Welche Wirkung?
[060:5] Welches Publikum wünschen sich eigentlich die Verfasser der Thesen,
welche Wirkung wünschen sie sich? Wie möchten sie, daß ihre Meinung
aufgenommen wird? Sie malen ein Bild von
„Irrtümern“
, die
bei dem vielleicht weniger informierten Leser – den informierten Lesern sind
die Behauptungen ohnehin kaum zuzumuten – offenbar Assoziationen erzeugen
sollen mit allem, was im letzten Jahrzehnt in irgendeiner Weise im Rahmen
des Interesses an Erziehungs- und Bildungsreform zu Sprache kam. Das
betrifft einen entscheidenden Teil der praktisch tätigen Pädagogen, es
betrifft gewiß den größten Teil der Lehrer an Grund und Hauptschulen und der Erzieher, die im Bereich der Jugendhilfe
arbeiten.
[060:6] Die Absicht der Verfasser scheint zu sein – wenn es denn erlaubt
ist, aus der Rhetorik der Thesen so zu schlußfolgern – die Aufmerksamkeit
der Öffentlichkeit nicht etwa auf kritikwürdige Zustände unseres
Erziehungswesens zu lenken; vielmehr sollen offenbar, wenngleich mit Hilfe
un- oder wenigstens halbwahrer Behauptungen, diejenigen Pädagogen diffamiert
werden, die aus solchen Zuständen einen Ausweg suchen, die darüber
nachdenken, wie eine bessere, vernunftgemäße
Erziehung beschaffen sein sollte.
[060:7] Die Thesen – so vermute ich – machen keinen Mut, sondern verstärken
regressive Tendenzen, die allemal dann wahrscheinlich werden, wenn die
Anstrengungen, die eine offene Zukunft erfordert, gescheut werden. Mut ist
erforderlich, wenn Risiken eingegangen werden müssen. Das politische Klima
der Bundesrepublik Deutschland ist gewiß nicht so, daß derjenige Mut nötig
hätte, der den Thesen zu folgen bereit ist.
[060:8] Mut brauchen indessen schon wieder solche Eltern, Lehrer, Erzieher,
die sich dem Trend zur Rücknahme des Liberalisierungs- und
Demokratisierungsprozesses widersetzen mögen – und sei es nur in dem
freimütigen Versuch, auf Elternversammlungen und in Lehrerkollegien, in
Behörden und Verbänden, die Grundwerte der bürgerlichen Demokratie
hartnäckig ins Spiel zu bringen und ihre pädagogische Bedeutsamkeit
auszuloten.