[V55:1] Gibt es eine pädagogische Phänomenologie der
„Verwahrlosung“
? Sieht man sich in der jüngeren und älteren Literatur
um, fällt eine rasche Antwort schwer. Die Verwahrlosungsforschung ist ein
schwieriges und umständlich zu lesendes Kapitel der Geschichte pädagogischen
Nachdenkens; aber es ist ein lehrreiches Kapitel.
[V55:2] Die Wortbedeutung von
„Verwahrlosung“
zeigt noch
Spuren der Herkunft des Begriffs aus einem pädagogischen Denken, in dem die
Vorgänge der Erziehung und Bildung an das Hauswesen, an die materielle und
sittliche Ordnung der unmittelbar erfahrbaren Umwelt gebunden waren. Als
„verwahrlost“
galt, wem der Schutz und die Sorge solcher
Ordnung nicht zuteil wurde, vor allem also arme, vagabundierende, bettelnde
Kinder.
[V55:3] In dem Maße aber, in dem Erziehung als ein planvolles Handeln
verstanden wurde, als ein Treatment, das
sich auf das einzelne Kind, dessen Verhalten es zu regulieren galt,
richtete, wurde
„Verwahrlosung“
zur schlechten
Eigenschaft, die zum Verschwinden gebracht, mindestens aber
„gebessert“
werden mußte. Soll so etwas absichtsvoll und nach
erfolgversprechendem Plan geschehen, bietet sich die Wissenschaft an, die
systematische Erfahrungen mit solchen Kindern und Jugendlichen sammelt. Das
waren zunächst Psychopathologie und Psychologie, später auch die
Psychoanalyse. Es entstand jener Typus von
„Phänomenologie“
, der nichts war als eine aus den
Klassifikationssystemen jener Wissenschaften abgeleitete Symptomatologie
individueller Verhaltensdefizite.
[V55:4] Es blieb freilich nicht bei den Phänomenbeschreibungen; da es ja zu
„bessern“
galt, mußten therapeutische Strategien
entworfen und zu diesem Zweck Ursachen ermittelt werden. Auch dafür konnten
sich die genannten Wissenschaften als kompetent empfehlen. Und als deutlich
wurde, daß die zu erklärenden Phänomene nicht nur eine Individual- sondern
auch eine Sozio-Genese haben, gesellte sich zu ihnen die Soziologie dazu:
Verwahrlosung wurde zum Thema der Sozialisationsforschung als Erforschung
gesellschaftlicher Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten; neue
Deutungsmuster entstanden, bis hin zur sogenannten
„Labeling-Theorie“
, nach der dissoziale Karrieren eine Folge von
Zuschreibungen sein sollen.
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[V55:5] Indessen blieb doch das Elend der Kinder und Jugendlichen, die in
Heimen versorgt wurden. Es gab deshalb, neben dieser szientistischen, immer
auch – jedenfalls in diesem Jahrhundert – eine
„alternative“
Literatur zum Problem: In Erzählungen, in
Theater-Stücken, in autobiographischen Aufzeichnungen entfaltete sich eine
Phänomenologie der Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen in
Erziehungsanstalten, in der versucht wird, das subjektive Erleben und die
Erfahrung zurückzugewinnen, die in den Abstraktionen der wissenschaftlichen
Theorien verloren gegangen waren. Freilich sind solche narrativen
Darstellungen interpretationsbedürftig; sie sind es jedenfalls dann, wenn
wir unterstellen, daß auch zwischen Betroffensein und Begreifen ein
Unterschied besteht.
[V55:6] Aber was muß begriffen werden? Vor allem: Was muß in
pädagogischer Absicht begriffen werden, wenn es um
„Verwahrlosung“
,
„Dissozialität“
,
„Abweichung“
usw. geht? Die Antwort Schleiermachers scheint mir heute so gültig zu sein wie 1826: begriffen muß werden der Bildungssinn des einzelnen Lebensmomentes im Zusammenhang seiner voraufgegangenen und der für die Zukunft antizipierbaren Momente; und: ein solches Begreifen oder Verstehen ist anders als hermeneutisch nicht möglich.
[V55:7] Marianne Kieper
versucht in dieser ihrer Arbeit zu zeigen, was das heißt, und zwar in einem
nicht-szientistischen aber dennoch rational-hermeneutischer Argumentation
zugänglichen Sinne.
[V55:8] Die erste Maxime einer solchen Interpretation ist: Respekt vor der
Individualität (der
„Eigentümlichkeit“
, oder in moderner
Terminologie: der
„Identität“
) des zu Interpretierenden,
auch dort, wo Rechtfertigungen versagen, auch dann, wenn Erklärungen nicht
zur Hand sind.
[V55:9] Der Verzicht auf Rechtfertigungserwartungen und die Enthaltsamkeit
von szientistischen Erklärungen gehören zu der heuristisch-methodischen
Haltung, die eine pädagogische Phänomenologie von Verwahrlosung erst möglich
machen. Für die pädagogische Theorie der Romantik war das ein wesentlicher
Grundsatz, der die Einstellung zur jungen Generation überhaupt betraf. Adorno hat auf die kritische
Funktion dieser Haltung hingewiesen. Und Sartre hat, in unübertroffener Meisterschaft, in
seiner Deutung des Lebens Gustave
Flauberts gezeigt, wie so etwas in
vollendeter Gestalt aussehen könnte. Bedingung für das Gelingen ist, daß |a 9|noch im verkehrtesten Leben die Selbsttätigkeit, die
produktiven Anteile des Kindes oder des Jugendlichen gesehen und verstanden
werden, was überhaupt erst Erziehung als eine menschliche Tätigkeit möglich
macht. Im Vergleich zu Sartres monströsem Opus sind
„Eva“
und
„Lina“
freilich Miniaturen – aber in der richtigen
Richtung. Und sie zeigen: der
„verwahrloste“
Jugendliche,
das ist immer auch der Interpret in seiner anderen, seiner dunkel
gebliebenen Gestalt.