Einige Gründe für die Wiederaufnahme ethischer Argumentation in der Pädagogik [Textfassung a]
|a 79|

Einige Gründe für die Wiederaufnahme ethischer Argumentation in der Pädagogik

I.

[058:1] Daß die Pädagogik eine Handlungswissenschaft sei oder sein solle – diese Behauptung trifft heute kaum noch auf Widerspruch; aber ist diese Behauptung wirklich derart klar entfaltet, daß sich aus ihr eine Gemeinsamkeit von Erkenntnisbemühungen folgern ließe? Es gibt Gründe, daran zu zweifeln. Die handlungstheoretischen Voraussetzungen oder Annahmen, die nicht nur das Handeln des Erziehers, sondern auch sein Nachdenken (Forschen) über dieses Handeln leiten, werden selten expliziert (eine Folge dieses Defizits ist es, daß – ähnlich wie A. Gehlen es einmal von der modernen Kunst behauptet hat – ein wesentlicher Teil unserer Tätigkeit darin besteht, unsere theoretischen Produkte nachträglich und wechselseitig im Hinblick auf die implizierten Handlungsvorstellungen zu kommentieren)
1Das mag im Fall der Kunst angemessen sein. In die Pädagogik kommt dadurch aber ein eigentümlicher Widerspruch hinein:
Erziehen
bedeutet ja nicht nur, eine bestimmte Lebensweise vorschlagen, sondern – um der Repräsentation für das Kind willen – diese auch in eigener Lebenspraxis durchhalten, wenigstens aber immer aufs Neue zu inszenieren. Das ist der Unterschied zwischen dem Laborexperiment und dem praktischen Experiment des Ernstfalles, welches alles Erziehen notwendigerweise immer ist. Der Pädagoge, so könnte man auch sagen, ist zur Konstruktion genötigt; deshalb scheint uns die von Klafki programmatisch gewählte Bezeichnung
kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft
sehr treffend.
. Die Markierung handlungstheoretischer Aufgaben unserer Wissenschaft erfolgt denn auch zumeist in der Form von Negationen solcher Ansätze, die – man muß hier schon in dieser merkwürdig unbestimmten Art reden – mit den je eigenen Anschauungen dessen, was nötig wäre, unvereinbar zu sein scheinen. Von dieser Art war – wenn wir recht sehen – die Reserve der geisteswissenschaftlichen Pädagogik gegen eine nur noch auf Tatsachenbeobachtung reduzierte empirische Erziehungswissenschaft. Aber auch die kritizistische Variante der Pädagogik hat das Postulat prinzipienorientierter Reflexion gegen Empirie einerseits und hermeneutische Sinnauslegung andererseits lediglich erhoben, nicht aber handlungstheoretisch ausgeführt. Schließlich hat die – im Gefolge der Kritischen Theorie unternommene – Kritik an technologischen oder technokratischen Orientierungen in der Pädagogik zu einer gewissen Skepsis solchen Modellen gegenüber (in der Curriculumtheorie, der Methodenlehre, der Therapie, der Gruppendynamik usw.) geführt, nicht aber zu einer ausgeführten und von der Sache
Erziehung und Bildung
her legitimierten Handlungstheorie. Auch die Programmatik der Handlungsforschung ist, wenn wir uns nicht täuschen, im Hinblick auf eine erziehungswissenschaftliche Begründung auf der Strecke geblieben, so nützlich auch ihre Praxis bisweilen sein mag 2
2Das gilt natürlich nur, sofern mit dem Titel
Handlungsforschung
mehr gemeint ist, als ein komplexes Arrangement von vorhandenen Forschungsmethoden, nämlich ein methodologisch besonderer Forschungstyp.
; und auch die Versuche, die Pädagogik im Rückgriff auf den Symbolischen Interaktionismus und nach Maßgabe einer kritischen Sozialwissenschaft zu |a 80|betreiben, sind im Hinblick auf die Aufgabe, eine pädagogische Handlungstheorie zu entwerfen, noch nicht recht fündig geworden. Die engagierte und zahlreiche Einbeziehung des
Diskurs
-Begriffs in erziehungswissenschaftliche Erörterungen, die seit Habermas’
Vorbereitenden Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz
3
3J. Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: J. Habermas/N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt 1971.
um sich griff, hat das spezifische Defizit unserer Wissenschaft eher bezeichnet (häufig ungewollt) als beseitigt. In dieser Frage stimmen wir D. Benner voll zu:
[058:2]
Die Versuche, Pädagogik als kritische Sozialwissenschaft zu betreiben, abstrahieren mit der Kritischen Theorie weitgehend vom Problem der Begründung einer pädagogischen Handlungswissenschaft, für welche der in der Tradition geprägte Erziehungs- und Bildungsbegriff konstitutiv sein muß, der nicht einfach durch Kommunikations- und Verständigungsbegriffe ersetzt werden kann, welche von der Besonderheit der Erziehungstatsache und der sie konstituierenden pädagogischen Verantwortung gegenüber dem Werden des Menschen zum Menschen abstrahieren
4
4D. Benner: Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft. München ²1978, S. 343 f.
.
[058:3] In dieser Kritik am Zustand unserer Wissenschaft stecken mindestens drei für die Theorieentwicklung wichtige Postulate: (1) Es ist sinnvoll, Pädagogik als Handlungswissenschaft zu begründen und zu betreiben. (2) Also verdient eine handlungstheoretische Begründung besondere Aufmerksamkeit. (3) Da oder insofern wir an einer pädagogischen Handlungstheorie interessiert sind, sollten wir bedenken, was aus der Tatsache (oder der Konvention) folgt, daß dasjenige Handeln, das wir uns zum Gegenstand machen, die Erziehung und Bildung ist.
[058:4] So weit vermögen wir Benner zu folgen. Dann aber stellen sich Einwände ein: Benner nämlich meint, daß – da
die Legitimation von Handlungswissenschaften ... nur bezogen auf spezifische Handlungsdimensionen erfolgen
könne –
zumindest zwischen einer pädagogischen, einer ethischen und einer politischen Handlungswissenschaft unterschieden
werden müsse. Wir möchten das, was Benner hier unterlaufen ist5
5Wenn wir recht sehen, ist dies eine Schwierigkeit, die das ganze Buch durchzieht.
, einmal, wenn auch vielleicht überpointiert, einen
Fehler
nennen: Wir halten es für einen Fehler, die ethische Dimension der Erziehung zunächst von der Pädagogik zu unterscheiden, um dann nachträglich wiederum
deren Verhältnis zueinander [zu] reflektieren
; vielmehr ist – unserer Erfahrung im Erziehungsprozeß nach – das Erziehen selber eine
ethische
Tätigkeit (wenn hier
ethisch
heißen darf: Ziele des interpersonalen Handelns zu wählen und zu begründen). Wohin es führt, wenn das ethische Argumentieren von dem pädagogischen
unterschieden
und also nicht mehr als notwendiger Teil desselben verstanden wird, zeigen die Thesen des Forums
Mut zur Erziehung
. Für eine handlungstheoretische Begründung der Erziehungswissenschaft bedeutet dies, daß mindestens geprüft werden sollte, ob für sie nur ein solcher Handlungsbegriff in Frage kommen darf, der die ethische Argumentation als eine wesentliche Komponente enthält. Was könnte das bedeuten?
[058:5] Benner hat wohl recht, wenn er schreibt:
Die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion hat solche Analysen deshalb eher verunmöglicht als gefördert, weil sie die Kritische Theorie nicht in deren eigener Tradition der praktischen Philosophie, sondern losgelöst von dieser rezipierte
6
6A.a.O., S. 344.
. Um nicht wieder in diesen Fehler zu verfallen, sollten wir versuchen, das pädagogische Handeln nicht nur technologisch als Problem der Wahl geeigneter Mittel und Wege, nicht nur historisch als faktische Folge von sozialen |a 81|Rahmenbedingungen des Handelns, nicht nur ideologiekritisch als in seiner Absicht durch
falsches Bewußtsein
der Möglichkeit nach formiert zu betrachten, sondern auch und vor allem als pädagogisch richtiges Handeln, dessen Richtigkeit erziehungs- und bildungstheoretisch begründet werden kann7
7Uns scheint, daß die Art, in der Wunderlich einen, wenn auch nur skizzierten, Handlungsbegriff in die Linguistik einzuführen versucht, auch für Pädagogen lehrreich ist; vgl. dazu D. Wunderlich: Studien zur Sprechakttheorie. Frankfurt 1976.
. Aber eben dies bedarf der Prüfung. Es wird ja doch in einem solchen Vorschlag unterstellt, daß jene Begründung richtigen pädagogischen Handelns ein integraler Bestandteil der auf jenes Handeln bezogenen Wissenschaft sein müsse und daß mithin das begründende Verfahren selbst wissenschaftlich (rational argumentierend) genannt werden dürfe und nicht etwa sich im Akt einer Richtigkeits-Setzung erschöpfe. Außerdem aber soll für ein solches Verfahren auch die bloße
Kritik
der Richtigkeits-Vorstellungen anderer ausgeschlossen bleiben, etwa so, daß auf deren historisch-ideologische Relativität, auf deren Interessenkontex oder sonstwie ideologische Formierung hingewiesen wird. Die erste Frage ist, ob ein solcher Vorschlag überhaupt prüfenswert ist; die zweite Frage ist, wie eine solche Prüfung vor sich gehen könne; die dritte, ob das Ergebnis der Prüfung für die Pädagogik als Handlungswissenschaft mit Gründen derart fundamental genannt werden darf, wie hier nahegelegt wird.

II.

[058:6] Wir möchten uns vorerst nur mit der Frage befassen, ob der oben gemachte Vorschlag – über die Richtigkeit pädagogischen Handelns nachzudenken, und zwar so, daß dieses Nachdenken ein das Handeln begründendes Argumentieren, also integraler Bestandteil der Erziehungswissenschaft ist8
8Wir folgen darin nicht etwa der Nomenklatur Brezinkas (Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Weinheim ³1975), sondern meinen mit dem Ausdruck
Erziehungswissenschaft
alle rationalen Argumentationen, die im Hinblick auf Erziehung und Bildung akzeptiert werden können.
– überhaupt einer Prüfung wert ist. Die Frage scheint müßig: Worüber sonst denken wir nach als darüber, was als richtiges pädagogisches Handeln ausgezeichnet werden könnte? Allein, die Frage hat offenbar zwei Seiten: Was soll als richtiges Handeln (sowohl seinen Zwecken als auch seinen Mitteln nach) gelten, und was soll als das richtige Reden (Argumentieren) über die Richtigkeit dieses Handelns gelten. Die erfahrungswissenschaftliche Orientierung, die in den letzten zwanzig Jahren zur dominanten Komponente der Pädagogik wurde, hat zwar zu einer gewissen Geschicklichkeit in der Ausarbeitung der Zweck-Mittel-Relationen, zu einem reichen Angebot an Lehr-Lern-Modellen, Lernzieltaxonomien, zu einer Vielzahl methodischer und therapeutischer Vorschläge geführt; demgegenüber aber blieb die Frage nach der Argumentationszugänglichkeit (um hier schon einen Terminus O. Schwemmers aufzugreifen) der Zwecke selbst und derjenigen Vorgänge, die zur Entscheidung für einen Zweck oder zu dessen Vorschlag führen, eher im Hintergrund. Zwar führen manche Veröffentlichungen der letzten Jahre, insbesondere die Arbeiten von D. Benner, W. Schmied-Kowarzik9
9W. Schmied-Kowarzik: Dialektische Pädagogik. München 1974.
, K. H. Schäfer/K. Schaller10
10K. Schaller: Kritische Erziehungswissenschaft und kommunikative Didaktik. Heidelberg ³1976.
, W. Brezinka11
11W. Brezinka: Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Weinheim ³1975.
– um nur einige |a 82|zu nennen – zu dieser Frage hin. Aber gerade an den Arbeiten Brezinkas zeigt sich pointiert, daß der Pädagogik in dieser Problemstellung möglicherweise eine Sackgasse droht, wenn es ihr nicht gelingen sollte oder gar die Anstrengung unterbliebe, ein Verfahren für den argumentativen Umgang mit Norm-Problemen (Entscheidungen für bzw. gegen bestimmte Zwecke) zu finden, das auf allgemeine Zustimmung rechnen kann.
[058:7] Das Verfahren, das Brezinka beispielsweise in seiner
Analyse und Kritik
der
Pädagogik der Neuen Linken
1973 vorschlug12
12W. Brezinka: Die Pädagogik der Neuen Linken. Stuttgart 1973. Da Brezinka seinen Vorschlag nicht revidiert hat, darf man annehmen, daß er ihn aufrecht erhält.
, zwar nicht expressis verbis, aber doch dadurch, daß er es für ein breites Publikum vorführte, hat erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Verfahren mancher seiner Gegner und ist im übrigen fast identisch mit dem Verfahren, das die Autoren des Forums
Mut zur Erziehung
zu bevorzugen scheinen. Dieses Verfahren besteht – wenn wir recht verstanden haben – aus folgenden Verfahrensschritten oder -komponenten: (1) Man versucht, diejenigen Positionen, praktischen Zielentscheidungen auszumachen, die der eigenen nicht entsprechen. (2) Man unterwirft das Reden und Handeln dieser anderen derart der Kritik, daß man es nach Maßgabe der mit den eigenen sittlichen Entscheidungen verbundenen Grundsätzen beurteilt bzw. nach Maßgabe der Schemata, die man im Zusammenhang mit solchen Grundsätzen geltend machen zu können glaubt13
13Vergleiche zum Begriff
Schema
den folgenden Beitrag O. Schwemmers.
. Das zeigt sich beispielsweise darin, daß man – dieses Verfahren gleichsam flankierend – den anderen einerseits solche Intentionen (Zwecksetzungen) unterstellt, die allgemein auf Mißbilligung rechnen können. (3) Andererseits konzentriert man sich auf die empirische Triftigkeit der Behauptungen und legt die Schlußfolgerung nahe: Wenn die empirischen Behauptungen des Gegners sich als unzutreffend erweisen sollten, muß auch die vertretene moralische/ethische Position verwerflich sein.
[058:8] In einem solchen Verfahren wird der Gesprächspartner als – wenigstens der Möglichkeit nach – ethisch argumentierendes Subjekt ignoriert. Es bringt eine Situation hervor, in der das Reden über Handlungen und Handlungsziele den Zweck (das Handlungsziel – wenn wir auch Reden als Handeln auffassen wollen14
14 Vgl. dazu D. Wunderlich: Handlungstheorie und Sprache. In: Wunderlich 1976.
) verfolgt, einen Gegner herzustellen, dem gegenüber man von der Verpflichtung zu ethischer Argumentation frei ist, demgegenüber man mit nicht-argumentativen Mitteln moralische Entscheidungen durchsetzen kann. Dieses Verfahren wird nicht nur von Wissenschaftlern lediglich einer politischen oder methodologischen Position bevorzugt: Der Vorwurf an die Adresse des jeweils anderen, die vorgeschlagenen Bildungsziele seien
verschleierter
(Vorwurf der Unwahrheit) oder
ideologischer
(Vorwurf des Irrtums oder nicht-durchschauter Interessiertheit) Ausdruck eines zu mißbilligenden politischen Handlungsziels; die vorgeschlagenen pädagogischen Handlungen und deren Beschreibungen seien entweder
unwissenschaftlich
, weil nicht
werturteilsfrei
, oder folgten der
bürgerlichen Wissenschaft
, seien deshalb manipulativ oder sonstwie suspekt; die verwendeten Annahmen über die Natur des Menschen und insbesondere des lernenden Menschen seien
utopisch
, aus Glaubenssätzen gefolgert, also eher
Weltanschauung
, oder sie seien
bürgerliche
Hypostase, zur
Natur
stilisierte interessierte Meinungen,
ahistorisch
; Vorwürfe dieser Art, das ist |a 83|uns allen vertraut, werden seit geraumer Zeit hin und her geschoben15
15Dieser Typus von Argumentation samt der meisten der in Anführungszeichen gesetzten Etiketten für die Argumente des jeweils anderen findet sich recht ausgeprägt nicht nur bei Brezinka, sondern auch bei Gamm, den Brezinka sich zum Kronzeugen der von ihm verworfenen
linken
Pädagogik erwählt hat; vgl. vor allem H.-J. Gamm: Das Elend der spätbürgerlichen Pädagogik. München 1972. Außerdem können wir – das sei freimütig zugegeben – Brezinka wenigstens darin folgen, daß er die Vertreter einer
kritischen Erziehungswissenschaft
doch wohl auf einen Mangel in ihrer theoretischen Position aufmerksam gemacht hat; leider nur beseitigt er ihn nicht, sondern treibt es noch ärger!
, und sie sind gewiß prüfenswert, da es sich dabei ja um Behauptungen mit Wahrheitsanspruch handelt. Aber – und das scheint uns das Bedenkliche zu sein: Die ethische Komponente des Erziehungshandelns tritt bei solcher Art der Behandlung erziehungswissenschaftlicher Grundfragen immer weiter zurück, wird unkenntlich, bekommt den Anschein des Überflüssigen, läuft doch die Art, in der die Fragen aufgeworfen werden, darauf hinaus, daß nur noch zwei Attitüden sinnvoll erscheinen: einerseits die erfahrungswissenschaftliche Überprüfung von Geltungsansprüchen im Hinblick auf die Wahrheit von Behauptungen, andererseits der politische Kampf um Durchsetzung von Geltungsansprüchen im Hinblick auf die Richtigkeit des Handelns. – In eben diesem Sinn behauptet Brezinka mit Bezug auf die
Kritische Erziehungswissenschaft
:
[058:9]
Vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt der analytischen Philosophie aus gesehen handelt es sich aber keineswegs um Erziehungswissenschaft, sondern um praktische Pädagogik in gesellschaftskritischer und reformerischer Absicht. Ihr Kennzeichen ist, daß sie durch das praktische Interesse an der Durchsetzung bestimmter Ideale wie
Emanzipation
,
Selbstbestimmung
,
Demokratisierung
,
Recht auf individuelles Glück
usw. bestimmt wird und nicht werturteilsfrei, sondern wertend, normativ und damit parteinehmend aufgebaut ist.
16
16W. Brezinka, S. 22.
[058:10] Wir mögen uns mit dieser Formel nicht zufrieden geben, bedeutet sie doch nichts anderes, als daß die Zwecke (oder Normen oder Prinzipien) der Erziehung einer ethischen Argumentation, die Intersubjektivität und damit Gültigkeit beanspruchen kann, nicht mehr zugänglich sind. Die Frage, wie eine solche (ethisch argumentierende) Tätigkeit benannt wird – ob als
Praktische Pädagogik
,
Moralphilosophie der Erziehung
,
Erziehungswissenschaft
oder anderes – scheint uns weniger vordringlich zu sein als die näherliegende Frage, ob sie nötig und möglich ist.

III.

[058:11] Daß es nötig sei, die Frage nach
richtigen
ethischen Argumentationen aufzuwerfen und – als Bestandteil der Tätigkeit von Pädagogen – nach einer Antwort zu suchen, mindestens aber, daß es nützlich sei, sich durch diese Frage beunruhigen zu lassen, das geben manche Erörterungen der letzten Jahre zu erkennen. Uns scheint folgendes bemerkenswert:
  1. (1)
    [058:12] Die Diskussion zur Bedeutung des Begriffs
    Emanzipation
    für die Erziehung und Bildung und das Unbehagen an seiner unzureichenden pädagogischen Bestimmung hat manche Autoren dazu veranlaßt, beim
    Diskurs
    -Begriff Zuflucht zu suchen17
    17Die von dieser Bemerkung betroffenen Titel zu nennen, würde hier zu weit führen. Exemplarisch wird das Dilemma vielleicht deutlich schon am Anfang jener
    Rezeption
    bei K. Mollenhauer: Theorien zum Erziehungsprozeß, München 1972, und, in methodologisch weiterer Entfaltung, bei H. Moser: Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften. München 1975. Daß Moser allerdings vermutet, daß, wenn M. Foucault von Diskursen redet, er den gleichen Sachverhalt wie Habermas meint, er würde ihn nur verschieden interpretieren, ist denn doch überraschend (Moser, a.a.O., S. 95).
    . Offenbar |a 84|bestand die Hoffnung, daß das Legitimationsproblem, das sich aus der Begründungsbedürftigkeit pädagogischer Handlungsziele ergibt, mit seiner Hilfe lösbar wäre.
  2. (2)
    [058:13] Erstaunlich ist auch die Intensität, mit der in der jüngsten Zeit die Theorie der moralischen Urteilsbildung Piagets, vor allem aber Kohlbergs rezipiert wurde. Die dort formulierten Stadien der Bildung moralischer Urteilskompetenz stellen ja zugleich verschiedene Argumentationen angesichts moralischer Entscheidungen dar. Das
    postkonventionelle
    Stadium ist überdies dadurch ausgezeichnet, daß sein Argumentationsmodus als die gleichsam
    reifste
    Form moralischer Urteilsbildung verstanden werden und dadurch – wenngleich ohne zwingenden Grund – als Norm für das pädagogische Handeln fungieren kann.
  3. (3)
    [058:14] Ferner: Die seit einigen Jahren propagierte
    Handlungsforschung
    macht den praktischen Diskurs, die Verständigung über Handlungsziele mit den
    Betroffenen
    , zu einem wichtigen oder gar entscheidenden Bestandteil des Forschungsprozesses. Wenn dieser Vorschlag nicht so verstanden wird, daß die Forscher Interessen-Homogenität im Handlungsfeld voraussetzen, auch nicht so, daß sie die Handlungsziele der
    Praxis
    argumentationslos übernehmen und ihre eigene Forschungstätigkeit als szientistische Dienstleistung definieren, sondern wenn Handlungsforschung auch für den Fall vorgesehen sein soll, in dem eine Differenz in den Handlungszielen zur Ausgangslage gehört, dann entscheidet sich offenbar die methodologische Dignität dieses Forschungstyps an der Frage, ob es gelingt, zu zeigen, in welchen Argumentationen sich eine solche
    Beratung
    entfalten soll. Die gelegentlichen ex-post-Beschreibungen der Probleme und Konflikte, die in Handlungsforschungsprojekten bisweilen entstehen, verfehlen diese Aufgabe, sofern sie keinen Vorschlag ausarbeiten, wie in derartigen Situationen, die durch praktischen Dissens ausgezeichnet sind, argumentativ verfahren werden kann.
  4. (4)
    [058:15] Schließlich: Neuerdings scheint, wenngleich zögernd18
    18Vgl. u. a. D. Benner, a.a.O., S. 344; K. Mollenhauer/Chr. Rittelmeyer: Methoden der Erziehungswissenschaft. München 1977, S. 101 ff.; H. Moser, a.a.O., S. 85 ff.
    , auch die konstruktivistische Variante praktischer Philosophie19
    19Vgl. dazu die beiden folgenden Beiträge von M. Brumlik und O. Schwemmer.
    die Aufmerksamkeit von Pädagogen auf sich zu ziehen. Sie hat im Vergleich zur Kritischen Theorie den Vorteil, offensichtlicher an die Tradition Praktischer Philosophie anzuschließen, der die Pädagogik ja ursprünglich entstammt. Sie präsentiert außerdem Vorschläge, die näher an dem liegen, was im pädagogischen Handlungsfeld als
    Beratung über Fragen nach Handlungszielen
    stattfinden sollte. Sie hat schließlich selbst eine pädagogisch-didaktische Struktur, da
    Lehrbarkeit
    eines ihrer Leitmotive ist.
[058:16] Beobachtungen dieser Art markieren indessen eher die Aufgabe, die zur Lösung steht, nicht schon ausgearbeitete Vorschläge für diese Lösung. Vielleicht sollte man sogar sagen, daß bisher nicht einmal die Aufgabe hinreichend klar gestellt ist. Zu einer nach Maßgabe der Erziehungs- und Bildungsproblematik klaren Aufgabenstellung müßte nicht nur das Postulat der Argumentationszugänglichkeit von Handlungszwecken (-zielen, -normen), ein explizierter Handlungsbegriff, ein Vorschlag (oder mehrere) für akzeptable Argumentationsmuster zur Begründung des praktischen Wollens vorliegen. Es müßten solche Vorschläge auch aus der Besonderheit des pädagogischen Handelns entwickelt werden. |a 85|Am Schicksal der Behandlung des
Diskurs
-Begriffs (oder seiner Varianten) läßt sich diese Forderung wenigstens plausibel machen20
20Im Hinblick auf diese Problemstellung, nämlich einer Reflexion des pädagogischen Normen-Problems mit Rücksicht auf die besondere Struktur der pädagogischen Interaktion, haben sich die
Diskurs
-theoretischen Arbeiten Habermas’ jüngst stärker dem erziehungswissenschaftlichen Interesse angenähert; vgl. besonders J. Habermas: Universalpragmatische Hinweise auf das System der Ich-Abgrenzungen. In: M. Auwärter/E. Kirsch/M. Schröter (Hrsg.): Seminar Kommunikation, Interaktion, Identität. Frankfurt 1976.
:
[058:17] Der Versuch, die Imperative der Praktischen Philosophie auf Situationen pädagogischen Handelns einfach
anzuwenden
, führt in das Dilemma entweder einer rationalistischen Verkürzung der Erziehungsaufgabe (als sei Erziehen nichts als ein Einüben von Argumentationsfiguren) oder einer immer neu wiederholbaren Defizit-Feststellung (daß nämlich die Form des beobachteten Handelns nicht den unterstellten Imperativen entspricht). Mindestens in zwei Hinsichten ist nämlich das praktische Verhältnis von Educator und Educandus ein besonderes, das auch besonderer ethischer Argumentationen bedarf: Die Macht-Differenz zwischen beiden ist nicht als ein peinlicher Rest zu betrachten, den es lediglich rasch zu eliminieren gilt; sie bringt – und sei es nur in den Formen von Größen- und Kraft-Unterschieden – dieses Verhältnis allererst hervor, und zwar unter jedweder historischer Bedingung. Die Kompetenz-Differenz zwischen beiden ist, ihrer Form nach, nicht identisch mit unterschiedlich verteilten Bereitschaften oder Fähigkeiten zur Beteiligung an praktischen Entscheidungen und Handlungen Erwachsener. Vielmehr ist diese Differenz Bedingung dafür, daß im Kind überhaupt erst solcherart Beteiligungsmöglichkeiten gebildet werden können. Das hat – wenn wir recht sehen – zur Folge, daß die ethische (die Richtigkeit von Handlungszielen und Handlungen betreffende) Frage der Pädagogik sich einerseits darauf beziehen muß, wie Erzieher sich miteinander argumentativ über die von ihnen vorgeschlagenen und/oder vollzogenen Handlungen verständigen sollen. Andererseits bezieht sie sich auf die Selbstreflexion des Erziehers: Angesichts der Tatsache, daß das Kind im Verlauf des Bildungsprozesses erst allmählich die Kompetenz moralischer Beteiligung erwirbt, ist er gehalten, den praktischen Diskurs mit dem Kind auf weiten Strecken als simulierten Diskurs mit sich selbst, als
Selbstgespräch
zu führen. Dies meint der Ausdruck
pädagogische Verantwortung
. Vermutlich war eben auch dies für Schleiermacher der Grund, die pädagogisch-ethische Problematik nicht aus einer allgemeinen Ethik zu deduzieren. Dennoch bleibt die Hilfe der praktischen Philosophie vermutlich unerläßlich.