„Jede pädagogische Einwirkung stellt sich dar
als Aufopferung eines bestimmten Momentes für einen künftigen;
und es fragt sich, ob wir befugt sind, solche Aufopferungen zu
machen?“
Schleiermacher, 1959, S. 82
[Lasse Clausen]
Editorische Anmerkung
Vgl.
Entschließung vom 11.12.1978 [Lasse Clausen]
Editorische Anmerkung
Vgl. Roth,
1961. [Lasse Clausen]
Editorische Anmerkung
Vgl.
Schelsky, 1957 [Lasse Clausen]
Editorische Anmerkung
Vgl. Richter, 1979 [Lasse Clausen]
Editorische Anmerkung
Vgl. Ziehe,
1975 [Lasse Clausen]
Editorische Anmerkung
Der
Begriff wurde durch Ludwig
Erhard in der Politik genutzt. [Lasse Clausen]
Literaturangabe
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Literaturangabe (ergänzt)
Daten konnten nicht geladen werden.
Das Ergebnis der Zitateprüfung kann in folgendem Zotero-Eintrag eingesehen werden: 7N8VC3NY
Condorcet versus
Rousseau:
Versuch einer Erläuterung der Schwierigkeiten, die ein Pädagoge mit dem Thema
haben kann
[063:1]
„Ceci n’est pas une pipe“
(
„Dies ist keine Pfeife“
) ist der Titel eines Bildes von
R. Magritte, auf dem eine
Pfeife zu sehen ist. Aber darf man so sagen? Verbietet nicht gerade die
Unterschrift eine solche Formulierung? Ist nicht vielmehr das Abbild einer
Pfeife zu sehen? Man stockt schon wieder: Ist es zulässig, vom Bilde zu
sagen, es sei das Abbild von etwas? usw. – Die so durch das Bild in Bewegung
gebrachte Reflexion war für M. Foucault erregend genug, um darüber einen ausführlichen Essay zu schreiben; nicht etwa nur deshalb, weil hier die Wirkung
des ästhetischen Gegenstandes in einer besonderen Art intellektuellen
Vergnügens läge, sondern weil – jedenfalls vermute ich das – die
ästhetisch-rhetorische Figur des Zeichens, das dieses Bild ist, auf sich
selbst zu zeigen, zugleich auf ein wesentliches Merkmal unseres (mindestens
des akademischen) Wissens zeigt.
[063:2] Warum diese mit der Sache, von der die Rede sein soll, scheinbar
ganz und gar nicht zusammenhängende Einleitung? Ich will die Antwort
vorläufig so formulieren: Die
„Wirklichkeit“
unserer
Erziehungs- und Bildungspolitik, das Konzert der Deutungen und
Reformprogramme, die Ausrufung (von rechts wie von links) des
„Scheiterns“
der Reform-Konzepte hat eine (allerdings
bedrückende) ästhetische Seite; sie erscheint mir bisweilen als ein
paradoxes Spiel von Verweisungen, ein Jonglieren mit Abbildern,
Bezeichnungen und Terminologien, die eher sich selbst als die jungen
Menschen meinen, um die es angeblich geht –
„Ceci n’est pas une pipe“
. – Aber es ist nicht erst der öffentliche
Diskurs, der dieses Moment enthält, es ist schon der institutionalisierte
Bildungsprozeß selbst: Der Beispielsatz im Unterricht bedeutet eher das
grammatische Exempel als die Verständigung über eine Erfahrung; die
Gruppenarbeit eher
„soziales Lernen“
als die Lösung eines
praktischen Problems; die Propagierung von selbstverwalteten Jugendzentren
eher die
„politische Perspektive“
als die Erfahrung
gemeinsamen Vergnügens; der erreichte Bildungsstand eher die
gesellschaftliche Karriere |a 114|als die subjektiv
bedeutsam erlebte Form der Bildung usw. So zeigt das Bild Magrittes – freilich in der
Verkleidung des ästhetischen Problems – auf das, was Bildungsalltag und
bildungspolitische Diskussion beständig verschweigen: Auf den Mythos (wie
R. Barthes das nennt). Man erkennt ihn u. a. daran, daß er – darin dem
Bilde Magrittes
entgegengesetzt – seine Machart verschweigt, daß Etikettierungen wichtiger
sind als Erfahrungen, daß Konsens und Selbstverständlichkeit vorgetäuscht
werden, daß die Sprache abstrakt bleibt, so als verbürge bereits der
Terminus die Wahrheit der Behauptung.
–
[063:3]
„Elternrecht“
, um die Herrschaft über die
Kinder sicherzustellen;
–
[063:4]
„Augenmaß“
, um Kurzsichtigkeit zur Norm
machen zu können;
–
[063:5]
„Rekonstruktionsperiode“
, um sich mit den
Details der Bildungsgeschichte nach dem Kriege nicht auseinandersetzen
zu müssen;
–
[063:6]
„Reform-Euphorie“
, um die pädagogischen
Anstrengungen und Erfahrungen von 1965–1974 ignorieren zu können und
sich selbst zu salvieren;
–
[063:7]
„Mut zur Erziehung“
, um das Nachdenken
über Erziehung wieder auf ein vorbürgerliches Niveau zu bringen;
–
[063:8]
„Reproduktionssphäre“
, um den Gedanken zu
erschweren, daß solche Halbierung der Gesellschaft (in Produktion und
Reproduktion) eine pädagogisch unergiebige Klassifikation sein
könnte;
–
[063:9] usw.
[063:10] Auch die These, daß durch die finanziellen Restriktionen der
letzten Jahre der Reformprozeß gestoppt wurde, erscheint mir problematisch.
Zwar läßt sich dem Schein nicht leicht widersprechen; indessen hängt die
Triftigkeit der These doch von dem ab, was
„Reform“
bedeuten soll. Verstehen wir darunter lediglich die
„staatlich organisierte Gestaltung und Weiterentwicklung von Erziehungs-
und Ausbildungsprozessen“
(Baethge), dann hat jene These gewiß viel für sich; aber solche
Definition hat wohl praktische Folgen, deren Wünschbarkeit zur Diskussion
stehen sollte. Ich will mir allerdings nicht vorbehaltlos Diltheys These zu eigen machen,
daß die Reform sich
„in den Schulstuben“
vollziehe, denn: das Plädoyer für
„innere Reform“
statt der
„äußeren“
war schon immer eine konservative Argumentationsfigur. Die
Beschränkung auf die
„äußere“
Reform, auf
die organisatorischen Bedingungen, den quantitativen Ausbau, mag indessen
für Soziologen ein naheliegender Gedanke sein; dasjenige jedoch, was jede
Erziehungs- und Bildungsreform für die darin handelnden Menschen, für deren
Vorstellungswelt, Motive, Handlungspläne, für deren Praxis bedeutet, wird
auf solche Weise, wenn |a 115|überhaupt, nur sehr
unzureichend zum Thema gemacht. Der Alltag vieler Gesamtschulen, die
ungeheuren Schwierigkeiten im praktischen Umgang mit Randgruppen, die
Beispiele aus der niederländischen Sozialarbeit, die Laborschule in Bielefeld, die
Glocksee-Schule in Hannover,
die Projekte der Waldorf-Pädagogik, der Strafvollzug in Schweden, die
Geschichte der Odenwaldschule,
neuerdings die Frauen- und Kinderhäuser, die verzweifelte Anstrengung von
Sozialarbeitern, Sozialpädagogen, Therapeuten in der Drogentherapie – dies
alles veranlaßt mich, bei
„Reform“
(oder deren
Verhinderung) nicht nur an die staatlichen Kanalisierungen und
Reglementierungen, an Sozialstruktur und große Systeme, an
Qualifikationsbedarf und Kapitalverwertung zu denken, sondern mit gleicher
Intensität an die mögliche Menschlichkeit von neuen Erfahrungen, an die
politische und pädagogische Bewegung des Bürgers. Ich denke: Die Mythen
unserer akademischen Etikettierungen verstellen uns allzu leicht die
Erfahrungswelt derjenigen, über die nachzudenken wir vorgeben.
1.Wirklichkeit und Möglichkeit
[063:11] Ein solcher Gesichtspunkt ist – warum sollte ich das nicht zugeben
–
„bürgerlich“
. Aber was heißt das? Schon im 18.
Jahrhundert waren beide Komponenten dessen, was Erziehungs- und
Bildungsreform heißen kann, relativ gut ausgearbeitet: Condorcet und Rousseau. Condorcet, in der Tradition des französischen
Zentralismus, setzte auf Vergesellschaftung der Bildungsprozesse, auf
Arbeitskräftebedarf und verwertbare Qualifikationen – wenngleich mit dem
Ziel einer Aufhebung oder Verhinderung der Klassengesellschaft. Rousseau – jedenfalls wo er
pädagogisch dachte – setzte auf die Veränderung des Individuums, auf seine
Kräfte zu neuer Erfahrung, und sei es zunächst in der Form von Träumen –
„Rêveries“
– setzte auf die
Auseinandersetzung des Subjekts mit sich selbst –
„Rousseau
juge de Jean-Jacques“
:
„Wirklichkeitssinn“
versus
„Möglichkeitssinn“
könnte man mit Musil sagen. Auch linke Kritiker der
Bildungsreform setzen bisweilen – wie Condorcet – allzu rasch auf den
Wirklichkeitssinn (rechte tun das ohnehin); sie kümmern sich um das
„Machbare“
und unterscheiden sich – gelegentlich – von
den Rechten und den Technokraten nur dadurch, daß sie hartnäckig auf die
Widerstände hinweisen, die dem Machen-Können entgegenstehen – so als hätte
Rousseau nur seine
„Diskurse“
geschrieben, nicht aber |a 115|den
„Emile“
, die
„Confessions“
, die
„Rêveries“
, als hätten Adorno und Bloch in dieser Frage nicht auch etwas beizutragen
gehabt.
[063:12] Mit derart erinnernden Stichworten will ich Folgendes sagen: Wenn
„Reform“
(= verbessernde Umgestaltung) etwas mit dem
Freisetzen von menschlichen Möglichkeiten, mit Phantasie und neuer
Erfahrung, mit Emanzipation von zum
„Habitus“
gewordenen
Denk- und Handlungsgewohnheiten zu tun hat, dann muß man die Gegner anders
benennen: Es sind nicht nur die Vollstrecker von Kapitalinteressen in den
Finanz- und Bildungsressorts (sie haben noch – unter der Bedingung der
Nötigung zu effektivem Mitteleinsatz – ein Moment an Rationalität für sich),
nicht nur die Kontrolleure von konformen Verhalten in Sozialüberwachung und
Konsum (sie mögen noch geltend machen, daß die Abweichung des Bürgers das
Chaos befürchten läßt), nicht nur die namenlosen Zwänge einer auf
Sozialstatus, Gewinn, Tausch und Verfügung über andere eingespielten
sozialen Umwelt – es sind auch diejenigen, die jeden neuen Versuch als
angebliche
„Alibis“
,
„Verschleierungen“
, als
„reformistisch“
, als
„systemerhaltend“
– oder welche Vokabeln immer zur
Verfügung stehen mögen – denunzieren. Das begann schon mitten in der Phase,
die heute rückblickend als Zeit der in Gang gebrachten Reformen betrachtet
wird.
[063:13] Die in solcher
„Kritik“
enthaltene Frage ist
falsch gestellt: Ob die Schule, ob ein neues Heim, eine neue Beratungsstelle
usw. letzten Endes
„systemerhaltend“
sind, ist eine
müßige Frage: Pädagogische Einrichtungen sind immer – jedenfalls aber dann,
wenn als
„System“
das Ganze des gesellschaftlichen
Zusammenhangs, und zwar dominiert durch die ökonomischen Verhältnisse,
betrachtet wird – systemerhaltend; sie folgen in der Regel solchen
Verhältnissen nach und sind ihnen allenfalls in mikrosozialen Details
voraus. Wer Erziehungs- und Bildungsreformen unter solchem Gesichtspunkt
betrachtet, versucht sich in akademischen Trockenübungen; er muß dann
geradezu ihr Scheitern konstatieren – schon ehe sie überhaupt begonnen
haben. Er hat dann aber eigentlich auch nichts erkannt, sondern
lediglich seinen Gesichtspunkt – mag der nun falsch oder richtig sein –
expliziert (von dieser Art scheinen mir die frühen
„Kritiken“
beispielsweise von Beck oder Gamm zu sein). Ist
man indessen bereit zuzugestehen, daß eine Änderung von sozialstrukturellen
Bedingungen schwerlich durch Erziehung möglich ist, ist damit doch
die Reformfrage nicht erledigt. Sie kann beispielsweise so gestellt werden,
wie Schleiermacher dies vor gut 150 Jahren tat: Darf das Leben des
Kindes, seine Gegenwart und damit die Erfah|a 117|rungsmöglichkeit, die der Augenblick ihm gewähren könnte, einer Zukunft aufgeopfert werden, die allemal von den Erwachsenen und von den von ihnen geschaffenen Institutionen antizipiert wird? Dies ist eine
„echte“
pädagogische
Reformfrage, weil sie die Selbstreflexion der Pädagogen, seien sie nun
Wissenschaftler oder Praktiker, erheischt. Sie nötigt uns, unsere Projekte
nicht nur nach Maßgabe unseres gesellschaftlichen Wissens, zumal unserer –
allemal prinzipiell ungewissen – gesellschaftlichen Prognosen zu
rechtfertigen, sondern den Augenblick des Handelns ernst zu nehmen
und unser Handeln vor der Wirklichkeit und Möglichkeit dieses
Kindes, dieses Jugendlichen zu verantworten.
[063:14] Aber was heißt das? Vermutlich können ein Gesamtschullehrer, ein
Heimerzieher, ein Erziehungsberater, ein Elternpaar, ein Sozialarbeiter dazu
Genaueres sagen als ich.
„Möglichkeit des Kindes“
– das
ist, auf den Erziehungsalltag bezogen, zwar wenig spektakulär für ein auf
große gesellschaftliche Perspektiven erpichtes Publikum, für das Kind aber
die ernsteste Wirklichkeit, weil in ihr – zunächst – sich die Erfülltheit
seines Lebens zeigt: Darf es wählen, neben wem es sitzen will? Darf es auch
von den Eltern des Nebenmannes Verständnis erwarten? Darf es seine
Erfahrungen auch im Unterricht undiskriminiert zur Sprache bringen? Darf es
vor dem Lehrer furchtlos sein? Werden seine und seiner Freunde Eltern es
schaffen, daß in der Straße, die es zum Spielen braucht,
„Tempo 30“
eingeführt wirrd? Interessiert es den Lehrer, daß sein Vater arbeitslos ist? Kann
ich es wagen, meinen Eltern zu sagen, daß ich Haschisch geraucht habe?
Verstehen die Erzieher überhaupt, was ich in der Diskothek so toll finde?
Ich möchte dem X so gerne helfen, aber wie mache ich das? Der Lärm in der
Schule belastet mich ungeheuer – kann man was dagegen tun? Die
Sozialarbeiter im Wohnkollektiv halten so viel von Selbstbestimmung, aber
sie reglementieren uns dauernd! Das Essen im Heim hat mir selten wirklich
gut geschmeckt! usw. Jeder Praktiker könnte diese Aufzählung erweitern,
besser formulieren als ich es vermag.
[063:15] An der Reaktion auf Fragen solcher Art erweist sich unsere
Reform-Potenz. Das Schielen auf die Frage, ob auch solche Reaktionen, die
sich ernsthaft auf die Perspektiven des Kindes einlassen, nicht letzten
Endes – wer kann schon guten Wissens behaupten, er wisse wirklich, was
„letzten Endes“
daraus wird? – systemkonform seien,
lenkt ab und hat nur die Funktion, die eigene Reform-Unfähigkeit schon im
voraus zu rechtfertigen. Ein derart schiefer Blick ist auch zynisch. Er
opfert die Fragen, die das Kind uns stellt, |a 118|den
Fragen auf, die wir aus irgendwelchen – meinethalben auch außerordentlich
seriösen – Theorien über Gesellschaft deduzieren. Kurz: Linke Pädagogik ist
etwas anderes als linke Politik, zwar mit dieser zusammenhängend, aber
dennoch eigenen Regeln folgend – wenn überhaupt die Etiketten
„links“
und
„rechts“
hier noch
angebracht sind. Um es einmal sehr grobschlächtig zu sagen: Wenn ich mit
einem Arbeiter in das Problem verwickelt bin, daß er sein Kind schlägt –
orientiere ich mich dann daran, daß er das besser lassen sollte, um das Kind
nicht noch mehr zu verängstigen, seine Möglichkeiten nicht noch mehr
einzuschränken als sie es ohnehin schon sind – oder denke ich, daß durch
solche entbehrungsreiche Erfahrung die Bereitschaft zur Klassen-Solidarität
nicht
„letzten Endes“
gestärkt werde? Rechtfertige ich
dieses Verhalten – was etwas anderes ist als es zu verstehen oder zu
erklären – oder nicht? Die über Rosa
Luxemburg mitgeteilte Anekdote, sie habe dem Bettler den Groschen
nicht geben wollen, weil dadurch seine revolutionäre Energie geschwächt
würde, ist eben eine politische, keinesfalls aber eine
pädagogische Anekdote.
[063:16] Dem zu reformierenden Erziehungs- und Bildungswesen droht deshalb
(vorerst) Gefahr nicht so sehr durch finanzielle Restriktionen, sondern
durch jenen fatalen
„Wirklichkeitssinn“
, der sich auf
Neues nicht einlassen will, der die Chance einer Veränderung fürchtet, weil
in ihr das Risiko des Unvorhersehbaren liegt. Die Bedrohung von
Schulversuchen durch Abbruch oder Reduzierung (z. B. die Labor-Schule in Bielefeld oder die
Glockseeschule in Hannover),
die Angst vor einer Regionalisierung von schulrelevanten Entscheidungen
(Regionales Pädagogisches Zentrum
Aurich), die im Entwurf für ein neues Jugendhilferecht
enthaltenen Vorbehalte für die Erlaubnis, eine Jugendhilfe-Einrichtung
betreiben zu können, die neuen Tendenzen zu wiederum schärferer Auslese an
den Schulen, die Versuche der Einschüchterung oder Verächtlichmachung von
Bürgerinitiativen – dies alles scheint mir als Symptom einer restaurativen
Mentalität, die sich im Augenblick zwar mit aktuellen politischen Interessen
leicht assoziieren läßt, im Grunde aber – jedenfalls bei uns Deutschen –
tiefer sitzt: die Angst vor der möglichen Offenheit der Zukunft.
Diese Angst ist kinderfeindlich; die jüngste Entschließung der CDU zum
„Internationalen Jahr des Kindes“
macht sie nicht zum
Thema, sondern ist eher ein Symptom dafür. Uns fehlt tatsächlich der
„Mut zur Erziehung“
, der pädagogische Mut zu dem Wagnis
nämlich, das jeder ernsthafte und verantwortungsvolle Umgang mit der
heranwachsenden Generation bedeutet.
|a 119|
2.Die unverstandene Jugend
[063:17] Noch vor Beginn der heftigen Reformdiskussionen und der ersten
politischen Schritte hatte Heinrich
Roth die zu wünschende neue Schule eine
„Jugend-Schule“
genannt. Er meinte damit eine Schule, die ihren wesentlichen
Bezugspunkt in der Lebenswelt des jungen Menschen sucht. Was hat die
Pädagogik daraus gemacht? Sie hat das Thema vergessen. Zwar gibt es seit den
50er Jahren eine stattliche Reihe von Jugenduntersuchungen, zumeist von
Soziologen oder Psychologen durchgeführt; Pädagogen haben sich aber in den
letzten Jahrzehnten für Jugendliche meist nur dann interessiert, wenn ihre
„Auffälligkeit“
störend oder wenn professionelles
Wissen für die Planung von Lernprozessen gebraucht wurde. Das ist ein
bildungspolitisch relevantes Versäumnis insofern, als dadurch in gewisser
Weise an der Jugend vorbei reformiert wurde. Wir erfahren zwar gelegentlich
Wichtiges über Halbstarke, Rocker, Hippies, über Subkulturen,
Adoleszenzkrisen, Zunahme von Gewalt, Kriminalität, Verhaltensstörungen,
auch über Apathie und Resignation, neuerdings über schwer verständliche
Formen von Religiosität, Leistungsabfall, Motivationsverlust – das Ganze
aber ergibt kaum mehr als ein fragmentarisches Mosaik, dessen Muster nicht
recht erkennbar werden, das zu einem klaren und verstehbaren Bild – besser:
zu einer Reihe von verschiedenen, aber zusammenhängenden Bildern – sich
nicht zusammenfügen läßt.
[063:18] Neue Institutionen, und seien es auch nur wenig spektakuläre
Änderungen im Detail, ermöglichen nicht nur neue Erfahrungen, erzeugen nicht
nur andere Verhaltensweisen, sondern setzen auch Verhaltensweisen und
Handlungen frei, machen sichtbar, was vordem verborgen blieb; jeder Lehrer,
der eine Sitzordnung, eine Pausenregel, seine Methode, die inhaltlichen
Akzente seines Unterrichts; jeder Heimerzieher, der die Hausordnung ändert,
weiß das. So wurden Reformen vielerorts zu neuen und schwierigen
Erfahrungen, die die Erwachsenen mit der Jugend machten. Sie mußten für sich
selbst nachholen, was an gesellschaftlichem Wissen fehlte. Das gelang
indessen nur gelegentlich. Im ganzen aber – so scheint es – wird uns unsere
Jugend immer schwerer verständlich. Das zeigt u. a. die Reihe der Vokabeln,
mit denen wir seit Kriegsende eher die Verständnisschwierigkeit als eine
auch für produktives pädagogisches Handeln sinnvolle Erfahrung benannt
haben: die
„Skeptischen“
,
„Distanzierten und
Gelangweilten“
,
„Apathischen“
,
„narzißtisch Kränkbaren“
.
|a 120|
[063:19] Es fehlen uns also auch die Muster im Umgang mit der jungen
Generation, mit denen wir auf ihre – und zwar von uns, die wir für den
Zustand der Gesellschaft verantwortlich sind, gemachten – Probleme und auf
ihre problematischen Selbstinszenierungen reagieren können. Wer heute
behauptet, verläßlich zu wissen, wie man mit arbeitslosen, drogenabhängigen,
sektiererischen, leistungsverweigernden Jugendlichen und den vielen
Vorformen davon umgeht, den halte ich für einen Scharlatan. In solcher
Situation wird praktische Pädagogik, wo sie ernst genommen wird, zu einem
Experiment des Erziehers mit sich selbst, zu einer Selbstbefragung im
Hinblick auf seine Handlungskompetenz, seine Kreativität,
seine Selbstkritik, sein Verständnisvermögen,
seine Fähigkeit zu neuer Erfahrung.
3.Die
„Normalität“
[063:20] Es wird, wenn von pädagogischen Reformen die Rede ist, leicht nur
an die Schule gedacht. Daneben aber ist ein Stück Reform
unterblieben, dessen symptomatischer Wert vielleicht wesentlich
größer ist, als man auf Anhieb meinen könnte: Die Abschaffung des
Jugendstrafrechts. Nur die Fachöffentlichkeit weiß noch, daß in den 60er
Jahren, als die Diskussionen um eine völlige Neufassung des
Jugendwohlfahrtsgesetzes begannen, der Gedanke eine große Rolle spielte, auf
die Kriminalstrafe für Jugendliche nahezu ganz zu verzichten und statt
dessen die gesellschaftlichen Interventionen bei
„abweichendem Verhalten“
auf pädagogische Maßnahmen zu
konzentrieren und in einem einzigen Jugendhilfegesetz zu regeln. Davon ist
heute keine Rede mehr. Es hat sich hier etwas Ähnliches abgespielt, wie in
der Curriculumreform: Von den Versuchen, den überlieferten Fächer-Kanon
einer Revision zu unterziehen, an dieser Revision in großem Umfang die
Lehrerschaft zu beteiligen, die Curricula in möglichst dichtem Kontakt zum
Erfahrungsalltag von Schülern und Lehrern zu entwickeln, dem Regionalismus
statt dem Zentralismus eine Chance zu geben, sind nur gelegentlich Spuren
übriggeblieben.
[063:21] Das Gemeinsame in beiden Vorgängen liegt – wenn ich recht sehe –
darin, daß es gegenwärtig hierzulande offenbar unmöglich ist, die Spielräume
für das, was sich in der Tradition als
„Normalität“
eingespielt hat, zu erweitern. Gerät irgendwo
„Abweichung“
in Sicht, ist die Reglementierung rasch zur Hand. Von
der Humboldtschen
„Mannigfaltigkeit“
scheint man bei uns
nur noch insofern etwas zu |a 121|halten, als sie sich der
offiziell zugelassenen Vorstellung von
„Pluralität“
fügt.
Deshalb wird die – in ihren möglichen Ergebnissen natürlich nicht präzise
kontrollierbare – Selbständigkeit von Schulen gebremst, wird der politisch
„abweichende“
Lehrer tunlichst entfernt, wird die
Entwicklung von kleinen Heimen erschwert, muß an der Jugendstrafe
festgehalten werden, wird im Falle der
„Jugendsekten“
zunächst nach Polizei und Richter gerufen.
[063:22] Daß in jeder
„Abweichung“
, besonders auch bei
Kindern und Jugendlichen, auch ein Stück Produktivität enthalten ist, ein
Stück eines eigenen
„Normalitätsentwurfs“
– das zu akzeptieren, fällt uns
schwer. Die hermeneutischen Traditionen der deutschen Geisteswissenschaft
von Schleiermacher über Dilthey und Gadamer bis zu
Habermas sind
offenbar im Ghetto der Hörsäle geblieben. Die Trennung von Theorie und
Praxis ist uns gründlich gelungen. Zwar scheint es, daß
„Kreativität“
– wenigstens rhetorisch – allenthalben begrüßt wird;
Phantasie aber ist verdächtig, zumal dann, wenn sie sich auf soziale
Sachverhalte richtet; könnte sie doch etwas in Bewegung bringen,
Gewohnheiten in Frage stellen! Phantasie läßt sich nicht gut verwalten;
administrierbar wird sie erst, wenn sie den herrschenden Klassifikationen
subsumiert wird, und sei es als
„Devianz“
,
„Apathie“
,
„kommunistisch“
oder
„unpolitisch“
. Man erspart sich dann den, freilich
mühevollen, Versuch, den humanen Gehalt solcher Abweichung, ihren sowohl
kritischen wie produktiven Sinn, zu verstehen und eine ebenso humane Form
des Umgangs mit ihm, bzw. dem jungen Menschen, der ihn – wenn auch
gelegentlich ungeschickt – zur Sprache bringt, zu finden.
[063:23] Auch diese Mentalität sitzt tief. Auch hier ließe sich sagen:
Condorcet versus Rousseau. Im Zweifelsfall
plädieren wir
–
[063:24] für die
„Normalität“
des unauffälligen
Bürgers,
–
[063:25] für die
„Normalität“
der erfolgreichen
Karriere,
–
[063:26] für die
„Normalität“
des Tausches von
Bildung gegen Status und Geld,
–
[063:27] für die
„Normalität“
der
kontrollierbaren Räume,
–
[063:28] für die
„Normalität“
von Lebensläufen,
die sich in den institutionell gesetzten Zeitrhythmen für Lernen und
Erfahrung beugen,
–
[063:29] für die
„Normalität“
überlieferter
Rollenschemata.
[063:30] Individualität gilt als Caprice und erfreut uns nur, wenn sie
leise auftritt oder sich auf ästhetische Darstellungen beschränkt. Ich
glaube weder den affirmativen noch den kritischen Behauptungen, daß bei uns
so etwas wie
„Individualisierung“
eine Rolle spiele.
Vereinzelung – ja das schon eher! Aber Individualisierung: das |a 121|heißt doch das Raumgeben für die Bildung einer
subjektiv bestimmten Individualität, die auch kräftig genug ist, in das
Gemeinwesen verändernd einzugreifen.
Wohin also steuert die Bildungspolitik?
[063:31] Was wird aus der
„Bildungsreform“
, aus der
Reform unseres Erziehungsdenkens und -handelns? Ich weiß es nicht. Wer heute
ernsthaft versucht, an den fortschrittlichen Gehalt der bürgerlichen
Traditionen anzuknüpfen, hat es vermutlich immer schwerer; wer noch in
pädagogischen Modell-Versuchen arbeitet, muß froh sein, wenn er das
Erreichte gerade eben noch bewahren kann; ich fürchte, daß die
Jugendarbeitslosigkeit vorerst ebenso lediglich
„verwaltet“
wird, wie Versetzungs- und Zensuren-Probleme,
Hochschulzugänge, Randgruppenprobleme. Es werden neue Bezeichnungen
auftauchen, die schon für die Lösung gehalten werden; die
„formierte Gesellschaft“
, von der in den
sechziger Jahren die Rede war, scheint mir heute näher denn je. Vom Staat
ist heute vermutlich kaum eine Verbesserung der Bedingungen für
pädagogisches Handeln, für Reformen zu erwarten.
[063:32] Aber
„politisch“
sollte man vielleicht doch
nicht nur die Tätigkeit des Staates und der organisierten politischen
Gruppen nennen. Politisch – wenn auch auf längere Sicht – ist auch die
Tätigkeit der Lehrer, der Eltern und Erzieher selbst. Das Netz ist nicht so
feinmaschig – wie manche uns glauben machen wollen – daß Pädagogen nichts
sind als die Vollstrecker getroffener Entscheidungen, die Agenten von
Institutionen, die Erziehungsfunktionäre des Kapitalismus. Eine derart
deterministische Meinung wäre nicht nur falsch – das wäre zu verschmerzen –
sie wäre auch gefährlich, weil sie eine schleichende Entmündigung der
Pädagogen bewirken könnte; vor allem aber würde dadurch die konkrete
Verantwortung im Umgang mit der jungen Generation der politischen Meinung,
den Sachzwängen, dem Qualifikationsbedarf – oder wie immer die
legitimatorischen Formeln heißen mögen – geopfert. Es gibt die
Schulen, die Heime, die Beratungsstellen, die Kindergärten und Familien, in
denen eine neue Erziehung versucht wird, auch wenn es ihnen nicht leicht
gemacht wird. Bei diesen und nicht bei den Parolen der Parteien,
Verbände und Kadergruppen sollten wir anknüpfen.
[063:33] Bildungspolitik ist freilich ein Dauerthema. Aber schließlich hat
es einige Zeit gedauert, bis sie überhaupt geschichtlich auf den Plan trat.
Es wird also wohl auch einige Zeit brauchen, bis sie sich auf neue
Prinzipien einstellen kann. Dreißig Jahre, was ist das schon!