Erziehung [Textfassung a]
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Erziehung

[052:1] 1. Eine eindeutige Wortbedeutung des Ausdruckes E. zu ermitteln fällt schwer. Das hat seinen Grund darin, daß der Ausdruck einerseits nach wie vor umgangssprachlich mit einer Fülle von Konnotationen (Nebenbedeutungen) verwandt wird, die mit der gesellschaftlichen und historischen Lage des Sprechers variieren, andererseits in wissenschaftlichen Zusammenhängen Verwendung findet, im Wort
»E.wissenschaft«
sogar an exponierter Stelle. Der naive Umgang mit dem Ausdruck E. wurde aber nicht nur dadurch problematisch, daß die entsprechende Wissenschaft auf eindeutige und definierte Begriffe angewiesen ist, sondern auch aus Gründen, die mit der historischen Veränderung des Blicks auf die erzieherischen Ereignisse zusammenhängen: Die alltagssprachliche Wortbedeutung – Englisch entspricht ihr
»to bring up«
, französisch
»élever«
vermutlich am ehesten – thematisiert ausschließlich die Aktivität des Erwachsenen; demgegenüber brachte die an die bürgerliche →Emanzipation anschließende Bildungstheorie (Humboldt, Fichte, Schleiermacher) nachdrücklich die Aktivität des Heranwachsenden ins Spiel, was im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts zu der häufig verwendeten Formel
»E. und Bildung«
führte. Damit einher ging eine veränderte Deutung des Verhältnisses von E. und Gesellschaft; der E.prozeß kann nun gedacht werden nicht nur als der gesellschaftlichen Entwicklung nachfolgend, als Tüchtigmachen für eine bestehende historische Situation, sondern auch als vorgreifend, als Tüchtigmachen für gesellschaftliche Veränderungen. Auch ge|a 311|genwärtig noch hat es den Anschein, als hebe der Ausdruck E. vornehmlich den ersten, der Ausdruck Bildung den zweiten Aspekt der Sache hervor.
[052:2] 2. E. als Interaktion. Der E.- und Bildungsprozeß stellt sich uns allemal dar als ein Interaktionsvorgang, der den Rahmen für das, was gelernt wird, definiert ebenso wie die Art und Weise, in der gelernt wird. Jede pädagogische →Interaktion hat also einen Inhalt- und einen Form-Aspekt. Sie ist ferner als ein Wechselverhältnis zu denken, in dem nicht nur der Erwachsene auf das →Kind, den →Jugendlichen einwirkt, sondern Art und Inhalt der Einwirkung ihrerseits mehr oder weniger bestimmt werden durch die Reaktionen des Kindes oder Jugendlichen. Diese zirkelförmige Struktur des Interaktions-Geschehens ist im Grunde schon im Handeln jedes einzelnen Interaktionspartners enthalten: A äußert sich B gegenüber in einer Art, die bereits Vermutungen darüber enthält, wie B antworten wird, und darüber, welche Reaktionen B wiederum von A erwartet (G. H. Mead). In solchen Perspektiven und Meta-Perspektiven (Laing) entfaltet sich das Beziehungssystem der E., gleichviel, ob es sich um →Familie, Unterricht, um Beratungssituationen (→Beratung) oder andere Konstellationen handelt. Dabei können wir für die innere Struktur des E.geschehens mindestens drei Dimensionen unterstellen: In jedem E.akt werden soziale Beziehungen aufgenommen und in bestimmter Weise definiert; es werden ferner Objekte und Sachverhalte (z. B. in der Form von Spielsachen, Werkzeugen, anderen Gegenständen, Problemstellungen usw.) präsentiert, die kulturell bedeutsam sind; schließlich hat das E.geschehen eine zeitliche Struktur, ein besonderes Verhältnis zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zu offenen und unterdrückten Hoffnungen, zu den
»projektiven Gehalten«
des Le|312|bens in der Form von Utopien oder Ideologien (Dreitzel ).
[052:3] 3. E. und Herrschaft. Der pädagogische Interaktionsprozeß vollzieht sich – und das macht seine prinzipielle Problemstruktur aus – unter der Bedingung von Herrschaft. Es scheint sinnvoll zu sein, dies als einen universalen Sachverhalt anzunehmen, der durch die prinzipielle Unaufhebbarkeit des Gefälles zwischen Erwachsenem und Kind bestimmt wird und der seine Basis in den Bedingungen der Leiblichkeit hat: Eltern, Lehrer, Erzieher, Berater usw. sind – im Vergleich zum Kind – nicht nur die
»Großen«
; sie sind, was in diesem Ausdruck enthalten ist, auch die, deren organische Reifung abgeschlossen und auf die das Kind bei der Entwicklung und dem Erwerb seiner kulturadäquaten Leistungsfähigkeit ausweglos angewiesen ist. Das gilt in doppeltem Sinne: Das Kind kann die kulturspezifischen Einstellungen, Fertigkeiten und Vorstellungen nur unter der Voraussetzung einer solchen Vorgabe durch den Erwachsenen erlernen – und es kann, seiner psycho-physischen Unterlegenheit wegen, der Nötigung solcher Vorgabe nicht entfliehen. Für Gesellschaften, die keinen Begriff von der Möglichkeit ihrer Änderbarkeit haben und die deshalb diese Herrschaftsbeziehung im Sinne einer starren →Autorität interpretieren, ist dieser Sachverhalt nicht problematisch; mit dem E.denken der Aufklärung und der idealistischen Bildungstheorie aber wurde er es und ist es bis heute geblieben, so daß wir ihn als den Grundwiderspruch des E.geschehens bezeichnen können: Unter der Bedingung eines Herrschaftsverhältnisses soll ein E.prozeß möglich gemacht werden, der ein Maximum an Selbständigkeit, und das heißt auch und gerade ein Maximum an kritischer Reflexion und daraus resultierendem Handeln gegenüber der gesellschaftlich-historischen Situation zum Ergeb|a 313|nis hat. Schleiermacher hat dies als eine allgemeine Maxime formuliert: Der E.vorgang, der am Anfang durch ein Maximum an Unselbständigkeit und →Abhängigkeit des Kindes bestimmt werden muß, müsse an seinem Ende ein Maximum an Selbständigkeit, an Autonomie hervorgebracht haben. Seitdem kann die Einsicht in die Leibgebundenheit jener Herrschaftsvorgabe vor schlechtutopischen
»laisser-faire«
-Konzeptionen bewahren, das Postulat des kritischen, an der gesellschaftlich-kulturellen Veränderung aktiv beteiligten Bürgers vor der Meinung schützen, die pädagogische Herrschaftsbeziehung sei, weil leibgebunden, für die ganze Dauer des Prozesses ein unveränderliches Datum. Da der Blick auf das Ende des Prozesses, auf jene Maximierung von Selbständigkeit, mit den ersten Regungen des Kindes beginnen muß, wenn jenes Postulat glaubwürdig sein soll, müssen auch alle Schritte und Probleme des Vorgangs in die herrschaftskritische und pädagogische Reflexion des Erziehenden einbezogen werden: das Problem der Stillzeiten für den →Säugling, das Reinlichkeitstraining, die Spielanregungen, die Anreize für das kognitive →Lernen, die Beziehung zur Vorschule und →Schule, die Rollenaufteilungen (→Rolle) in der →Familie, die Techniken der Verhaltenskontrolle, die Sexualerziehung usw. Der pädagogische Interaktionsprozeß ist also alles andere als seiner Natur nach symmetrisch. Die erwähnte zirkelförmige Struktur beinhaltet nicht, daß die – allerdings notwendig gegebene – Reziprozität der Beziehungen so geartet ist, daß die Partner gleiche Chancen haben, ihre Impulse und Intentionen zu verwirklichen: Die asymmetrische Struktur der pädagogischen Interaktion ist allemal das Gegebene; die Herstellung einer symmetrischen Interaktion ist das Aufgegebene.
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[052:4] 4. Gesellschaftliche Bedingungen von E. Diese teils mikro-soziale, teils normative Betrachtung von E. muß ergänzt werden durch ihre Lokalisierung im je bestimmten historischen und gesellschaftlichen Kontext. Dabei bedeutet
»Ergänzen«
nicht etwa nur
»Hinzufügen«
. Was E. ist, zeigt sich in der Geschichte und nicht außerhalb ihrer. Behauptungen wie die vorangegangenen sind deshalb auch nur über eine Analyse geschichtlicher Formen der E. und ihren Vergleich zu gewinnen. Was E. heute ist, ist deshalb nicht mit dem Hinweis auf ihre Interaktionsstruktur zureichend zu beantworten; vielmehr sind Begriffe wie Interaktion, Beziehung, Herrschaft usw. dazu entwickelt, die besondere geschichtliche Gestalt der E. im Vergleich überhaupt beschreiben und analysieren zu können. Was das für die Gegenwart bedeutet, läßt sich in drei Hypothesen – freilich vereinfachend und dabei viele Details außer acht lassend – formulieren: Im E.handeln der Gegenwart finden wir erstens, mehr oder weniger ausgeprägt, die Spuren der Tatsache, daß wir uns in einer kapitalistisch-bürgerlichen Industriegesellschaft befinden; die durch Industrialisierung erzwungene hohe Arbeitsteilung überformt, am deutlichsten sichtbar in der Trennung von Kopf- und Handarbeit, das E.geschehen zunächst im Hinblick auf die Zielvorstellungen (Leistung, Eigentum, Individualität, Bildungsabschlüsse usw.), dann aber auch im Hinblick auf die pädagogischen Verkehrsformen, die Struktur der Interaktion. Zweitens – und das zeigt sich besonders an der Interaktionsform – bringt das System gesellschaftlicher Arbeitsteilung eine nur schwer zu korrigierende Ungleichheit der Chancen für die individuellen E.- und Bildungsprozesse hervor, die zum guten Teil der Tatsache zuzurechnen ist, daß die unterschiedliche, durch die Stellung der Familien im System |a | 315|der Arbeitsteilung definierte soziale Lage auch unterschiedliche pädagogische Umfangsformen zur Folge hat; in einer abkürzenden Formel gesprochen: E. ist selbst ein schichtspezifisches Problem und Phänomen (→Schichtung). Drittens wird das ganze E.feld durch die Tatsache strukturiert, daß die →Familie – seit sie begann, einzelne E.funktionen an den Staat zu verlieren – zunehmend stärker unter den Druck öffentlicher E.einrichtungen gerät (→Schule, Berufsausbildung, →Jugendamt), so daß bis in den privaten E.bereich der Familie hinein die geltende Herrschaftsstruktur sich auswirken kann. Durch E. wird deshalb nicht nur Gesellschaft überhaupt in ihrem Nachwuchs regeneriert und reproduziert, sondern ebenso nach Maßgabe der geltenden Arbeitsteilung selektiert und für Tüchtigkeit in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen qualifiziert. Das geschieht tendenziell selbst dort, wo scheinbar nur individuell unterstützt wird: in der Familie, in der →Beratung, in der Therapie.
[052:5] 5. E. zur Selbständigkeit. Diese Abhängigkeit der E. von der historisch bestimmten Gesellschaftsformation macht es nötig – wenn der erwähnte Anspruch auf das Ziel der Selbständigkeit des Individuums (Autonomie) aufrechterhalten werden soll –, das E.geschehen nach zwei Seiten hin der Kritik zu unterziehen (das ist in den letzten Jahren vor allem unter dem Namen der →Emanzipation geschehen). Einerseits muß gefragt werden, wie die Gestalt der E. aussehen soll bzw. wie sie nicht beschaffen sein darf, wenn die Formung der inneren Natur des Menschen jenes Maximum an Selbständigkeit, und das heißt an unbeschädigter →Identität, →Emotionalität, →Rationalität und Solidaritätsfähigkeit zum Ergebnis haben soll; diese Richtung der Kritik zielt auf die Form und den Inhalt der pädagogischen Interaktion |316|und betrifft die individuelle Komponente der Emanzipation. Andererseits verfügen die am E.geschehen beteiligten Personen unmittelbar immer nur über einen Teil dieses Geschehens; die in der Auseinandersetzung mit der
»äußeren Natur«
entstandenen gesellschaftlichen Bedingungen (die sozioökonomische Lage einer Familie, die institutionellen Regeln einer Bildungseinrichtung, die realen Berufschancen auf dem Arbeitsmarkt usw.) lassen Veränderungen in der pädagogischen Interaktion häufig nur innerhalb gewisser Grenzen, lassen Wirkungen solcher Veränderungen häufig nur kurzzeitig zu; E.kritik muß deshalb immer auch Kritik der gesellschaftspolitischen Voraussetzungen der E. sein, der Wirkungen also, die von gesellschaftlich-kollektiven Zuständen auf die E. ausgehen, und der Funktion, die E. im Zusammenhang solcher Zustände ausübt, um ein auch dauerhaft verbessertes und verbesserndes E.handeln eher kalkulierbar zu machen; dies betrifft die kollektiv-geschichtliche Komponente von Emanzipation. Die E.wissenschaft kann für diese Zwecke nur die Methoden der Reflexion, die Theorien und die mit ihrer Hilfe erworbenen Kenntnisse für das Handeln bereitstellen.
[052:6] Brezinka, W.: Über E.begriffe – eine kritische Analyse und ein Explikationsvorschlag, in: Zeitschrift für Pädagogik, 1971, S. 567–615Brumlik, M.: Der symbolische Interaktionismus und seine pädagogische Bedeutung, 1973Giesecke, H.: Einführung in die Pädagogik, 1969Goslin, D. A. (Hg.): Handbook of Socialization Theory and Research, Chicago 1971²Klafki, W. u. a.: Funk-Kolleg E.wissenschaft. Eine Einführung in 3 Bänden, 1970f.Laing, R. D./Phillipson, H./Lee, A. R.: Interpersonelle Wahrnehmung, 1971Mead, G. H.: Geist, Identität, Gesellschaft, 1968Mollenhauer, K.: Theorien zum E.prozeß, 1972Schleiermacher, F. D.: Pädagogische Schriften, unter Mitwirkung von Th. Schulze hg. von E. Weniger, 1957.