Anmerkungen zu Heinze/Klusemanns Versuch einer sozialwissenschaftlichen Paraphrasierung am Beispiel des Ausschnittes einer Bildungsgeschichte [Textfassung a]
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Anmerkungen zu Heinze/Klusemanns Versuch einer sozialwissenschaftlichen Paraphrasierung am Beispiel des Ausschnittes einer Bildungsgeschichte

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[V63:1] Die folgenden Anmerkungen zum oben angegebenen Text gliedere ich in zwei Teile: Ich beziehe mich zunächst auf die methodologischen Erörterungen und greife dabei einige mir besonders wichtig erscheinenden Fragen auf, insbesondere solche, deren weitere Präzisierung von Bedeutung zu sein scheint; im zweiten Teil beziehe ich mich auf das interpretierte Protokoll der Frau X. selbst und versuche zu skizzieren, in welchen Hinsichten meine Interpretation andere Akzente setzen würde bzw. mit anderen Kategorien arbeiten würde.
[V63:2] Die in dem gesamten Manuskript zum Vorschein kommenden Probleme sind auch mir vertraut; besonders auch die Schwierigkeit, das Gemeinte methodologisch darzustellen. Meine Anmerkungen heben deshalb eher dasjenige hervor, was mir weiterer Ausarbeitung bedürftig erscheint, ohne daß ich selbst schon angeben könnte, wie eine solche Ausarbeitung auszusehen hätte. Sehr viele Probleme scheinen mir im Detail, besonders auch in der Terminologie, versteckt; ich glaube deshalb, daß es sinnvoll ist, gerade auch Fragen des methodologischen Sprachgebrauchs zu erörtern, so trivial so etwas bisweilen scheinen mag.

1. Zum theoretisch-methodischen Teil des Textes

1.1 Stichworte zur Terminologie

[V63:3] In unsystematischer Reihenfolge weise ich auf einige offene Fragen hin:
[V63:4] Die Unterscheidung von "Alltagstheorie und
wissenschaftlicher Theorie
, gelegentlich unterscheidet der Text auch
private
und
nicht private
Theorie, ist mir immer noch nicht hinreichend klar. Handelt es sich dabei wirklich um eine methodologisch relevante Unterscheidung oder nicht doch nur um eine
wissenssoziologische
: den Hinweis nämlich auf den sozialen Ort, an dem die Theorie verhandelt wird? Vielleicht ist unsere Vorliebe für dichotome Anordnung von Begriffen hier irreführend. Man könnte z.B. Theorien auch, statt sie auf den Wissenschaftstypus zu beziehen, nach Verwendungssituationen klassifizieren und hätte damit möglicherweise eine viel nützlichere Unterscheidung: Theorien, die sich auf sprachliche Verständigung beziehen; Theorien, die sich auf technische Konstruktionen beziehen; solche, die sich auf Naturereignisse beziehen; solche, die sich auf den Warenaustausch beziehen; solche, die sich auf das Funktionieren der Psy|a 153|che beziehen usw. Mit der Dichotomie von
Alltag
und
Wissenschaft
ist ja immer auch, wenn vielleicht auch ungewollt, eine Überlegenheitsbehauptung impliziert: Die wissenschaftliche Theorie bringt die Wahrheit ans Licht, die Alltagstheorie steht immer unter Ideologieverdacht. Eine solche Klassifikation scheint mir jedoch sehr problematisch zu sein. Für Interpretationen bedeutet dies, daß möglicherweise das Verhältnis zwischen zu interpretierendem Text und vom Interpreten unterstellter wissenschaftlicher Theorie weniger gravierend ist als die Frage nach den im zu interpretierenden Text in Anspruch genommenen Theorietypen. Dieses Problem könnte insbesondere dann von hervorragender Bedeutung sein, wenn es um die Rekonstruktion der Lebensorientierung des Befragten geht.
[V63:5] Wie können überhaupt
wichtige und unwichtige Aussagen
unterschieden werden. Es scheint mir ziemlich schwierig, dafür einen gültigen Indikator zu finden. Die Lösung dieses Problems aber scheint wiederum unerläßlich, will man auf methodische Objektivität nicht verzichten. An diesem Problem zeigt sich deshalb, wie mir scheint, das ganze Ausmaß der methodologischen Schwierigkeiten. Man kann sich beispielsweise vorstellen, daß in einer noch so entspannten Interview-Situation immer unentschieden bleibt, ob die zur Sprache gebrachten Themen die vorgenommenen Gewichtungen, die verwendeten Klassifikationen oder Typisierungen
wirklich
auch diejenigen sind, die für den Lebenszusammenhang des Befragten wichtig sind bzw. ob die im Interview zum Vorschein kommende Rangreihe von Gewichtungen mehr ist, als eine nur situationsspezifisch vorgenommene Operation des Befragten. Alles hängt also offenbar davon ab, eine Regel ausfindig zu machen, der der Befragte in der Interviewsituation folgt und von der zugleich mit Gründen angenommen werden kann, daß sie auch unabhängig von dieser Situation für den Befragten in Geltung ist.
[V63:6] Im Text versuchen Sie dieses Problem dadurch etwas klarer zu machen, daß Sie die Unterscheidung von
Ermittlung der Wahrheit
und
Ermittlung von Mustern
einführen. Diese Unterscheidung erscheint mir irreführend: Versteht man die Frage
wie sind die Interviewten wirklich?
nicht als die Frage nach einem geheimnisvollen Wesen der Person, sondern als eine vernünftige wissenschaftliche, (d.h. methodisch nachvollziehbare) Frage, dann muß man sich auch jede Aussage einer Interpretation die Wahrheitsfrage gefal|a 154|len lassen, die Frage nämlich, ob der interpretierende Satz tatsächlich das interpretierte Ereignis beschreibt oder nicht. Auch die Einführung des Begriffes
Muster
ändert daran nichts: Die Behauptung, im interpretierten Material findet sich das X-Muster, muß entscheidbar sein. Außerdem stellt sich bei dem Begriff
Muster
zusätzlich die Frage, wofür dieses ein Muster sei. Die Wahrheitsfrage taucht also, genaugenommen, gleich zweimal auf. Solche Hinweise sind mir deshalb wichtig, weil ich es nicht gut finde, wenn der Eindruck entsteht, als handele es sich bei der Interpretation von Texten dieser Art um so etwas wie eine neue Methodologie. Ich meine, man sollte hier nicht in den gleichen Fehler verfallen, den schon die
Handlungsforschung
gemacht hat: aus Anlaß einer neuen Forschungsstrategie zugleich eine neue Methodologie zu postulieren. Insofern ist auch das, was in dem Text über
Hypothesen
gesagt wird, nicht grundsätzlich verschieden von den Aussagetypen, die in anderen Forschungszusammenhängen auftauchen. Auch in einer streng empirisch angelegten und möglicherweise sogar statistisch abgesicherten Untersuchung haben die Ergebnisse keinen anderen als hypothetischen Charakter.

1.2 Zum Verhältnis Forscher/Forschungsgegenstand

[V63:7] Mir erscheint Ihr Postulat, daß die Validität einer Interpretation erst dann gesichert ist, wenn eine
Einigung
bzw.
Übereinstimmung
zwischen Frager und Befragten hergestellt ist, überzeugend. Ebenso überzeugend scheint mir, den Forschungsprozeß infolgedessen als einen über verschiedene Stufen hinweg ablaufenden Verständigungsprozeß zu beschreiben. Die darin steckenden methodischen Probleme werden jedoch – wenn ich recht sehe – verdeckt, wenn man außer acht läßt, daß dies idealisierende Behauptungen sind. Ich bin nämlich der Überzeugung, daß die
hermeneutische Spirale
in der Forschungspraxis nicht an einem fixierbaren Punkt endet; eben dies aber könnte durch ihre Formulierungen suggeriert werden. Ich mache mir dieses Problem in der Regel dadurch klar, daß ich mir vor Augen führe, daß jede zwischen Frager und Befragtem hergestellte Einigung von einem Dritten noch einmal daraufhin überprüft werden könnte, ob
wirkliche
Verständigung oder nur
scheinbare
Verständigung erzielt wurde. (Es verhält sich hier offenbar ähnlich wie mit den
Hypothesen
.) Aus genau diesem Grund, so scheint mir, ist bei jeder Interpretation eine explizite Theorie notwendig. Jede Theorie |a 155|und die aus ihr gefolgerten Annahmen bestimmen das (vorläufige) Ende einer Interpretation. Dieses Ende ist dann erreicht, wenn im Sinne der verwendeten Theorie hinreichend gesicherte Aussagen (Interpretationen) formuliert werden können. Wollte sich der Forscher wirklich in letzter Instanz an die Zustimmung seines Befragten binden, würde er sich ja auch an dessen Mythen, Stereotype, Ideologien binden – oder er müßte unterstellen, daß der Prozeß der Interpretation und der Überprüfung der interpretierenden Sätze zugleich ein zuverlässiger wechselseitiger Aufklärungsprozeß ist. Dann aber fangen die Probleme von vorne an: Wie gewinnen wir einen Begriff von
zuverlässiger
Aufklärung? Andererseits unterstellen wir einen solchen Begriff von, der Möglichkeit nach, wechselseitiger Aufklärung als wesentliches Merkmal des Interpretationsprozesses, wird eben jene Idealisierung vorgenommen, von der ich oben sprach. Diese Idealisierung beschreibt aber nicht den tatsächlichen Forschungsprozeß, sondern das lediglich nur zu denkende, nicht aber zu realisierende
ideale
Ende desselben: Ein regulatives Prinzip also für die methodische Organisation des Forschungs- bzw. Interpretationsprozesses. Forschungspraktisch, so scheint mir, ist die Distanz und Differenz zwischen Forscher und Forschungsgegenstand prinzipiell nicht aufzuheben (ähnliche Einwände habe ich ja schon gegenüber der Handlungsforschung gelegentlich geltend gemacht).

1.3 Zum Problem einer Handlungstheorie

[V63:8] Im Text finde ich einige Bezugnahmen auf
Handlungs-Probleme
, die mir außerordentlich wichtig scheinen. Ich bin der Meinung, daß es methodisch ergiebig wäre, über die Rezeption der Ethnomethodologie hinaus in Zukunft wieder stärker den Handlungsbegriff zu explizieren und damit auch handlungstheoretische Annahmen in den Dienst von Interpretationen zu stellen. Handlung taucht ja in Texten, insbesondere in solchen, die Dialogsituationen enthalten, auf doppelte Weise auf: als Handlungspläne (sei es, daß der Befragte seine zurückliegenden Handlungspläne referiert, sei es, daß er in seinen Äußerungen dem Befrager gegenüber selbst einen auf die aktuelle Interaktion bezogenen Handlungsplan verfolgt) – und als faktische Handlungen (auch hier wieder in der Unterscheidung referierter Handlungen und der tatsächlich vollzogenen Handlungen, im Falle des Interviews im Rahmen der ablaufenden Interaktion). Diese Unterscheidung trifft Wunderlich (Stu|a 156|dien zur Sprechakttheorie), und sie scheint mir für die Interpretation sehr nützlich zu sein; das gilt allerdings nur dann, wenn der Begriff der Handlung weiter expliziert wird und jene Kategorien herausgestellt werden, die erforderlich sind, um Handlungspläne oder faktische Handlungen in Texten überhaupt zu ermitteln.
[V63:9] In diesem Zusammenhang ist mir unklar geblieben, was der Ausdruck
Konsistenz
bedeuten soll. Bezogen auf die Handlung denke ich zum Beispiel: eine faktische Handlung, damit sie überhaupt von Beobachtern als Sinneinheit interpretiert werden kann, muß im großen und ganzen
konsistent
sein; d.h. ihre einzelnen Momente müssen sinnvoll aufeinander beziehbar sein. Das ist nun durchaus eine
empirische Frage
, und zwar insofern, als ich empirisch (durch Beobachtung) ermittle, ob ein bestimmter Ereignisablauf oder die Darstellung eines solchen dem Begriff der Handlung subsumiert werden kann oder nicht. Nicht empirisch daran ist eben nur das, was überhaupt in jeder Erkenntnisoperation
nicht-empirisch
ist: die Subsumption von Beobachtungsdaten unter theoretische Konstrukte. Aber auch
Inkonsistenz
ist möglich: Unterscheide ich zwischen faktischer Handlung und Handlungsplänen, dann doch eben deshalb, weil ich annehme, daß der Möglichkeit nach beides sowohl konsistent als auch inkonsistent sein kann: Handlungspläne und faktische Handlung können – der Möglichkeit nach – völlig auseinanderfallen. Probleme dieser Art tauchen vielleicht in dem vorliegenden Interview nicht auf, dürfen jedoch methodologisch nicht schlechterdings ausgeschlossen werden. Wir haben mit dieser Unterscheidung therapeutische Dialoge analysiert und die Erfahrung gemacht, daß man bestimmte Strukturen des therapeutischen Dialogs auf diese Weise sehr gut beschreiben kann (z.B. die Zusammenhangslosigkeit zwischen dem therapeutischen
Handlungsplan
, der sich aus bestimmten Interaktionsschritten des Therapeuten ablesen läßt einerseits, und den faktischen Handlungen und den Folgeproblemen für die Klienten, die sich im Verlauf des therapeutischen Dialogs tatsächlich einstellten, andererseits. Zu den Problemen, die sich mit dem Begriff der Handlung verknüpfen, gehört vielleicht auch die im Text vorgenommene Unterscheidung von
manifest
und latent". Ich halte diese Unterscheidung, wenigstens jedoch die sprachliche Benennung des gemeinten Unterschiedes, für unglücklich. Ich würde sie solange vermeiden, wie nicht angegeben werden kann, mit welchen methodischen Schritten
latente
Gehalte ermittelt werden können. Ich neige einem |a 157|Interpretationsverfahren zu, das sich so strikt wie möglich am Beobachtungsmaterial (in Fällen unserer Art also am Sprachmaterial) orientiert. In diesem Punkt sind wir, wenn ich den Text recht verstanden habe, wohl einer Meinung. Das bedeutet indessen für mich, daß ich wohl bereit wäre, zwischen verschiedenen Schichten einer sprachlichen Äußerung (verschiedenen Strukturebenen) zu unterscheiden; ich würde jedoch nicht behaupten wollen, daß die eine Ebene sichtbar und die andere verborgen ist. Ich würde eher sagen, daß ich je nach Wahl des Blickpunktes andere dieser Schichten zu Gesicht bekomme (ähnlich der Unterscheidung von Kompetenz und Performanz): Die grammatische Form oder die Syntax eines Satzes ist nicht verborgen (latent); sie liegt durchaus offen zu Tage. Man muß nur an den Text die richtigen Fragen stellen, um sie zu ermitteln. Mir liegt an diesen Umformulierungen deshalb, weil ich alles vermeiden möchte, was die
neo-hermeneutischen
methodischen Versuche in den Verdacht bringen könnte, die mir höchst problematischen Unterscheidungen von
Wesen
und
Erscheinung
wieder in Mode zu bringen und auf diese Weise mit ontologischen Unterstellungen zu arbeiten, die mir wissenschaftlich nicht ergiebig zu sein scheinen.
[V63:10] Übrigens haben mich in der letzten Zeit in solchen Fragen (auch mit Bezug auf die Handlungstheorie) neben Wunderlich sehr angeregt die Studien von R. Barthes und von Fillmore (in Auwärter u.a.).

1.4 Thematischer Fokus der Interpretation

[V63:11] Was ich bei der Interpretation am stärksten vermisse, ist eine relativ klare Aussage über die beabsichtigte Interpretationsrichtung oder auch den Zweck, der mit der Interpretation solcher Interview-Materialien verfolgt werden soll. Sollte der Zweck der vorliegenden Interpretationen durch das abgedeckt sein, was unter
Konsequenzen für das Studiensystem
gesagt wird, dann schiene mir ein so aufwendiges Verfahren entbehrlich zu sein. Ich habe den Eindruck, daß die dort behandelten
Konsequenzen
auch mit gut überlegten standadisierten Interviews hätten gezogen werden können. Wenn ich recht sehe, ist das aber nicht der einzige Zweck, den Sie verfolgen. Mir scheint, um solche Fragen besser diskutieren zu können, eine Klassifikation von
Interpretationstypen
sinnvoll, die etwa so aussehen könnte:
[V63:12] Man könnte drei (oder auch mehr) solcher Typen unterscheiden:
  1. 1.
    [V63:13] die einfache Nacherzählung der Paraphrase,
  2. |a 158|
  3. 2.
    [V63:14] die
    theoretische Rekonstruktion
    ,
  4. 3.
    [V63:15] die Herausarbeitung der Struktur einer individuellen Bildungsgeschichte.
[V63:16] Vielleicht gibt es noch andere Typen; dies ist nur ein allererster Vorschlag; aus jedem Typus scheinen mir andere methodische Probleme zu folgen, außerdem verbindet sich mit jedem dieser Typen auch ein je besonderer Forschungszweck, z.B.: Bei der Paraphrase ist mir vornehmlich das Interview-Material wichtig als Informationsquelle für einen unbekannten Ausschnitt der Wirklichkeit; es gelten dann als relevant im wesentlichen die für objektivierbar zu haltenden Fakten, die im Interview mitgeteilt werden (Prototyp vielleicht das Interview in der ethnologischen Forschung); den Interpretationstypus, den ich sehr häufig und sicher korrekturbedürftig
theoretische Rekonstruktion
nenne, verfolgt den Zweck, die Anwendbarkeit einer Theorie auf einen einzelnen Fall zu prüfen oder auch einen einzelnen Fall nach Maßgabe einer solchen für bewährt gehaltenen Theorie dem Verständnis zu erschließen (Prototyp etwa der psychoanalytische Fallbericht, die Interpretation der Lebenswelt einer Arbeiterfamilie nach Maßgabe materialistischer Annahmen); Interview-Interpretation als Herausarbeitung einer individuellen Bildungsgeschichte kann natürlich nur heißen: die Interpretation erinnerter Bildungsgeschichte – hier geht es also um die Schemata der Selbstinterpretation des Befragten, um
Deutungsmuster
meinethalben, und zwar sowohl in ihrer zeitlichen wie aktuell-sozialen Dimension. Das Problem des vorgelegten Textes besteht nun im Hinblick auf diese Art von Fragestellungen m.E. darin, daß die Interpretationsrichtung nicht deutlich genug herausgestellt ist. Folgt man den Bemerkungen im methodologischen Teil, dann spricht vieles dafür, daß dort so etwas wie die Struktur einer
Bildungswelt
ermittelt werden soll. Sieht man indessen auf das, was Sie als
Kernaussage
ermitteln und an Konsequenzen beschreiben, dann entsteht eher der Eindruck, daß Sie das Interview als Information über für relevant gehaltene Fakten verwenden (also dem ersten Typ zugehörig). Es wird sicher niemanden verwundern, wenn ich nach Maßgabe meiner Herkunft und meiner Tätigkeit, zunächst wenigstens, für den dritten Typus plädiere. Das ist indessen keine prinzipielle Entscheidung, sondern hat lediglich mit aktuellen Vorlieben etwas zu tun, vielleicht auch mit dem, was mir für die Erziehungswissenschaft gegenwärtig wichtig zu sein scheint. Aber auch wenn man sich für den dritten Typ entscheidet, entlastet das nicht von weiteren theoreti|a 159|schen Schritten. In diesem Punkt, so scheint mir, ist der vorgelegte Text zurückhaltender, als nötig ist. Prinzipiell gilt ja – und zwar sogar für die Paraphrase – daß es sich bei jeder Aussage über oder Wiedergabe von oder Interpretation von einem Text, wenn es um mehr geht, als um eine schlichte Wiederholung desselben, um eine begrifflich geleitete Selektion handelt. Da dies völlig unumgehbar ist, ist auch eine Explikation der die Selektion leitenden Kategorien unerläßlich. Eben dieser Schritt scheint mir in Ihrem Text zu fehlen oder doch nicht explizit vorgenommen zu sein. Ich würde beispielsweise, müßte ich das vorliegende Interview interpretieren und würde ich den Postulaten des dritten Typs folgen, das Interview im Hinblick auf folgende Probleme (Ereignisklassen oder auch selektierende Kategorien oder auch Dimensionen oder welche Terminologie man dafür immer bevorzugen mag) interpretieren:
  • [V63:17] Dominate Thematik oder Thematiken;
  • [V63:18] Zeitperspektive, Zeitschemata, Rhythmisierung der eigenen Bildungsgeschichte;
  • [V63:19] Selbstlokalisierung im sozialen Kontext, soziale Attribuierung;
  • [V63:20] Sozialer Raum, Interaktionsnetze, Beziehungsstrukturen usw.;
  • [V63:21] Intentionale Richtungen;
  • [V63:22] Wahrgenommene Widerstände gegen Intentionen usw.
[V63:23] Solche Kategorien sind freilich zunächst assoziativ oder allenfalls
educated guesses
. Ich bin auch nicht sicher, ob die Suche nach einer für jedermann befriedigenden Kategorisierung sinnvoll ist. Nicht nur sinnvoll, sondern notwendig scheint mir lediglich, daß eine Interpretation nach Maßgabe solcherart bezeichneter Kategorien vorgeht und nicht selbst eine gleichsam offene und im Ziel relativ unbestimmte Feierabends-Kommunikation reproduziert. Anderenfalls, so fürchte ich, geraten wir in Gefahr, uns auf eine endlose Kette von einzelnen Interpretationen einzulassen, deren Erkenntniszweck undeutlich bleibt. So etwas hat es beispielsweise in der Literaturwissenschaft in den 50er Jahren gegeben, und damals hat Kayser versucht, aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden, wie ich meine, mit Erfolg, wenngleich Literaturwissenschaft freilich heute wesentlich
aufgeklärter
verfährt, als Kayser das damals tat.
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2. Zur Interpretation des vorliegenden Interviews

[V63:24] Aus dem Vorschlag, die Interpretation nach Maßgabe vorweg definierter Kategorien vorzunehmen, folgt – zwar nicht zwingend – daß es nützlich sein kann, nicht nur eine
Kernaussage
zu ermitteln, sondern verschiedene solcher Kernaussagen, und zwar in Bezug auf die jeweils gewählten Kategorien. Ich will das an einigen Beispielen versuchen:
[V63:25] Charakteristisch für das ganze Interview scheint mir eine eigentümlich und relativ genau beschreibbare Zeitperspektive zu sein. Ich formuliere das, der Einfachheit halber, einmal in Sätzen über Frau X., wenngleich die Sätze richtig lauten müßten:
Frau X. meint von sich, daß ...
:
    [V63:26] Frau X. hegt auf längere Zeit keine großen Erwartungen (Zeile 153).
    [V63:27] Frau X. ist froh, wenn sie kürzere Zeiträume (etwa 2 Jahre) ohne größere Krisen übersteht (Zeile 208 ff.).
    [V63:28] Frau X. orientiert sich zwar an Fernzielen, konzentriert aber den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit und ihrer Leistungsfähigkeit auf die nahe gelegenen Ziele (Zeile 220 ff.).
    [V63:29] Frau X. vermeidet, sich zeitlich weit entfernte und der Möglichkeit nach illosionäre Ziele zu setzen (Zeile 220 ff).
    [V63:30] Frau X. versucht,
    immer ziemlich wenig Zeit zu verschwenden
    (S. 35, Zeile 2/3).
    [V63:31] Frau X. nimmt sich vor, ihre Zeit gut einzuteilen (S. 45, Zeile 13).
    [V63:32] Frau X. plant ihre Arbeit im voraus (S. 46, Zeile 16).
    [V63:33] Frau X. gelingt es in der Regel, ihre zeitliche Planung auch einzuhalten (S. 45 , Zeile 29).
[V63:34] Ich schließe aus solchen Aussagen folgendes: Die Zeitperspektive von Frau X. wird durch die Kalkulation der eigenen Leistungsfähigkeit strukturiert; diese Kalkulation hält sich so strikt wie möglich an die kontrollierbare Erfahrung, die Frau X. mit sich selbst gemacht hat; verläßliche Prognosen sind nur für einen Zeitraum von maximal 2 Jahren möglich; weiterreichende Zeitperspektiven sind zwar für die eigene Orientierung nötig, sie enthalten jedoch so viel an projektivem Gehalt, an schwer Kalkulierbarem und Irrationalem, daß man sie zwar für sich selbst entwerfen muß, ihres der Möglichkeit nach illusionären Anteils wegen aber nicht öffentlich kommunizieren soll|a 161|te: gleichsam
äußere Zeit
und
innere Zeit
. Ein geradezu klassischer oder
reifer
Fall von
deferred gratification pattern
(wenn man diesen Terminus hier überhaupt ins Spiel bringen will).
[V63:35] Ein zweites Charakteristikum der Bedeutungs-Strukturierung scheint mir die deutlich ausgeprägte Intentionalität zu sein. Bevorzugte Verben sind solche, die mit Absicht und Plan verbunden sind: etwas organisieren, etwas so einrichten, daß es gut läuft; etwas vernünftig planen; etwas wollen oder nicht wollen; etwas in die Reihe bringen; sich die Zeit einteilen; klare Linien ziehen und sehen; etwas selbständig beurteilen; usw. usw.
[V63:36] Frau X. stellt sich selbst dar als
Macher
, allerdings nicht so, wie Schiller das in jenem Brief an Goethe tat, wo der
Macher
– Poet – zugleich auch der Schöpfer ist, sondern in dem Sinne, in dem jemand unter gesetzten Bedingungen das von ihm selbst Änderbare kalkuliert und dieses seinen eigenen Zwecken entsprechend zu arrangieren versucht. So
reduziert
sie ihren Bekanntenkreis (S. 36); so schreibt sie ihrem eigenen
Wollen
die verursachende Funktion zu und nicht außerhalb ihrer selbst liegenden Instanzen; so interpretiert sie ihre soziale Lage als eine Interaktion zwischen Bedingungen und Wollen, wobei die Bedingungen nicht als Ursachen genommen werden, sondern lediglich als Ausgangsdaten, auf die das Wollen sich beziehen muß; dieses Wollen ist jener
Kreiselkompaß
, von dem Riesman seinerzeit sprach, unabhängig von den Urteilen und Erwartungen anderer; der einzige Zwang, dem sie folgt, ist
mein Antrieb und mein Wille
, d.h.: Notwendigkeit genau im Sinne dieses Wortes gibt es nur moralisch, nicht aber empirisch (das ist Schiller und Kant im zeitgenössischen Alltagsbewußtsein einer Fernstudentin). (Dieses Grundmuster" taucht auf vielen Ebenen auf, selbst noch im Konsum:
Ich kaufe immer nur mit Überlegung, ich kaufe selten drauflos
, S. 41 , Zeile 8/9).
[V63:37] Die für Frau X. relevante Thematik zu ermitteln, kommt mir wesentlich schwieriger vor. Zunächst gibt es offenbar so etwas wie eine Oberflächen-Thematik , die indessen im wesentlichen durch den Interviewer induziert wurde: Herkunftsfamilie (insbesondere der Vater); eigene Familie (aufgeschlüsselt in zwei Themen: Kinder und Ehemann); Bekanntenkreis bzw. gesellige Kontakte; der Sport; Bildung und kulturelle Gehalte (einschließlich Studium) usw. Unterhalb dieser Ebene gibt es eine gleichsam
tiefere
Schicht von Themen, die sich Versuchs|a 162|weise so benennen ließen: die tägliche Balance-Leistung zwischen eigenen Aspirationen und
sozialem Setting
; die individuelle Leistungsthematik; das
Ich
und die anderen; Oberfläche und Tiefe (Oberfläche: kurzfristig Nützliches, konventionelles Bildungswissen, nur im Augenblick Interessantes; Tiefe: für den eigenen Lebenszusammenhang langfristig Bedeutsames); dieser Unterscheidung entspricht offenbar die Dichotomie
Konkretes
und Abstraktes".
[V63:38] Vor dem Hintergrund dieser
Tiefenthematik
bekommt, wenn ich recht sehe, der Interviewtext S. 2, Zeile 9 ff. bzw. S. 144 besonderes Gewicht. Die Geburt der Kinder und die damit zusammenhängenden Folgeverpflichtungen lösen offenbar einen Prozeß von Reflexionen aus, der sich im ganzen weiteren Verlauf des Interviews auf den verschiedenen Inhaltsebenen konkretisiert. Die Interpreten haben die Dramatik dieser Interview-Passage offenbar bemerkt, ihre lebensgeschichtliche Bedeutung aber – wie mir scheint – nivelliert (ich habe die Vermutung, daß die Interpreten nur aus Männern und kinderlosen Frauen sich zusammensetzen). Ich geniere mich fast, es zu sagen: daß die Geburt eines Kindes für die Mutter ein Ereignis ist, aus dessen Anlaß und aus dessen Folgen sie – wenn sie dazu überhaupt die Möglichkeit hat – ihre Lebensorientierung einer Revision unterzieht, das scheint mir so naheliegend, daß ich mich scheue, dies als besonders bemerkenswert zu notieren. Jedermann müßte so etwas wissen. Und es kommt mir wie falsch verstandene wissenschaftliche Sachlichkeit vor, wenn dies bei der Interpretation so behandelt wird, als handele es sich dabei um ein Ereignis im Leben eines Menschen wie jedes andere auch. An dieser Stelle fängt die Wissenschaft an, zynisch zu werden, vielleicht ohne daß sie es will. Es überrascht mich deshalb auch nicht, wenn eben an dieser Stelle – wie die Interpreten richtig beobachtet haben – der Sprachduktus von Frau X. sich ändert. Was dann folgt (S.144 unten), kommt mir dann aber doch vor, wie ein vermittelter Einbruch eines naiven Positivismus in das ganz anders geartete Konzept der Interpreten: Die Spekulation im Hinblick darauf, was zwischen dem ersten und zweiten Kind geschah (in jenen 2 1/2 Jahren) oder ob dort Zufälle oder anderes im Spiel waren, scheinen mir völlig abwegig und überflüssig zu sein. Was in dieser Textpassage allein – meiner Interpretation nach – von Bedeutung ist (und ich vermute diese Bedeutsamkeit nicht nur für mich, den Interpreten, sondern auch für Frau X.) ist die Tatsache, daß aus Anlaß der Geburt der Kinder – wie weit auch immer ihre Geburt auseinanderliegen mag – sie feststellt: |a 163|
irgendwie lief das nicht so, wie ich das gedacht
hatte,
und dann begann irgendwie ganz komisch ein Prozeß, den ich mir nicht erklären kann
;
ich war einfach psychisch fertig. Ich habe Alpträume gehabt, es war eine Katastrophe
(ich habe den Text ein wenig zusammengezogen). Und auf diese hochdramatische Darstellung folgt:
Irgendetwas wollte ich nun machen.
Entweder oder.
Verblöden
oder zu einer befriedigenden Existenzweise finden. Die Anmerkungen der Interpreten (S.145) finde ich teilweise sogar ärgerlich; sie signalisieren mir (ich bitte mir das nicht übel zu nehmen), daß die Interpreten sich nicht wirklich ernsthaft auf die Perspektive von Frau X. eingelassen haben. Dazu einige kritische Anmerkungen:
[V63:39] 1.
Undurchschaubarkeit
: Dies scheint mir eine leichtfertige Interpretation; sie wäre nur dann gerechtfertigt, wenn durch deutliches Nachfragen des Interviewers wirklich hätte erhärtet werden können, daß Frau X. über keine Erklärung verfügt. Nach der Kenntnis des Gesamtinterviews habe ich eher die Vermutung, daß diese Formulierung von Frau X. (
den ich mir überhaupt nicht erklären kann
) der Situation geschuldet ist und wenig mit dem wirklichen Wissen von Frau X. zu tun hat. Aus dem Gesamtinterview habe ich den Eindruck, daß Frau X. sehr wohl in der Lage wäre zu erläutern, was in dieser Phase ihres Lebens vor sich gegangen ist.
[V63:40] Warum eigentlich soll es
interessant
sein zu wissen,
welchen Verlauf dieser Prozeß genommen hat
? und warum soll es besonders interessant sein zu wissen, ob sie
diesen Prozeß allein bewältigt
hat, ob
ihr Mann
oder
andere Personen beteiligt
waren (S. 145); wie kommen die Interpreten dazu, den Satz
du verblödest so langsam
als das Gefühl geistiger Unterforderung zu interpretieren? Und inwiefern soll überhaupt fraglich sein, wer
die Situation so definiert
? Dies alles scheinen mir sehr gekünstelte Fragen zu sein; entweder nur die Rhetorik einer zur geistigen Unfruchtbarkeit degenerierten methodischen Selbstreflexion oder die auf scheinbar theoretische Fragen hin stilisierte interpretatorische Schwäche der Interpreten. Ich bitte dieselben um Verzeihung für diese polemischen Bemerkungen. Meine eigene Antwort formuliere ich ebenso
ungeschützt
; sie mag als kurzschlüssig oder naiv oder unreflektiert klassifiziert werden. Im Moment aber weiß ich nichts Besseres als dies:
[V63:41] 1. Frau X. durchschaut durchaus, was sich in jener Phase für sie abgespielt hat: sie durchschaut die krisenhafte Wende, die sich in dieser Wende in ihrem Bildungsprozeß vollzog; sie durchschaut auch durch|a 164|aus – das ganze folgende Interview beweist es – die Folgen und die Bedeutsamkeit, die diese Wende für sie gewonnen hat; was sie selbst sich nicht erklären kann, ist genau das, was auch kein Interpret erklären könnte (wenn Erklärung heißen soll: eine hinreichende Aufzählung derjenigen Faktoren, die ein Ereignis verursacht haben); für mich sind die oben aufgeführten Grundmuster und das Ereignis einer Familiengründung, zusammen mit der Geburt von Kindern, vorläufig hinreichende Erklärung dafür, daß das Zusammentreffen von derart leistungsthematischen Erwartungen im Hinblick auf eigene
Selbstverwirklichung
und der Probleme, die sich aus Familiengründung, Haushaltsorganisation und Balanceleistungen eines derart neuen sozialen Systems ergeben, dazu führen, daß Frau X. in einer sehr prägnanten Kurzformulierung sagt:
irgendwas ist los
,
irgendwie gefiel mir das nicht mehr
,
irgendwie lief das nicht so
,
es begann irgendwie ganz komisch ein Prozeß
,
ich war einfach psychisch fertig
,
ich habe also Alpträume gehabt
,
es war eine Katastrophe
,
bei uns stand alles Kopf
.
[V63:42] Prägnanter läßt sich in einem Interview eine Krisensituation kaum beschreiben. – Daß der durch diese psychische Dramatik eingeleitete Prozeß nicht von ihr allein bewältigt wurde, sondern daß ihr Mann daran beteiligt war, kann für den, der das Interview kennt, überhaupt keine Frage sein: Im ganzen Interview spielt gerade das Ausbalancieren der Lebenserwartungen im Beziehungssystem mit dem Ehepartner eine entscheidende Rolle. Ich verstehe deshalb überhaupt nicht, wie man eine solche Frage ernsthaft stellen kann. Auch handelt es sich nicht um
geistige Unterforderung
; wenigstens ist diese Formulierung eine grobe Verkürzung des von Frau X. dargestellten Problems. Und natürlich ist die Verwendung des Ausdrucks
verblöden
ein Bestandteil ihrer eigenen Definition der Situation. Auch hier wiederum würde das gesamte Interview der Annahme widersprechen, daß dies auf Fremddefinition zurückzuführen ist (es sei denn, man macht die ganz generelle Annahme, daß keine Situationsdefinition möglich ist, die nicht einen sozialen Referenzrahmen hat, auf den sie sich bezieht bzw. vor dem sie sich zu legitimieren versucht).
[V63:43] Ebenso wichtig wie das Vorhergehende, scheint mir in dieser Interviewpassage die Deutung zu sein, die Frau X. der Überwindung der Krise gibt: Nach der Steigerung bis zu den
Alpträumen
eröffnet sich die Perspektive der
Genesung
: Eine Perspektive hat sich langsam |a 165|
herauskristallisiert
. Und nun wird auch durch die Wahl des Verbs ein Grundthema der ganzen Biographie zur Sprache gebracht:
Irgendetwas wollte ich also machen
. Dies scheint mir zum Verständnis von Frau X. von größter Wichtigkeit zu sein: Auf dem Höhepunkt der Krise wird das eigene Wollen als die prima causa gesetzt (ich neige dazu, die hier in Rede stehende Textpassage als
inneren Monolog
vor Zuhörern zu skizziere, ist eine Anregung von Fillmore: Er spricht von der
Kontextualisierung
von Sprechern, meint damit vornehmlich das, was interpretieren; leitend für solche Interpretationen, wie ich sie jetzt ich den
äußeren Kontext
nennen würde und was auch im vorliegenden Text die Interpreten versucht haben, also Bezugnahme auf die pragmatischen Rede- oder Handlungssituationen und deren faktische äußere Referenzsysteme; dem läßt sich zuordnen das, was ich
innere Kontextualisierung
nennen möchte, nämlich die Andeutung oder Ausarbeitung einer Quasi-Szenerie im inneren Monolog – im Selbstgespräch – die vornehmlich die Funktion hat, Inneres verständlich zur Darstellung zu bringen; denn auch bei der Darstellung von psychischen
Innen-Räumen
sind wir darauf angewiesen, diese sozial zu instrumentieren; so ist die Darstellung einer selbst durchlebten Krise, wie im vorliegenden Fall, eine
innere Kontextualisierung
– wenngleich hier in einer äußerst knappen Form. In der erzählenden Literatur kann man das gut studieren, dort auch sehr viel reichhaltiger ausgeführt.
[V63:44] Nach der Darstellung der
Krise
kommt Frau X. sehr rasch zu ihren wesentlichen Themen (vgl. auch oben):
Ich habe immer gern was mit Ziel gemacht
,
ich will Verantwortung übernehmen
, harmonistische Sicherheit und allzu weite Perspektiven sind nicht realistisch, ich muß dauernd Balance-Leistungen erbringen (
Verantwortungsbewußtsein für die Familie
und das,
was ich für mich selber in Anspruch nehmen will
), ich will nicht
an der Oberfläche schwimmen
, ich will etwas
Konkretes
.
[V63:45] Demnach ist die Kernaussage oder sind die Kernaussagen des Interviews – in meiner Interpretation abweichend von der Interpretation des vorliegenden Textes – die folgenden: Ich habe erfahren, was eine Identitätskrise ist; ich weiß, daß in solchen Krisen meine Selbstverwirklichung auf dem Spiel steht; ich weiß, daß solche Krisen nur bewältigt werden können, wenn ich meine individuellen Erwartungen mit den – von mir grundsätzlich akzeptierten – sozialen Erwartungen mei|a 166|ner nächsten Umgebung in eine Balance bringen kann; ob das gelingt oder mißlingt, ist eine Folge meines Willens; meinen Willen werde ich realisieren können, sofern es mir gelingt, mit der Zeit realistisch umzugehen; nach der Erfahrung mit mir selbst habe ich die Erwartung, daß ich diese Leistung erbringen kann; nur diese Leistungen akzeptiere ich als Gratifikation; an
harmonischen sozialen Bezügen
bin ich weniger interessiert als an der verständigen Kooperation, auch bei verschiedenartigen Interessen; Phantasien über Lebensalternativen oder die fernere Zukunft brauche ich zwar, ich versuche aber zu vermeiden, daß solche Phantasien die realistischen Kompromisse stören, die ich, um Leistungen erbringen zu können, eingehen muß.
[V63:46] Diese Kernaussagen decken sich zum Teil mit den Interpretationen des vorliegenden Textes, zum Teil widersprechen sie diesen oder erweitern sie. Ich will nicht behaupten, daß meine Interpretation
richtig
ist. Ich hoffe indessen, daß sie möglich ist. Es ist offensichtlich, daß man die Interpretation nun noch weiter führen könnte. So wäre eine genauere psychologische oder psychoanalytische Deutung solcher Aussagen denkbar. Auch könnte man diese Aussagen zusammenfassen und, wie es heißt,
auf den Begriff
bringen. Voreilige Etikette allerdings würde ich tunlichst vermeiden; ich habe ohnehin den Eindruck, daß ich in der Etikettierung ein Stück zu weit gegangen bin. Mit Hartnäckigkeit würde ich allerdings daran festhalten, daß im vorliegenden Interview die Zeitperspektive und das
Wollen
, also die Intentionalität die entscheidenden Charakteristika sind. Ich halte es für interessant zu erfahren, ob solche Merkmale unter Fernstudenten häufig sind und wie sie sich nach Maßgabe verschiedener anderer Kriterien in der Gesamtpopulation verteilen. Diese Merkmale scheinen mir nämlich nicht nur eine
Stärke
des Befragten anzudeuten, sondern zugleich ein charakteristisches
Defizit
. Aber damit gerät man bereits nicht nur in den Vergleich, sondern auch in die Wertung. Auf eine Ausführung dieses Problems oder auch nähere Erläuterungen möchte ich aber in diesem Beitrag verzichten.