Thesen zu den Prinzipien eines Konzeptes offener Jugendarbeit [Textfassung a]
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Thesen zu den Prinzipien eines Konzeptes offener Jugendarbeit

I.

  1. 1.
    [V52:1] Der gesamte Prozeß des Heranwachsens, von der Geburt bis zum Erreichen des Erwachsenen-Status ist durch zwei für unsere geschichtliche Lage charakteristische, aber gegenläufige Tendenzen belastet: Privatisierung und Verstaatlichung.
  2. 2.
    [V52:2] In diesem Prozeß tritt eine Alternative immer deutlicher hervor: die offizielle oder halboffizielle, jedenfalls öffentlich kontrollierte kulturelle und pädagogische Versorgung des Kindes- und Jugendalters auf der einen – und die private Verfügung über den Sozialisationsprozeß in den Primärgruppen (vor allem der Familie) auf der anderen Seite. Das findet seinen – wie mir scheint etwas unreflektierten – Ausdruck in dem Familienzentrismus des Entwurfs für ein neues Jugendhilfe-Recht.
  3. 3.
    [V52:3]
    Belastend sind solche Tendenzen deshalb, weil eine Problemzone entsteht, für die wir keine
    bewährten
    Lösungsmuster zur Hand haben. Das zeigt sich (bezogen auf die Familie) mindestens an drei Stellen:
    • Das Eindringen institutioneller Erwartungen (z. B. der Schule und Vorschule) in die Familie und deren mangelhafte Fähigkeit, solche Erwartungen flexibel zu verarbeiten.
    • Das Festhalten an einer relativ starren
      Gruppengrenze
      und die damit zusammenhängende Individualisierung von Problemfragen.
    • Die immer früher einsetzenden familienfugalen Tendenzen von Jugendlichen.
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II.

  1. 1.
    [V52:4] Das Jugendalter ist u. a. gesellschaftlich dadurch definiert, daß es unmittelbar vor der kompetenten Beteiligung am System gesellschaftlicher Produktion und Arbeitsteilung liegt. Seine Probleme haben es also zu tun mit der Definition und der Funktion von Arbeit in unserem gesellschaftlichen Zusammenhang.
  2. 2.
    [V52:5] Das betrifft aber nicht nur das Jugendalter, sondern – von diesem aus rückwirkend – auch die vorhergehenden Stadien der individuellen Bildungsverläufe.
  3. 3.
    [V52:6] Meiner Vermutung nach wird in Zukunft für die Art der damit zusammenhängenden Jugendhilfe-Probleme entscheidend sein, von welcher Bedeutung
    Arbeit
    für die individuellen Lebensentwürfe ist.
    Mindestens Folgendes läßt sich meines Erachtens für die Zukunft vermuten: Die Bedeutung der Arbeit als sinnstiftende und Identität verbürgende Tätigkeit wird abnehmen (vgl. Arbeitslosigkeit, instrumentelle Orientierung, Rationalisierung, Arbeitsplatzmobilität). Gilt noch bis in die Gegenwart hinein die Tatsache, einen
    Beruf
    zu haben, als Ausweis für die Zugehörigkeit zu den Erwachsenen, so beginnt in der jungen Generation – freilich läßt sich das gegenwärtig nur vermuten – ein Prozeß der Neu-Definition: Das entscheidende Orientierungsdatum liegt immer weniger darin, einen bestimmten, eigenen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Beruf zu haben, als vielmehr darin, sich am gesellschaftlich möglichen Konsum beteiligen zu können.

III.

  1. 1.
    [V52:7] Der Identitäts-Unsicherheit, die mit der Verschiebung der Bedeutung von Arbeit zusammenhängt und der Bedrängnis, in die das heranwachsende Subjekt angesichts der
    Parzellierung
    des Erziehungssystems gerät, entspricht die Bedeutung, die – für Jugendliche, aber auch schon für die Zehn- bis Dreizehnjährigen –
    alternative Lebensformen
    gewonnen.
  2. 2.
    [V52:8] Die Legitimationskraft unserer pädagogischen Institutionen nimmt – wie ich vermute – in dem Maße ab, in dem es ihnen nicht mehr gelingt, sich – etwas altväterisch ausgedrückt – auf den ganzen Menschen einzustellen. Diese Tendenz erfaßt aber nicht nur die öffentlichen Bildungseinrichtungen, die Betriebe, die Warenmärkte, sondern auch die Familie, und zwar deshalb, weil auch sie sich von den Erwartungen der Institutionen vereinnahmen läßt.
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  4. 3.
    [V52:9] Jugendliche neigen deshalb immer stärker dazu, sich Alternativen zuzuwenden, die in ihren Augen bessere Legitimität anzubieten haben: subkulturelle Orientierungen, konsumorientierte Cliquen, gelegentlich auch Banden oder Gruppen mit aggressiven Tendenzen, religiöse Sekten oder auch quasi-politische Gruppen mit Heilsversprechen, oder einfach Gleichaltrigengruppen, die ohne institutionelles Korsett noch die Artikulation von Bedürfnissen erlauben.
  5. 4.
    [V52:10] Jugendarbeit – zumal offene Jugendarbeit – hat es deshalb auch immer mit
    Normalitätsentwürfen
    der Jugendlichen zu tun, die mit den Adoleszenzkrisen auftauchen und in denen der Jugendliche die Wirklichkeit seiner Gegenwart mit der Möglichkeit seiner Zukunft zu vermitteln sucht.

IV

  1. 1.
    [V52:11] Da solche Normalitätsentwürfe sich vorwiegend in der Form experimentierender Phantasie darstellen, mit der Kreativität des Jugendlichen, bezogen auf seine sozialen Beziehungen, verknüpft sind, sollte die Phantasietätigkeit eines der wesentlichen Themen von Jugendarbeit sein.
  2. 2.
    [V52:12] Ein solches Interesse ist indessen nicht nur mit dem einzelnen Jugendlichen konfrontiert, sondern auch mit der Tatsache, daß die produktiven Bestandteile solcher Phantasie beständig in Gefahr sind, von den Angeboten des Warenmarktes
    aufgesogen
    zu werden. Das gilt auch für den gleichsam
    weltanschaulichen Markt
    .
  3. 3.
    [V52:13] Da Phantasietätigkeit immer auch ein Moment von
    Flucht aus der Wirklichkeit
    enthält, angesichts dessen man zweifeln mag, ob es wünschbar sei, liegt die Gefahr eines falschen Realismus nahe: die Meinung, nur solche Gehalte der Jugendarbeit seien zulässig und legitimierbar, die der täglichen,
    empirischen
    Erfahrung des Jugendlichen zugehören. Dem ist entgegenzuhalten, daß zur Wirklichkeit der Adoleszenz die Phantasie nicht minder gehört.
  4. 4.
    [V52:14] Die Phantasietätigkeit drückt sich allemal in bestimmten Medien symbolisch aus. Erst über solche Ausdrucksmittel wird die Phantasie zu einem
    bearbeitbaren
    Bestandteil des Bildungsprozesses. Die Jugendarbeit müßte dehalb mit besonderer Sorgfalt sich den Darstellungs-Medien für die jugendliche Phantasietätigkeit zuwenden.
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V

[V52:15] Aus diesen Thesen gewinne ich die folgenden Problemstellungen für die Jugendarbeit:
  • [V52:16] Die Jugendarbeit muß Auswege aus der Parzellierung unseres Erziehungssystems suchen, Zwischenräume im Netz der staatlichen Kontrolle des Sozialisationsprozesses finden.
  • [V52:17] Sie muß sich die Identitäts-Probleme zum Gegenstand machen, die sich auf den Erwachsenen-Status beziehen.
  • [V52:18] Sie muß Experimentierformen für alternative Lebensentwürfe zulassen und unterstützen.
  • [V52:19] Sie muß didaktische Formen finden, die kreative Formen der Selbstdarstellungen, experimentierende Antworten auf die Frage
    Wer bin ich?
    erlauben.
[V52:20] Für die Planung der Jugendhilfe ergibt sich daraus eine Art Katalog von Kenntnissen, die wir brauchen, um sachangemessen planen zu können:
  • [V52:21] Wir müssen wissen, welche Bedürfnisse von der parzellierten pädagogischen Versorgung ausgespart bleiben und welche Verbiegungen jene Parzellierungen in der Selbstdeutung von Jugendlichen hervorrufen.
  • [V52:22] Wir müssen wissen, wie Jugendliche sich zur Problematik von Arbeit und Arbeitslosigkeit stellen, und welche Funktion diese Vorstellungen im Rahmen ihrer Lebensentwürfe haben. Vor allem müssen wir wissen, wie sich solche Vorstellungen und Bedeutungen unterscheiden, je nachdem, im Rahmen welcher ökonomischen und sozialen Infrastruktur der Jugendliche heranwächst.
  • [V52:23] Wir müssen wissen, welche Alternativ-Phantasien Jugendliche haben, und ob sie überhaupt solche Phantasien haben und in welchen Gesellungsformen solche Phantasien am ehesten zum Ausdruck kommen, wie sie sich zur sogenannten
    Realität
    verhalten und was in ihnen an produktivem Potential enthalten ist.
  • [V52:24] Wir müssen darüber nachdenken und dieses Nachdenken durch experimentierende Praxis unterstützen, in welchen Darstellungsformen sich heute die Kreativität von Jugendlichen ausdrücken kann und welche projektiven Gehalte dabei zur Sprache gebracht werden.
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[V52:25] Dies ist freilich kein vollständiger Problemkatalog, auch ist er gewiß nicht hinreichend, um Planungsüberlegungen systematisch an sie anknüpfen zu können; er thematisiert aber vielleicht einige Komponenten des Feldes außerschulischer Jugendarbeit, die gegenwärtig weniger im Fordergrund stehen. Insofern könnte er vielleicht eine nützliche Ergänzung sein.