[069:1] E. ist – ähnlich wie die Organausstattung des Menschen oder seine Arbeit
– eine anthropologischer Grundsachverhalt menschlicher Existenz. Der Mensch
kommt nicht fertig auf die Welt; seine eigentümliche
„Instinktoffenheit“
begründet seine Bildsamkeit und damit die
Notwendigkeit der E. Nicht durch Reifung wird der Mensch erwachsen, sondern durch
angeleitetes Lernen. Die Gattung wäre ohne E. so wenig überlebensfähig wie ohne Arbeit. E. nennen wir infolgedessen das Insgesamt von Handlungen zwischen
Erwachsenen und Unerwachsenen, die die kompetente Beteiligung am
gesellschaftlichen Lebenszusammenhang zum Ziel haben. Dieses
Generationsverhältnis ist mindestens durch drei Momente bestimmt – und zwar in
jeder Kultur: Durch das Angewiesensein des menschlichen Organismus auf
Unterstützung in einem relativ (im Vergleich zum Tier) langen und gebrochenen
Bildungsprozeß (Pleßner); durch die prinzipielle (nicht faktische) Offenheit dieses
Prozesses im Hinblick auf seine
„Bestimmung“
(Roth); durch die
Nötigung der Erwachsenen, das Insgesamt der herrschenden Kultur durch ihre
Person und ihre Handlungen in verstehbarer, sinnvoller Form der nachwachsenden
Generation zu repräsentieren (Buber).
Darin ist enthalten, daß E. nicht nur – je nach historischer und soziokultureller Situation –
verschieden ist, sondern auch mißlingen kann: Die Unterstützung kann ausbleiben
oder fehlgehen, die Bestimmung kann zur Dressur entarten oder in Formlosigkeit
zerfließen, die Repräsentanzder Kultur kann dem Erwachsenen mißglücken.
[069:2] In der E. stehen sich die Angehörigen der Generationen indessen nicht
„rein“
gegenüber; das Erziehungsverhältnis ist vielfältig instrumentiert, hat eine
gesellschaftliche Organisationsform. Die Mittel dieser Organisation sind: die
Tätigkeiten der Erwachsenen; die Werkzeuge ihrer Tätigkeiten; die speziell für
Kinder oder von Kindern hergestellten Materialien des Lernens; die Räume für das
erzieherische Handeln; die Zeitperspektiven, die das erzieherische Verhältnis
strukturieren; die Sprache bzw. besondere pädagogische Sprachspiele; die
Körpergesten (Körper) usw. Diese Mittel können auch die Medien der
pädagogischen Interaktion genannt werden. E. ist also zu einem wesentlichen Teil Instrumentieren der
Interaktion zwischen den Generationen. Dabei haben solche Medien
oder Instrumente eine dreifache Funktion: Sie fordern die Bildsamkeit des
Educandus heraus, sie verweisen auf die
Bestimmung des Erziehungsvorgangs, und sie konstruieren die
Erziehungswirklichkeit, die Welt, die der nachwachsenden Generation im
Erziehungsverhältnis repräsentiert wird. Dieser Zusammenhang ist der erziehenden
Generation teils ausdrücklich bewußt und von ihr gewollt, teils gehört er zum
latenten Hintergrundwissen bzw. zur Gewohnheit, Überlieferung, Selbstverständlichkeit gewordenen Lebensform. Die alte
Unterscheidung zwischen
„intentionaler“
(absichtlich
gewollter, geplanter) und
„funktionaler“
(unabsichtlicher,
durch die Lernumwelt geschehender) E. bezeichnet diesen Sachverhalt. Die nichtintentionalen Bestandteile des
Erziehungsvorgangs sind indessen dadurch nicht aus der pädagogischen
Verantwortung entlassen; die erzieherische Generation ist legitimationspflichtig für das Gesamt ihrer Lebensformen, für deren pädagogische
„
Glaubwürdigkeit“
.
[069:3] Es ist evident, daß Struktur und Inhalte der E. in der Geschichte, nach Klassen/Schichten und nach pädagogischen Institutionen variieren. Die Unterscheidung nach
intentionalen und nichtintentionalen Bestandteilen des Erziehungsfeldes, ebenso
das differenzierte Nachdenken über die Medien/Instrumente der E., schließlich auch die Behauptung einer Legitimationspflicht des
Erziehers sind geschichtlich jüngeren Datums. Ihre historische Bedingung liegt
u. a. in der Absonderung einer Erziehungswirklichkeit aus der Welt des
Erwachsenen, der gesellschaftlichen Konstruktion von eigens für den Nachwuchs
gemachten Lernwelten-in der europäischen Geschichte mit Renaissance und
Humanismus einsetzend, von der Pädagogik der bürgerlichen Gesellschaft entfaltet
und durch die weitere Entwicklung der kapitalistischen Industriegesellschaft
gestützt. Die weiteren Entwicklungen waren: die Differenzierung des Haushalts in
die Arbeitswelt der Erwachsenen und die Kommunikationswelt der Familie; die
innere Differenzierung der Familie nach pädagogisch relevanten
Rollen (Kinderzimmer); die Differenzierung von Unterricht und
Schule in Jahrgänge (Klassen), Bildungsty|a 135|pen (dreigliedriges Schulwesen) und Lernfähigkeiten (Sonderschulen); die
Differenzierung der Erziehungsinstrumente (Spielzeug, Lernmaterial, Sprachlabor usw.); die Differenzierung im Zwischenfeld von Familie und Schule brachte das
verzweigte System der Erziehungseinrichtungen der Jugendhilfe hervor,
das wiederum in sich nach je besonderen Arrangements unterschieden ist:
ambulante und stationäre Formen der
„Behandlung“
; offene und
geschlossene Heime; pädagogische und therapeutische Verfahren;
Gesprächstherapie, analytische Therapie, Spieltherapie usw. – Die E. zersplittert auf diese Weise zu einem Kabinett von Techniken; das
erzieherische Verhältnis zwischen den Generationen zerfällt in
Expertenbeziehungen professioneller Berufssparten; die Sinnorientierung (die
Frage nach der
„Bestimmung“
des Educandus) wird reduziert auf die Effektivität spezialisierter Arrangements.
[069:4] Dieses – vermutlich epochale – Dilemma der E. in modernen Industriegesellschaften wird verstärkt durch die sozioökonomische Differenzierung im Europa der
bürgerlichen Gesellschaften nach bürgerlicher und proletarischer E. Die oben skizzierten Tendenzen neuzeitlicher E. setzen sich indessen in beiden Erziehungsformen zunehmend mehr durch
i. S. einer Angleichung (Bronfenbrenner). Diese Angleichung als abgeschlossen zu unterstellen, wäre indessen riskant und würde zu falschen Konsequenzen verleiten. Immer
noch unterscheidet sich – durch den nach wie vor existierenden Klassenantagonismus gestützt – eine bürgerliche von einer proletarischen oder Unterschichterziehungsform. Immer noch befindet sich die proletarische – und nicht die bürgerliche – Lebens- und Erziehungsform unter Druck und ist den Risiken von
Diskriminierung und Disziplinierung nach Maßgabe der dominanten Erziehungswerte
stärker ausgesetzt. Daneben aber gewinnen auch die Differenzen
ethnisch-kultureller oder auch regionaler Erziehungsformen an Bedeutung, nachdem
lange Zeit Nivellierungstendenzen nicht nur faktisch, sondern auch
propagandistisch das Feld beherrschten. Es scheint so, als gebe es für die Überzeugungskraft von Lebensformen
(sozioökonomischer, ethnischer, regionaler Art) und ihrer Erziehungsverhältnisse
eine Legitimationsschwelle: Werden die Orientierungsdaten für den Bildungsprozeß
der nachwachsenden Generation (Erziehungsziele, Bildungsabschlüsse,
Berufskarrieren usw.) derart abstrakt, und werden die Lebenswelten derart
diffus, daß sie nicht mehr als gestalteter sinnvoller Zusammenhang erfahren
werden können, dann wird nicht nur die Repräsentanz der sozial-kulturellen Welt
im Erziehungsprozeß zu einer in der Tendenz unlösbaren Aufgabe, sondern es
zerbröckelt auch die Legitimation der erziehenden Generation; E. wird durch erziehungspolitisches Management ersetzt. Darin
liegt möglicherweise das epochale Dilemma der E
[069:5] Literatur:P. Ariès: Geschichte der Kindheit, München/Wien
1975; S. Bernfeld: Sysiphos oder
die Grenzen der Erziehung, Frankfurt/M 1967;M. Buber: Reden über Erziehung, Heidelberg
1960; A. Flitner/H. Scheuerl (Hrsg.): Einführung in
pädagogisches Sehen und Denken, München 1967; W. Flitner: Die europäischen Lebensformen, München 1966; A. S. Makarenko: Werke, Bd. V, Berlin
1956; K. Mollenhauer u.a.: Die Familienerziehung, München
1975;H. Roth: Pädagogische
Anthropologie, 2 Bde., Hannover 1966 u. 1971.