Condorcet versus Rousseau: Versuch einer Erläuterung der Schwierigkeiten, die ein Pädagoge mit dem Thema haben kann [Textfassung a]
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Condorcet versus Rousseau: Versuch einer Erläuterung der Schwierigkeiten, die ein Pädagoge mit dem Thema haben kann

[063:1]
Ceci n’est pas une pipe
(
Dies ist keine Pfeife
) ist der Titel eines Bildes von R. Magritte, auf dem eine Pfeife zu sehen ist. Aber darf man so sagen? Verbietet nicht gerade die Unterschrift eine solche Formulierung? Ist nicht vielmehr das Abbild einer Pfeife zu sehen? Man stockt schon wieder: Ist es zulässig, vom Bilde zu sagen, es sei das Abbild von etwas? usw. – Die so durch das Bild in Bewegung gebrachte Reflexion war für M. Foucault erregend genug, um darüber einen ausführlichen Essay zu schreiben; nicht etwa nur deshalb, weil hier die Wirkung des ästhetischen Gegenstandes in einer besonderen Art intellektuellen Vergnügens läge, sondern weil – jedenfalls vermute ich das – die ästhetisch-rhetorische Figur des Zeichens, das dieses Bild ist, auf sich selbst zu zeigen, zugleich auf ein wesentliches Merkmal unseres (mindestens des akademischen) Wissens zeigt.
[063:2] Warum diese mit der Sache, von der die Rede sein soll, scheinbar ganz und gar nicht zusammenhängende Einleitung? Ich will die Antwort vorläufig so formulieren: Die
Wirklichkeit
unserer Erziehungs- und Bildungspolitik, das Konzert der Deutungen und Reformprogramme, die Ausrufung (von rechts wie von links) des
Scheiterns
der Reform-Konzepte hat eine (allerdings bedrückende) ästhetische Seite; sie erscheint mir bisweilen als ein paradoxes Spiel von Verweisungen, ein Jonglieren mit Abbildern, Bezeichnungen und Terminologien, die eher sich selbst als die jungen Menschen meinen, um die es angeblich geht –
Ceci n’est pas une pipe
. – Aber es ist nicht erst der öffentliche Diskurs, der dieses Moment enthält, es ist schon der institutionalisierte Bildungsprozeß selbst: Der Beispielsatz im Unterricht bedeutet eher das grammatische Exempel als die Verständigung über eine Erfahrung; die Gruppenarbeit eher
soziales Lernen
als die Lösung eines praktischen Problems; die Propagierung von selbstverwalteten Jugendzentren eher die
politische Perspektive
als die Erfahrung gemeinsamen Vergnügens; der erreichte Bildungsstand eher die gesellschaftliche Karriere |a 114|als die subjektiv bedeutsam erlebte Form der Bildung usw. So zeigt das Bild Magrittes – freilich in der Verkleidung des ästhetischen Problems – auf das, was Bildungsalltag und bildungspolitische Diskussion beständig verschweigen: Auf den Mythos (wie R. Barthes das nennt). Man erkennt ihn u. a. daran, daß er – darin dem Bilde Magrittes entgegengesetzt – seine Machart verschweigt, daß Etikettierungen wichtiger sind als Erfahrungen, daß Konsens und Selbstverständlichkeit vorgetäuscht werden, daß die Sprache abstrakt bleibt, so als verbürge bereits der Terminus die Wahrheit der Behauptung.
  • [063:3]
    Elternrecht
    , um die Herrschaft über die Kinder sicherzustellen;
  • [063:4]
    Augenmaß
    , um Kurzsichtigkeit zur Norm machen zu können;
  • [063:5]
    Rekonstruktionsperiode
    , um sich mit den Details der Bildungsgeschichte nach dem Kriege nicht auseinandersetzen zu müssen;
  • [063:6]
    Reform-Euphorie
    , um die pädagogischen Anstrengungen und Erfahrungen von 1965–1974 ignorieren zu können und sich selbst zu salvieren;
  • [063:7]
    Mut zur Erziehung
    , um das Nachdenken über Erziehung wieder auf ein vorbürgerliches Niveau zu bringen;
  • [063:8]
    Reproduktionssphäre
    , um den Gedanken zu erschweren, daß solche Halbierung der Gesellschaft (in Produktion und Reproduktion) eine pädagogisch unergiebige Klassifikation sein könnte;
  • [063:9] usw.
[063:10] Auch die These, daß durch die finanziellen Restriktionen der letzten Jahre der Reformprozeß gestoppt wurde, erscheint mir problematisch. Zwar läßt sich dem Schein nicht leicht widersprechen; indessen hängt die Triftigkeit der These doch von dem ab, was
Reform
bedeuten soll. Verstehen wir darunter lediglich die
staatlich organisierte Gestaltung und Weiterentwicklung von Erziehungs- und Ausbildungsprozessen
(Baethge), dann hat jene These gewiß viel für sich; aber solche Definition hat wohl praktische Folgen, deren Wünschbarkeit zur Diskussion stehen sollte. Ich will mir allerdings nicht vorbehaltlos Diltheys These zu eigen machen, daß die Reform sich
in den Schulstuben
vollziehe, denn: das Plädoyer für
innere Reform
statt der
äußeren
war schon immer eine konservative Argumentationsfigur. Die Beschränkung auf die
äußere
Reform, auf die organisatorischen Bedingungen, den quantitativen Ausbau, mag indessen für Soziologen ein naheliegender Gedanke sein; dasjenige jedoch, was jede Erziehungs- und Bildungsreform für die darin handelnden Menschen, für deren Vorstellungswelt, Motive, Handlungspläne, für deren Praxis bedeutet, wird auf solche Weise, wenn |a 115|überhaupt, nur sehr unzureichend zum Thema gemacht. Der Alltag vieler Gesamtschulen, die ungeheuren Schwierigkeiten im praktischen Umgang mit Randgruppen, die Beispiele aus der niederländischen Sozialarbeit, die Laborschule in Bielefeld, die Glocksee-Schule in Hannover, die Projekte der Waldorf-Pädagogik, der Strafvollzug in Schweden, die Geschichte der Odenwaldschule, neuerdings die Frauen- und Kinderhäuser, die verzweifelte Anstrengung von Sozialarbeitern, Sozialpädagogen, Therapeuten in der Drogentherapie – dies alles veranlaßt mich, bei
Reform
(oder deren Verhinderung) nicht nur an die staatlichen Kanalisierungen und Reglementierungen, an Sozialstruktur und große Systeme, an Qualifikationsbedarf und Kapitalverwertung zu denken, sondern mit gleicher Intensität an die mögliche Menschlichkeit von neuen Erfahrungen, an die politische und pädagogische Bewegung des Bürgers. Ich denke: Die Mythen unserer akademischen Etikettierungen verstellen uns allzu leicht die Erfahrungswelt derjenigen, über die nachzudenken wir vorgeben.

1. Wirklichkeit und Möglichkeit

[063:11] Ein solcher Gesichtspunkt ist – warum sollte ich das nicht zugeben –
bürgerlich
. Aber was heißt das? Schon im 18. Jahrhundert waren beide Komponenten dessen, was Erziehungs- und Bildungsreform heißen kann, relativ gut ausgearbeitet: Condorcet und Rousseau. Condorcet, in der Tradition des französischen Zentralismus, setzte auf Vergesellschaftung der Bildungsprozesse, auf Arbeitskräftebedarf und verwertbare Qualifikationen – wenngleich mit dem Ziel einer Aufhebung oder Verhinderung der Klassengesellschaft. Rousseau – jedenfalls wo er pädagogisch dachte – setzte auf die Veränderung des Individuums, auf seine Kräfte zu neuer Erfahrung, und sei es zunächst in der Form von Träumen –
Rêveries
– setzte auf die Auseinandersetzung des Subjekts mit sich selbst –
Rousseau juge de Jean-Jacques
:
Wirklichkeitssinn
versus
Möglichkeitssinn
könnte man mit Musil sagen. Auch linke Kritiker der Bildungsreform setzen bisweilen – wie Condorcet – allzu rasch auf den Wirklichkeitssinn (rechte tun das ohnehin); sie kümmern sich um das
Machbare
und unterscheiden sich – gelegentlich – von den Rechten und den Technokraten nur dadurch, daß sie hartnäckig auf die Widerstände hinweisen, die dem Machen-Können entgegenstehen – so als hätte Rousseau nur seine
Diskurse
geschrieben, nicht aber |a 115|den
Emile
, die
Confessions
, die
Rêveries
, als hätten Adorno und Bloch in dieser Frage nicht auch etwas beizutragen gehabt.
[063:12] Mit derart erinnernden Stichworten will ich Folgendes sagen: Wenn
Reform
(= verbessernde Umgestaltung) etwas mit dem Freisetzen von menschlichen Möglichkeiten, mit Phantasie und neuer Erfahrung, mit Emanzipation von zum
Habitus
gewordenen Denk- und Handlungsgewohnheiten zu tun hat, dann muß man die Gegner anders benennen: Es sind nicht nur die Vollstrecker von Kapitalinteressen in den Finanz- und Bildungsressorts (sie haben noch – unter der Bedingung der Nötigung zu effektivem Mitteleinsatz – ein Moment an Rationalität für sich), nicht nur die Kontrolleure von konformen Verhalten in Sozialüberwachung und Konsum (sie mögen noch geltend machen, daß die Abweichung des Bürgers das Chaos befürchten läßt), nicht nur die namenlosen Zwänge einer auf Sozialstatus, Gewinn, Tausch und Verfügung über andere eingespielten sozialen Umwelt – es sind auch diejenigen, die jeden neuen Versuch als angebliche
Alibis
,
Verschleierungen
, als
reformistisch
, als
systemerhaltend
– oder welche Vokabeln immer zur Verfügung stehen mögen – denunzieren. Das begann schon mitten in der Phase, die heute rückblickend als Zeit der in Gang gebrachten Reformen betrachtet wird.
[063:13] Die in solcher
Kritik
enthaltene Frage ist falsch gestellt: Ob die Schule, ob ein neues Heim, eine neue Beratungsstelle usw. letzten Endes
systemerhaltend
sind, ist eine müßige Frage: Pädagogische Einrichtungen sind immer – jedenfalls aber dann, wenn als
System
das Ganze des gesellschaftlichen Zusammenhangs, und zwar dominiert durch die ökonomischen Verhältnisse, betrachtet wird – systemerhaltend; sie folgen in der Regel solchen Verhältnissen nach und sind ihnen allenfalls in mikrosozialen Details voraus. Wer Erziehungs- und Bildungsreformen unter solchem Gesichtspunkt betrachtet, versucht sich in akademischen Trockenübungen; er muß dann geradezu ihr Scheitern konstatieren – schon ehe sie überhaupt begonnen haben. Er hat dann aber eigentlich auch nichts erkannt, sondern lediglich seinen Gesichtspunkt – mag der nun falsch oder richtig sein – expliziert (von dieser Art scheinen mir die frühen
Kritiken
beispielsweise von Beck oder Gamm zu sein). Ist man indessen bereit zuzugestehen, daß eine Änderung von sozialstrukturellen Bedingungen schwerlich durch Erziehung möglich ist, ist damit doch die Reformfrage nicht erledigt. Sie kann beispielsweise so gestellt werden, wie Schleiermacher dies vor gut 150 Jahren tat: Darf das Leben des Kindes, seine Gegenwart und damit die Erfah|a 117|rungsmöglichkeit, die der Augenblick ihm gewähren könnte, einer Zukunft aufgeopfert werden, die allemal von den Erwachsenen und von den von ihnen geschaffenen Institutionen antizipiert wird? Dies ist eine
echte
pädagogische Reformfrage, weil sie die Selbstreflexion der Pädagogen, seien sie nun Wissenschaftler oder Praktiker, erheischt. Sie nötigt uns, unsere Projekte nicht nur nach Maßgabe unseres gesellschaftlichen Wissens, zumal unserer – allemal prinzipiell ungewissen – gesellschaftlichen Prognosen zu rechtfertigen, sondern den Augenblick des Handelns ernst zu nehmen und unser Handeln vor der Wirklichkeit und Möglichkeit dieses Kindes, dieses Jugendlichen zu verantworten.
[063:14] Aber was heißt das? Vermutlich können ein Gesamtschullehrer, ein Heimerzieher, ein Erziehungsberater, ein Elternpaar, ein Sozialarbeiter dazu Genaueres sagen als ich.
Möglichkeit des Kindes
– das ist, auf den Erziehungsalltag bezogen, zwar wenig spektakulär für ein auf große gesellschaftliche Perspektiven erpichtes Publikum, für das Kind aber die ernsteste Wirklichkeit, weil in ihr – zunächst – sich die Erfülltheit seines Lebens zeigt: Darf es wählen, neben wem es sitzen will? Darf es auch von den Eltern des Nebenmannes Verständnis erwarten? Darf es seine Erfahrungen auch im Unterricht undiskriminiert zur Sprache bringen? Darf es vor dem Lehrer furchtlos sein? Werden seine und seiner Freunde Eltern es schaffen, daß in der Straße, die es zum Spielen braucht,
Tempo 30
eingeführt wirrd? Interessiert es den Lehrer, daß sein Vater arbeitslos ist? Kann ich es wagen, meinen Eltern zu sagen, daß ich Haschisch geraucht habe? Verstehen die Erzieher überhaupt, was ich in der Diskothek so toll finde? Ich möchte dem X so gerne helfen, aber wie mache ich das? Der Lärm in der Schule belastet mich ungeheuer – kann man was dagegen tun? Die Sozialarbeiter im Wohnkollektiv halten so viel von Selbstbestimmung, aber sie reglementieren uns dauernd! Das Essen im Heim hat mir selten wirklich gut geschmeckt! usw. Jeder Praktiker könnte diese Aufzählung erweitern, besser formulieren als ich es vermag.
[063:15] An der Reaktion auf Fragen solcher Art erweist sich unsere Reform-Potenz. Das Schielen auf die Frage, ob auch solche Reaktionen, die sich ernsthaft auf die Perspektiven des Kindes einlassen, nicht letzten Endes – wer kann schon guten Wissens behaupten, er wisse wirklich, was
letzten Endes
daraus wird? – systemkonform seien, lenkt ab und hat nur die Funktion, die eigene Reform-Unfähigkeit schon im voraus zu rechtfertigen. Ein derart schiefer Blick ist auch zynisch. Er opfert die Fragen, die das Kind uns stellt, |a 118|den Fragen auf, die wir aus irgendwelchen – meinethalben auch außerordentlich seriösen – Theorien über Gesellschaft deduzieren. Kurz: Linke Pädagogik ist etwas anderes als linke Politik, zwar mit dieser zusammenhängend, aber dennoch eigenen Regeln folgend – wenn überhaupt die Etiketten
links
und
rechts
hier noch angebracht sind. Um es einmal sehr grobschlächtig zu sagen: Wenn ich mit einem Arbeiter in das Problem verwickelt bin, daß er sein Kind schlägt – orientiere ich mich dann daran, daß er das besser lassen sollte, um das Kind nicht noch mehr zu verängstigen, seine Möglichkeiten nicht noch mehr einzuschränken als sie es ohnehin schon sind – oder denke ich, daß durch solche entbehrungsreiche Erfahrung die Bereitschaft zur Klassen-Solidarität nicht
letzten Endes
gestärkt werde? Rechtfertige ich dieses Verhalten – was etwas anderes ist als es zu verstehen oder zu erklären – oder nicht? Die über Rosa Luxemburg mitgeteilte Anekdote, sie habe dem Bettler den Groschen nicht geben wollen, weil dadurch seine revolutionäre Energie geschwächt würde, ist eben eine politische, keinesfalls aber eine pädagogische Anekdote.
[063:16] Dem zu reformierenden Erziehungs- und Bildungswesen droht deshalb (vorerst) Gefahr nicht so sehr durch finanzielle Restriktionen, sondern durch jenen fatalen
Wirklichkeitssinn
, der sich auf Neues nicht einlassen will, der die Chance einer Veränderung fürchtet, weil in ihr das Risiko des Unvorhersehbaren liegt. Die Bedrohung von Schulversuchen durch Abbruch oder Reduzierung (z. B. die Labor-Schule in Bielefeld oder die Glockseeschule in Hannover), die Angst vor einer Regionalisierung von schulrelevanten Entscheidungen (Regionales Pädagogisches Zentrum Aurich), die im Entwurf für ein neues Jugendhilferecht enthaltenen Vorbehalte für die Erlaubnis, eine Jugendhilfe-Einrichtung betreiben zu können, die neuen Tendenzen zu wiederum schärferer Auslese an den Schulen, die Versuche der Einschüchterung oder Verächtlichmachung von Bürgerinitiativen – dies alles scheint mir als Symptom einer restaurativen Mentalität, die sich im Augenblick zwar mit aktuellen politischen Interessen leicht assoziieren läßt, im Grunde aber – jedenfalls bei uns Deutschen – tiefer sitzt: die Angst vor der möglichen Offenheit der Zukunft. Diese Angst ist kinderfeindlich; die jüngste Entschließung der CDU zum
Internationalen Jahr des Kindes
macht sie nicht zum Thema, sondern ist eher ein Symptom dafür. Uns fehlt tatsächlich der
Mut zur Erziehung
, der pädagogische Mut zu dem Wagnis nämlich, das jeder ernsthafte und verantwortungsvolle Umgang mit der heranwachsenden Generation bedeutet.
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2. Die unverstandene Jugend

[063:17] Noch vor Beginn der heftigen Reformdiskussionen und der ersten politischen Schritte hatte Heinrich Roth die zu wünschende neue Schule eine
Jugend-Schule
genannt. Er meinte damit eine Schule, die ihren wesentlichen Bezugspunkt in der Lebenswelt des jungen Menschen sucht. Was hat die Pädagogik daraus gemacht? Sie hat das Thema vergessen. Zwar gibt es seit den 50er Jahren eine stattliche Reihe von Jugenduntersuchungen, zumeist von Soziologen oder Psychologen durchgeführt; Pädagogen haben sich aber in den letzten Jahrzehnten für Jugendliche meist nur dann interessiert, wenn ihre
Auffälligkeit
störend oder wenn professionelles Wissen für die Planung von Lernprozessen gebraucht wurde. Das ist ein bildungspolitisch relevantes Versäumnis insofern, als dadurch in gewisser Weise an der Jugend vorbei reformiert wurde. Wir erfahren zwar gelegentlich Wichtiges über Halbstarke, Rocker, Hippies, über Subkulturen, Adoleszenzkrisen, Zunahme von Gewalt, Kriminalität, Verhaltensstörungen, auch über Apathie und Resignation, neuerdings über schwer verständliche Formen von Religiosität, Leistungsabfall, Motivationsverlust – das Ganze aber ergibt kaum mehr als ein fragmentarisches Mosaik, dessen Muster nicht recht erkennbar werden, das zu einem klaren und verstehbaren Bild – besser: zu einer Reihe von verschiedenen, aber zusammenhängenden Bildern – sich nicht zusammenfügen läßt.
[063:18] Neue Institutionen, und seien es auch nur wenig spektakuläre Änderungen im Detail, ermöglichen nicht nur neue Erfahrungen, erzeugen nicht nur andere Verhaltensweisen, sondern setzen auch Verhaltensweisen und Handlungen frei, machen sichtbar, was vordem verborgen blieb; jeder Lehrer, der eine Sitzordnung, eine Pausenregel, seine Methode, die inhaltlichen Akzente seines Unterrichts; jeder Heimerzieher, der die Hausordnung ändert, weiß das. So wurden Reformen vielerorts zu neuen und schwierigen Erfahrungen, die die Erwachsenen mit der Jugend machten. Sie mußten für sich selbst nachholen, was an gesellschaftlichem Wissen fehlte. Das gelang indessen nur gelegentlich. Im ganzen aber – so scheint es – wird uns unsere Jugend immer schwerer verständlich. Das zeigt u. a. die Reihe der Vokabeln, mit denen wir seit Kriegsende eher die Verständnisschwierigkeit als eine auch für produktives pädagogisches Handeln sinnvolle Erfahrung benannt haben: die
Skeptischen
,
Distanzierten und Gelangweilten
,
Apathischen
,
narzißtisch Kränkbaren
.
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[063:19] Es fehlen uns also auch die Muster im Umgang mit der jungen Generation, mit denen wir auf ihre – und zwar von uns, die wir für den Zustand der Gesellschaft verantwortlich sind, gemachten – Probleme und auf ihre problematischen Selbstinszenierungen reagieren können. Wer heute behauptet, verläßlich zu wissen, wie man mit arbeitslosen, drogenabhängigen, sektiererischen, leistungsverweigernden Jugendlichen und den vielen Vorformen davon umgeht, den halte ich für einen Scharlatan. In solcher Situation wird praktische Pädagogik, wo sie ernst genommen wird, zu einem Experiment des Erziehers mit sich selbst, zu einer Selbstbefragung im Hinblick auf seine Handlungskompetenz, seine Kreativität, seine Selbstkritik, sein Verständnisvermögen, seine Fähigkeit zu neuer Erfahrung.

3. Die
Normalität

[063:20] Es wird, wenn von pädagogischen Reformen die Rede ist, leicht nur an die Schule gedacht. Daneben aber ist ein Stück Reform unterblieben, dessen symptomatischer Wert vielleicht wesentlich größer ist, als man auf Anhieb meinen könnte: Die Abschaffung des Jugendstrafrechts. Nur die Fachöffentlichkeit weiß noch, daß in den 60er Jahren, als die Diskussionen um eine völlige Neufassung des Jugendwohlfahrtsgesetzes begannen, der Gedanke eine große Rolle spielte, auf die Kriminalstrafe für Jugendliche nahezu ganz zu verzichten und statt dessen die gesellschaftlichen Interventionen bei
abweichendem Verhalten
auf pädagogische Maßnahmen zu konzentrieren und in einem einzigen Jugendhilfegesetz zu regeln. Davon ist heute keine Rede mehr. Es hat sich hier etwas Ähnliches abgespielt, wie in der Curriculumreform: Von den Versuchen, den überlieferten Fächer-Kanon einer Revision zu unterziehen, an dieser Revision in großem Umfang die Lehrerschaft zu beteiligen, die Curricula in möglichst dichtem Kontakt zum Erfahrungsalltag von Schülern und Lehrern zu entwickeln, dem Regionalismus statt dem Zentralismus eine Chance zu geben, sind nur gelegentlich Spuren übriggeblieben.
[063:21] Das Gemeinsame in beiden Vorgängen liegt – wenn ich recht sehe – darin, daß es gegenwärtig hierzulande offenbar unmöglich ist, die Spielräume für das, was sich in der Tradition als
Normalität
eingespielt hat, zu erweitern. Gerät irgendwo
Abweichung
in Sicht, ist die Reglementierung rasch zur Hand. Von der Humboldtschen
Mannigfaltigkeit
scheint man bei uns nur noch insofern etwas zu |a 121|halten, als sie sich der offiziell zugelassenen Vorstellung von
Pluralität
fügt. Deshalb wird die – in ihren möglichen Ergebnissen natürlich nicht präzise kontrollierbare – Selbständigkeit von Schulen gebremst, wird der politisch
abweichende
Lehrer tunlichst entfernt, wird die Entwicklung von kleinen Heimen erschwert, muß an der Jugendstrafe festgehalten werden, wird im Falle der
Jugendsekten
zunächst nach Polizei und Richter gerufen.
[063:22] Daß in jeder
Abweichung
, besonders auch bei Kindern und Jugendlichen, auch ein Stück Produktivität enthalten ist, ein Stück eines eigenen
Normalitätsentwurfs
– das zu akzeptieren, fällt uns schwer. Die hermeneutischen Traditionen der deutschen Geisteswissenschaft von Schleiermacher über Dilthey und Gadamer bis zu Habermas sind offenbar im Ghetto der Hörsäle geblieben. Die Trennung von Theorie und Praxis ist uns gründlich gelungen. Zwar scheint es, daß
Kreativität
– wenigstens rhetorisch – allenthalben begrüßt wird; Phantasie aber ist verdächtig, zumal dann, wenn sie sich auf soziale Sachverhalte richtet; könnte sie doch etwas in Bewegung bringen, Gewohnheiten in Frage stellen! Phantasie läßt sich nicht gut verwalten; administrierbar wird sie erst, wenn sie den herrschenden Klassifikationen subsumiert wird, und sei es als
Devianz
,
Apathie
,
kommunistisch
oder
unpolitisch
. Man erspart sich dann den, freilich mühevollen, Versuch, den humanen Gehalt solcher Abweichung, ihren sowohl kritischen wie produktiven Sinn, zu verstehen und eine ebenso humane Form des Umgangs mit ihm, bzw. dem jungen Menschen, der ihn – wenn auch gelegentlich ungeschickt – zur Sprache bringt, zu finden.
[063:23] Auch diese Mentalität sitzt tief. Auch hier ließe sich sagen: Condorcet versus Rousseau. Im Zweifelsfall plädieren wir
  • [063:24] für die
    Normalität
    des unauffälligen Bürgers,
  • [063:25] für die
    Normalität
    der erfolgreichen Karriere,
  • [063:26] für die
    Normalität
    des Tausches von Bildung gegen Status und Geld,
  • [063:27] für die
    Normalität
    der kontrollierbaren Räume,
  • [063:28] für die
    Normalität
    von Lebensläufen, die sich in den institutionell gesetzten Zeitrhythmen für Lernen und Erfahrung beugen,
  • [063:29] für die
    Normalität
    überlieferter Rollenschemata.
[063:30] Individualität gilt als Caprice und erfreut uns nur, wenn sie leise auftritt oder sich auf ästhetische Darstellungen beschränkt. Ich glaube weder den affirmativen noch den kritischen Behauptungen, daß bei uns so etwas wie
Individualisierung
eine Rolle spiele. Vereinzelung – ja das schon eher! Aber Individualisierung: das |a 121|heißt doch das Raumgeben für die Bildung einer subjektiv bestimmten Individualität, die auch kräftig genug ist, in das Gemeinwesen verändernd einzugreifen.

Wohin also steuert die Bildungspolitik?

[063:31] Was wird aus der
Bildungsreform
, aus der Reform unseres Erziehungsdenkens und -handelns? Ich weiß es nicht. Wer heute ernsthaft versucht, an den fortschrittlichen Gehalt der bürgerlichen Traditionen anzuknüpfen, hat es vermutlich immer schwerer; wer noch in pädagogischen Modell-Versuchen arbeitet, muß froh sein, wenn er das Erreichte gerade eben noch bewahren kann; ich fürchte, daß die Jugendarbeitslosigkeit vorerst ebenso lediglich
verwaltet
wird, wie Versetzungs- und Zensuren-Probleme, Hochschulzugänge, Randgruppenprobleme. Es werden neue Bezeichnungen auftauchen, die schon für die Lösung gehalten werden; die
formierte Gesellschaft
, von der in den sechziger Jahren die Rede war, scheint mir heute näher denn je. Vom Staat ist heute vermutlich kaum eine Verbesserung der Bedingungen für pädagogisches Handeln, für Reformen zu erwarten.
[063:32] Aber
politisch
sollte man vielleicht doch nicht nur die Tätigkeit des Staates und der organisierten politischen Gruppen nennen. Politisch – wenn auch auf längere Sicht – ist auch die Tätigkeit der Lehrer, der Eltern und Erzieher selbst. Das Netz ist nicht so feinmaschig – wie manche uns glauben machen wollen – daß Pädagogen nichts sind als die Vollstrecker getroffener Entscheidungen, die Agenten von Institutionen, die Erziehungsfunktionäre des Kapitalismus. Eine derart deterministische Meinung wäre nicht nur falsch – das wäre zu verschmerzen – sie wäre auch gefährlich, weil sie eine schleichende Entmündigung der Pädagogen bewirken könnte; vor allem aber würde dadurch die konkrete Verantwortung im Umgang mit der jungen Generation der politischen Meinung, den Sachzwängen, dem Qualifikationsbedarf – oder wie immer die legitimatorischen Formeln heißen mögen – geopfert. Es gibt die Schulen, die Heime, die Beratungsstellen, die Kindergärten und Familien, in denen eine neue Erziehung versucht wird, auch wenn es ihnen nicht leicht gemacht wird. Bei diesen und nicht bei den Parolen der Parteien, Verbände und Kadergruppen sollten wir anknüpfen.
[063:33] Bildungspolitik ist freilich ein Dauerthema. Aber schließlich hat es einige Zeit gedauert, bis sie überhaupt geschichtlich auf den Plan trat. Es wird also wohl auch einige Zeit brauchen, bis sie sich auf neue Prinzipien einstellen kann. Dreißig Jahre, was ist das schon!