Nachbemerkung [zu Themenheft Nohl, Neue Sammlung] [Textfassung a]
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Nachbemerkung

[066:1] Der Leser, der bisher den Gedankengängen der Referenten geduldig gefolgt ist, der auf ihren Pfaden durch das Lebenswerk Herman Nohls manchen vertrauten Ort, aber auch überraschendes, gelegentlich gar befremdendes Panorama zu Gesicht bekam, der teils nicht nur dem wissenschaftlichen Werk, sondern auch dem Hochschullehrer und der Person Herman Nohl verbunden war, teils aber wohl auch in wissenschaftlicher Distanz, was er veröffentlicht hatte, nur unter dem Gesichtspunkt von Gültigkeit und Genauigkeit der Argumentation sich aneignen mochte – dieser Leser, oder diese Mannigfaltigkeit von Lesern, könnte am Ende doch ungeduldig geworden sein. Ähnlich erging es vermutlich den vielen Teilnehmern des Kolloquiums.
[066:2] Diese Mannigfaltigkeit, diese Irritation, diese Kontroversen, diese Ambivalenzen – sie charakterisieren nicht nur, denke ich, das lesende, redende oder zuhörende Publikum, sie charakterisieren auch die Eigentümlichkeit dieser für die deutsche Pädagogik wichtigen Gestalt
Herman Nohl
. Bedeutsam wurde sie für uns ja in sehr verschiedenen Hinsichten:
  • [066:3] Als Schüler Diltheys hat er dessen Ansätze zu einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik und damit eine der möglichen Perspektiven künftiger Erziehungswissenschaften energisch zur Diskussion gestellt.
  • [066:4] Er hat damit der nachwachsenden Generation von Pädagogen in Praxis und Theorie, besonders aber denen, die an den Reformen des Erziehungswesens sich beteiligten, eine Unterstützung durch die wissenschaftliche Reflexion angeboten.
  • [066:5] Er hat schließlich – als Hochschullehrer – praktisches Engagement vermittelt und eine personale Wirksamkeit von eindrucksvoller Intensität gehabt, damit aber an einer nicht nur theoretisch begründbaren, sondern auch praktisch folgenreichen Identität des Pädagogen als Angehörigem eines Berufsstandes mitgewirkt.
[066:6] Die Zeit der
Schulen
scheint vorüber zu sein: Es gibt aus den letzten Jahrzehnten wohl nur noch wenige Gelehrte, die diese Funktionen eines Hochschullehrers erfüllen konnten: die Vermittlung eines wissenschaftlichen Begründungszusammenhanges, die Darstellung eines solchen Zusammenhanges des Wissens und Argumentierens im Hinblick auf dessen praktische Relevanz und das akademische Lernen als Erwerb einer Identität, deren der Pädagoge zumal in der Herausforderung durch die je nächste Generation bedarf.
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[066:7] Mit solchen Hinweisen aber ist auch schon die historische Distanz gesetzt. Wir sollten – auch aus Anlaß eines Jubiläums – Tradition uns nicht als ungebrochene anzueignen versuchen. Die bloße Rechtfertigung wäre ein unangemessener und der Bedeutsamkeit der Gestalt Herman Nohl unwürdiger Versuch. Produktive und darin auch kritische, auch verändernde Aneignung der Tradition ist nicht nur besser, sondern sogar ein pädagogisches Prinzip. Dies hat Theodor Schulze versucht – wenngleich freilich mit den Risiken, die in jeder Produktivität liegen. Daß dazu die Generationen – die akademischen Weggenossen, Schüler, Enkel und Urenkel – je eine andere Stellung haben, ist nur natürlich, ist dem historischen Wandel der Generationen geschuldet. Die Herausforderung, die das Denken Herman Nohls für uns, die wir ihn heute wieder lesen, bedeutet, ist deshalb auch eine Herausforderung unserer Selbstkritik:
  • [066:8] Wer ihn als den Pädagogen liest, der identitätsverbürgende Sicherheit in dem Bemühen um die rechte Erziehung anbot, mag sich fragen, ob ein solches Angebot auch unter gegenwärtigen Bedingungen noch hilfreich ist, oder gar, ob es vielleicht damals schon nur die Identität der bürgerlichen Existenz gewesen ist.
  • [066:9] Wer ihn als den Vermittler zwischen theoretischer Begründung und praktischer Orientierung liest, mag sich fragen, ob wir wirklich solche Begründungen noch aufrecht erhalten können; ob sie nicht nur
    klassisch
    , sondern auch hinreichend konkret sind, um auch heute noch Orientierungen zu sein; ob damals wie heute die Pädagogik einen Stand des Denkens hat, der den benachbarten Wissenschaften ebenbürtig ist.
  • [066:10] Wer ihn schließlich als Dilthey-Schüler, als Autor der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, als Wegmarke in der Geschichte des pädagogischen Denkens, als zur wissenschaftlichen Argumentation verpflichteten Universitätslehrer liest – und zu dieser Sorte von Lesern gehöre ich –, der mag sich folgende Fragen stellen: Ist es nicht gelegentlich und in bestimmten historischen, auch wissenschaftsgeschichtlichen Momenten wichtiger oder gar historisch geboten, die genaue wissenschaftliche Argumentation zurücktreten zu lassen hinter dem – freilich riskanten – Entwurf einer Perspektive des pädagogischen Handelns und Denkens und einer – freilich eigenwilligen – Deutung der Geschichte im Dienste eines solchen Entwurfs? Und ist es nicht vor allem eine Aufgabe des akademischen Lehrers, das Denken im Hinblick auf das Handeln zu lehren?
[066:11] Die größte Herausforderung an uns – Nohls Hochschullehrer-Enkel – ist denn doch wohl dies: die Tatsache, daß er nicht nur das Nachdenken über Erziehung lehrte, sondern seine Schüler zu verantwortlicher Erziehungspraxis herauszufordern vermochte.