückt, das läßt sich nicht
entscheiden, denn die Perspektiven der Familienmitglieder kamen nicht durch
diese selbst zur Sprache. Es bedeutet aber auch, daß von den drei im Anfang
dieses Kapitels aufgeführten Deutungsmustern (der primären subjektiven
Erfahrung, der kollektiv-kulturspezifischen Erfahrung und der
wissenschaftlichen Erfahrung) das erste in dem vorgelegten Familienbericht
fehlt. Wir wollen |a 127|deshalb noch ein weiteres Beispiel
diskutieren, in welchem nun ein Familienmitglied selbst spricht, und zwar in
der Form einer Autobiographie:
[054:147] Zweites Beispiel: Eine Glasmacherfamilie aus
dem 19. Jahrhundert (Auszüge aus den Erinnerungen Josef Peukerts)
[054:148]
Die Erinnerungen aus meiner
frühesten Jugendzeit sind traurige Bilder des Proletarierelends, wie
sie in tausendfältigen Formen in der modernen Gesellschaft überall zu Tage treten.
Bitterste Not und Entbehrung verursachten den frühen Tod meiner
Mutter durch die schreckliche Proletarierkrankheit, welche zwei
Fünftel der Bevölkerung meiner Heimat dahinraffte, obwohl der ganze
Distrikt, im Isergebirge und den Ausläufern des Riesengebirges, von
Natur aus ein wahrer Luftkurort für Schwindsüchtige sein sollte.
Allein die Glasindustrie, auf welche neun Zehntel der Bevölkerung in
den Thälern und Bergen für ihren Lebensunterhalt angewiesen sind,
fordert ununterbrochen ihre Opfer, speziell unter den
»Schleifern«
und
»Bläsern«
.
Die Produkte, die in Gestalt von Perlen, Prismen, Knöpfen, Broschen,
Ohrgehängen und sonstigem Aufputz für Frauen, Kinder und Männer in
der ganzen Welt verbraucht werden, lassen nicht erkennen, welche
unendliche Summen von Leiden, Elend und Menschenleben darin
krystallisiert glänzen. Besonders in Zeiten geschäftlicher
Depression, wenn die Glasarbeiter nicht das nötigste zum Leben
verdienen, wie es gerade in meiner frühen Kindheit der Fall war,
wirkt die Schwindsucht entsetzlich.[054:149] Mein Vater, an dem ich trotz seiner übergroßen
Strenge mit zärtlicher Liebe hing, war ein unermüdlich fleißiger und
freisinniger Mann, welcher damals nicht im Stande war, genug zum
Lebensunterhalt der Familie zu verdienen. Sowohl die kranke Mutter,
wie ich im Alter von 6 Jahren, mußten vom frühen Morgen bis in die
späte Nacht arbeiten, um einige Kreuzer dazu zu verdienen. Später,
als die Mutter schon gestorben, und ich ungefähr 10 Jahre alt war,
hoben sich die Geschäfte, mein Vater machte sich selbständig,
schaffte von 4 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, und ich mußte
desgleichen tun. Nach vollendetem 11. Lebensjahr wurde ich trotz
allen Sträubens aus der Schule genommen, um die verschiedenen Zweige
des Geschäfts zu erlernen. Meine Lern- und Wißbegierde war so groß,
daß ich so etwas wie
»Schuleschwänzen«
gar nicht
kannte; und ich erinnere mich, daß ich wiederholt in mit Lumpen
zusammengehaltenen Schuhen im tiefsten Schnee noch zur Schule ging,
um ja keine Stunde zu versäumen; und es war das schrecklichste Leid
für mich, wenn ich einmal aus einem triftigen Grunde nicht zur
Schule durfte. So kam es auch, daß ich mit 11 Jahren meinen
Altersgenossen voraus und in der damals noch dreiklassigen
Dorfschule kaum noch viel zulernen konnte. Aber ich wollte auf die
höhere Schule, am liebsten
»studieren«
, wovon
mein Vater jedoch nichts wissen wollte. Seine Meinung war, ich
sollte vor allen Dingen arbeiten lernen, ein tüchtiger Arbeiter
werden, nebenbei könne ich – wenn ich fleißig sei – noch
Privatunterricht nehmen, um meine Schulkenntnisse zu erweitern,
dabei blieb es. Gleich meinem Vater arbeitete ich im Sommer von 4
Uhr, im Winter von 5 Uhr morgens bis 8 und 9 Uhr abends, soweit es
meine noch kindlichen Kräfte erlaubten; und durfte wöchentlich
zweimal abends und Sonntags einen Privatlehrer besuchen, der mich in
die Geheimnisse der Mathematik, Buchführung, Korrespondenz usw.
einweihen sollte
(zit. nach Emmerich 1974)
.
[054:150] Auch in dieser Darstellung – obwohl autobiographisch und mithin
aus der Perspektive eines beteiligten Familienmitgliedes verfaßt – kommen
die Deutungsmuster der primären subjektiven Erfahrung nur gebrochen zum Vorschein; oder
vielleicht genauer: sie scheinen in kollektiven Deutungsmustern aufgehoben
|a 128|zu sein und werden allenfalls durch diese
hindurch sichtbar. Eine solche Behauptung ist jedoch eine Hypothese, die
auch in diesem Fall angesichts der Quellenlage (wir verfügen eben nur über
den gerade zitierten autobiographischen Bericht) nicht überprüft werden
kann. Wir werden noch sehen, ob die verwendeten Sprachformen uns vielleicht
mit Hinweisen versorgen können. Indessen: Eine Dimensionierung der
familialen Lebenswelt, der eigenen Erfahrungen des Autors von dieser
Lebenswelt, ist auch in diesem Text deutlich erkennbar. Wir versuchen
wiederum, diese Dimensionen zu ermitteln:
1.
[054:151] Der Autor beginnt scheinbar mit einer individuellen
Erinnerung; aber schon, was von den
»Erinnerungen«
ausgesagt wird (
»traurige Bilder des
Proletarierelends«
) und noch deutlicher die Generalisierung
auf die
»moderne
Gesellschaft«
hin zeigt, daß Individuelles hier nur
beispielhaft genommen werden soll, als das Besondere, an dem Allgemeines
sich zeigt. Der Bezug zur Sozialwelt wird hier
nicht über einen kulturellen Status (
»beliebt«
) hergestellt, sondern über die
ökonomische Situation.
2.
[054:152] Mit diesen Hinweisen auf den ökonomischen Aspekt wird
sogleich die zweite mögliche materielle Dimension verknüpft: der Körper
in den Seinsweisen von Krankheit und Tod. Diese biologische Dimension, da sie als der frühe Tod der Mutter
angesprochen wird, erscheint als wesentliche Bedingung der familialen
Wirklichkeit, nicht nur als Ereignis unter anderen, sondern als
elementar im genauen Sinne des Wortes: Der Autor spricht seine Erfahrung
aus, daß Gesundheit und Krankheit Alternativen sind, mit denen die
Familie täglich konfrontiert wird und die unmittelbar ihren Bestand,
ihre Überlebenschance betreffen.
3.
[054:153] Überleben ist aber eindeutig an Arbeit gebunden. Mehr noch: Die biologische Dimension ist für
den Autor bedeutsam vor allem im Hinblick darauf, daß sie unmittelbar
die eigene Arbeitskraft bestimmt bzw. daß Krankheit den physischen
Verschleiß durch die Arbeit anzeigt: diese Dimension erscheint im Text
als
»die Glasindustrie«
, die
»ihre Opfer«
fordert: als ein allgemeines
Subjekt also, dem
»neun Zehntel
der Bevölkerung«
schutzlos ausgeliefert sind. Das Bild, das
der Autor verwendet, um die Stellung dieser Dimension in seinem
Lebenszusammenhang zu umschreiben, macht das Deutungsmuster ganz klar,
mit dem er auf die Sache hinsieht:
»Die Produkte … lassen nicht erkennen, welche unendliche Summen von
Leiden … darin krystallisiert glänzen.«
Mit außerordentlicher
Anschaulichkeit wird hier die große Distanz zwischen dem vom Elend
bedrohten
»Proletarier«
und seinem Arbeitsprodukt, das in diesem Fall als Luxus-Gegenstand, als
»Aufputz«
zum Tausch
und Gebrauch hergestellt wird, zur Darstellung gebracht. (Was in
wissenschaftlichen Theorien
»Arbeitskraft als Ware«
,
»Entfremdung«
,
»Herrschende
Klasse«
bezeichnet wird, scheint hier in Form symbolisch
dargestellter sinnlicher Erfahrung auf.)
4.
[054:154] Vor dem Hintergrund dieser als fundamental erlebten
Dimensionen werden nun erst die ins familiale Detail gehenden Probleme
angesprochen. Die Mutter tritt – womöglich ihres frühen Todes wegen –
stark zurück. Die Dimension der Erwachsenen-Kind-Beziehung wird nur im Hinblick auf den Vater
entfaltet, den der Autor gleichsam im Schnittpunkt zweier
Funktionskreise oder Subsyste|a 129|me darstellt: als
dominierenden Garant der Stabilität der Familienstruktur (
»übergroße Strenge«
) und als
Orientierungspunkt der Sympathie-Beziehungen, der emotionalen
Bedürfnisse (
»an dem ich … mit
zärtlicher Liebe hing«
).
5.
[054:155] Diese Erfahrung von Ambivalenz in den Dimensionen der
familialen Situation spricht sich auch im Hinblick auf Lernen und Bildung aus. Die starken, über die
eigene soziale Situation hinausdrängenden Motive des Wissenserwerbs
(
»… im tiefsten Schnee noch
zur Schule ging, um ja keine Stunde zu versäumen«
) werden
gebremst durch die im Vater verkörperte Nötigung,
»die verschiedenen Zweige des
Geschäfts zu erlernen«
und der Familie die produktive
Funktion zurück- und damit die Freiheit von Lohnarbeit (scheinbar)
wiederzugewinnen. Wie groß der damit verbundene Konflikt und wie wichtig
dem Autor deshalb diese Problemdimension ist, zeigt sich schon an dem
relativ breiten Raum, den sie in der Darstellung einnimmt, und der
verschachtelten Art, in der die Aussagen über seine
»Wißbegierde«
und den
entgegenstehenden Arbeitszwang sich aneinanderreihen.
6.
[054:156] Mit der
»Lern- und
Wißbegierde«
aber ist noch eine weitere Dimension verknüpft:
die kulturell-normative Orientierung.
»Studieren«
zu wollen, bedeutet sozialen Aufstieg,
bedeutet den Wechsel in eine andere Lebenswelt, bedeutet das Anstreben
von als fremd empfundenen kulturellen Werten. Davon wollte
»mein Vater jedoch nichts
wissen«
.
»Arbeiten
lernen, ein tüchtiger Arbeiter werden«
ist hier die
zusammenfassende Formel für
diejenigen Normen, an deren Geltung kein Zweifel besteht. Die
»emanzipatorischen«
Motive des Sohnes werden zwar
nicht vollends verdrängt, können aber nur am Rande,
»nebenbei«
verwirklicht werden.
[054:157] Die Unterschiede zu den
»Bütows«
springen in
die Augen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die unterschiedlichen Inhalte
– soziale Lage, historische Situation, kulturelle Werte, Arbeitsinhalte usw.
–, sondern vor allem auch im Hinblick auf die Form, in der die familiale
Lebenswelt erfaßt wird. Die Kategorien – so können wir auch sagen –, in
denen die Familie als Lebensraum begrifflich erfaßt wird, weichen
voneinander ab, besonders aber auch die gleichsam geheime Systematik, die
verborgene Theorie der Autoren dieser Berichte. Ehe wir versuchen wollen,
aus dem Vergleich beider einigen theoretischen Gewinn zu ziehen, soll jedoch
vorerst auch der Bericht des Josef
Peukert in einer schematischen Skizze zusammengefaßt werden(vgl. das Schema auf S.
130):
[054:158] Einige Unterschiede zwischen den hier
in Dimensionen ausgedrückten Gesamt-Deutungsmustern zwischen den
»Bütows«
und den
»Peukerts«
fallen
vornehmlich auf:
–
[054:159] Die Dimensionen, in denen die proletarische Familie
beschrieben wird, sind stärker ursächlich (im Schema durch Pfeile
angedeutet) miteinander verknüpft. Arbeit und Gesundheit werden
nachdrücklich als die entscheidenden Determinanten erlebt, und zwar
nicht nur für den familialen Einzelfall, sondern für das proletarische
Schicksal überhaupt.
–
[054:160] Bei den Glasmachern werden die Dimensionen Arbeit,
Wertorientierung und Lernperspektive in ein Kontinuum gebracht. Für die
Bütows erscheint solche |a 130| Lernperspektive, jedenfalls auf Wissen und Bildung bezogen, weniger bedeutsam,
eher als ein kultureller Besitz, der nur im Kontext von
Wertorientierungen und Sozialwelt interpretiert wird.
–
[054:161] Die kommunikativen Beziehungen innerhalb der Familie der
Bütows werden als ein System von undiskutierbaren Regeln gedeutet; ihr
repressiver Charakter besteht, von ihrem Inhalt abgesehen, auch darin,
daß ihre Genese den Familienmitgliedern verborgen bleibt; sie sind nur
noch Ausdruck von Einstellungen. Die kommunikativen Beziehungen der
Peukert-Familie dagegen sind zwar auch in Regeln gefaßt, in ihrem
konkreten Zweck und ihrer Herkunft nach erscheinen sie für die
Familienmitglieder (den Autor) aber begründet und also auch verstehbar,
vor allem in den beiden Komponenten der materiellen Sicherung und der
sozial-affektiven Bindung.
–
[054:162] Im ersten Text war die Rede von
»den
Bütows«
und damit von einer genealogischen Identität. Im zweiten
Text ist die Rede von
»Proletariern«
und damit von
einer in der Gleichzeitigkeit lokalisierten Gruppen- bzw.
Klassen-Identität.
Literatur
[A07:1] Emmerich, W.: Proletarische
Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten
Kultur in Deutschland. Bd. 1: Anfänge bis 1914. Reinbek
1974.
[A07:2] Lüschen, G./Lupri, E. (Hrsg.):
Soziologie der Familie. Opladen 1970.