Die Thesen machen keinen Mut [Textfassung a]
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Die Thesen machen keinen Mut

[060:1] In der Tat sind jene neun Thesen (der Konservativen – p.e) ein bemerkenswertes Dokument – nicht nur der Auffassung wegen, die dort vertreten werden, sondern auch des agitatorisch-demagogischen Gestus wegen, mit dem sie vorgetragen werden. Ich empfinde sie als skandalös, besonders da es sich bei den Verfassern zum überwiegenden Teil um Personen handelt, von denen ich erwartet hätte, daß sie wenigstens noch über eine Erinnerung an das verfügen, was einmal
Gelehrtenrepublik
hieß, und denen die Wissenschaft nicht nur eine Einkommensquelle oder Prestigeobjekt, sondern eine
Profession
ist: Instanz einer argumentierenden Rede.

Irrtümer
?

[060:2] Die Thesen gehen mit Tatsachen-Behauptungen teils auf eine überraschende, wenngleich rhetorisch geschickte Weise um. Als
Irrtum
wird beispielsweise behauptet, was – wenn ich recht sehe – von Pädagogen kaum nennenswert vertreten wurde. Ich erinnere mich nicht, irgend wo – von vereinzelten ideologischen Splittern vielleicht abgesehen – den Unsinn gelesen zu haben, daß die
Mündigkeit, zu der die Schule erziehen soll, ... im Ideal einer Zukunftsgesellschaft vollkommener Befreiung aus allen herkunftsbedingten Lebensverhältnissen
läge – außer eben in jenen Thesen. Nachdem derart anonyme
Irrtümer
konstatiert werden, folgt dann in jener These – so die rhetorische Regel, die die Verfasser befolgen die Verkündung der
Wahrheit
: Die Schule könne (These 1) nur eine
Mündigkeit
fördern, die nichts anderes meint, als daß der Schüler schließlich – am Ende der Schulzeit doch wohl? –
der Autorität des Lehrers entwachsen ist
.

Genauigkeit?

[060:3] Die Thesen gehen mit Fragen der praktischen Vernunft in einer zumindest doch be|a 15|fremdlichen Weise um: Es werden dort pädagogisch-ethische Entscheidungen der Verfasser mitgeteilt, aber nicht so, daß dieser ihr ethischer Charakter deutlich würde; vielmehr so, als handele es sich um Tatsachen, die der Dumme nicht einsehen könne. Es ist gewiß der Rede wert, ob die seit der Aufklärung uns überlieferten
Güter
– Mündigkeit, Kritikfähigkeit, Gleichheit – in Geltung sein sollen oder nicht. Auch ist der Rede wert, was denn heute diese Begriffe bedeuten sollten. Schließlich – und das interessiert vor allem den Pädagogen – sollten wir in der Tat sorgfältig erwägen, ob und inwiefern solche Leitvorstellungen für den Erziehungsprozeß Gültigkeit beanspruchen können.
[060:4] Was Sorgfalt in dieser Frage bedeutet, hätten die Autoren in Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung von 1826 studieren können. Oder ist ihnen bereits dieser Autor zu liberal, zu republikanisch? Stattdessen ist von empirischer Unmöglichkeit (
Irrtum
) die Rede, wo es zunächst um nichts anderes geht als um erwünschte Ziele. Von akademisch gebildeten Diskussionspartnern sollte man, auch und gerade, wenn sie mit Engagement politische Ziele verfolgen, mehr Genauigkeit erwarten dürfen.

Welche Wirkung?

[060:5] Welches Publikum wünschen sich eigentlich die Verfasser der Thesen, welche Wirkung wünschen sie sich? Wie möchten sie, daß ihre Meinung aufgenommen wird? Sie malen ein Bild von
Irrtümern
, die bei dem vielleicht weniger informierten Leser – den informierten Lesern sind die Behauptungen ohnehin kaum zuzumuten – offenbar Assoziationen erzeugen sollen mit allem, was im letzten Jahrzehnt in irgendeiner Weise im Rahmen des Interesses an Erziehungs- und Bildungsreform zu Sprache kam. Das betrifft einen entscheidenden Teil der praktisch tätigen Pädagogen, es betrifft gewiß den größten Teil der Lehrer an Grund und Hauptschulen und der Erzieher, die im Bereich der Jugendhilfe arbeiten.
[060:6] Die Absicht der Verfasser scheint zu sein – wenn es denn erlaubt ist, aus der Rhetorik der Thesen so zu schlußfolgern – die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht etwa auf kritikwürdige Zustände unseres Erziehungswesens zu lenken; vielmehr sollen offenbar, wenngleich mit Hilfe un- oder wenigstens halbwahrer Behauptungen, diejenigen Pädagogen diffamiert werden, die aus solchen Zuständen einen Ausweg suchen, die darüber nachdenken, wie eine bessere, vernunftgemäße Erziehung beschaffen sein sollte.
[060:7] Die Thesen – so vermute ich – machen keinen Mut, sondern verstärken regressive Tendenzen, die allemal dann wahrscheinlich werden, wenn die Anstrengungen, die eine offene Zukunft erfordert, gescheut werden. Mut ist erforderlich, wenn Risiken eingegangen werden müssen. Das politische Klima der Bundesrepublik Deutschland ist gewiß nicht so, daß derjenige Mut nötig hätte, der den Thesen zu folgen bereit ist.
[060:8] Mut brauchen indessen schon wieder solche Eltern, Lehrer, Erzieher, die sich dem Trend zur Rücknahme des Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesses widersetzen mögen – und sei es nur in dem freimütigen Versuch, auf Elternversammlungen und in Lehrerkollegien, in Behörden und Verbänden, die Grundwerte der bürgerlichen Demokratie hartnäckig ins Spiel zu bringen und ihre pädagogische Bedeutsamkeit auszuloten.