[Rezension von] Norbert Herriger (1979). Verwahrlosung. Eine Einführung in Theorien sozialer Auffälligkeit [Textfassung a]
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Norbert Herriger: Verwahrlosung. Eine Einführung in Theorien sozialer Auffälligkeit. München: Juventa 1979. 216 S., DM 16,–.

[V54:1] Ziel der Devianzforschung solle es sein – so heißt es im letzten Satz des Buchs von Herriger –,
die Grundlagen für eine aufgeklärte Praxis des gesellschaftlichen Umgangs mit den Formen kindlicher und jugendlicher Abweichung zu schaffen
. Was ist eine
aufgeklärte Praxis
, und was ist
gesellschaftlicher Umgang
mit Abweichung? Seinen Darstellungs- und Argumentationsweg nimmt der Autor über drei Stufen der jüngeren Forschungsgeschichte. Er nennt sie
Modelle
oder
Paradigmata
, verschafft sich also – wie heute gebräuchlich – mit der Vorstellung Th. Kuhns von der Natur wissenschaftlicher Revolutionen einen
wissenschaftstheoretischen Bezugsrahmen
(S. 16 ff.)
. Die drei zur Darstellung gebrachten Modelle sind das
medizinische
, das
sozialisationstheoretische
und das Modell der
Labeling-Perspektive
. Dabei erweist sich die Tatsache, daß die drei Modelle zeitlich nacheinander von der Devianzforschung favorisiert wurden, als glücklicher Umstand: Es läßt sich eine Art geschichtlicher Fortschritt, der nicht nur ein Fortschritt im Wissen, sondern auch ein moralischer sei, vom ersten zum dritten konstruieren bis hin zu einer
aufgeklärten Praxis
, die ihre Begründung in einem vierten
integrativen Modell
– in dem Buch freilich nur erst skizziert – finden könne. Der Autor favorisiert natürlich dieses vierte Modell, in dem die Labeling-Perspektive dominiert; wiederum ein glücklicher Umstand, kann er sich doch auf diese Weise selbst am fortgeschrittensten Ort der Wissenschaftsgeschichte lokalisieren.
[V54:2] Das ist die rhetorische Grundfigur des Buchs. Ich will sie nicht dem Autor zurechnen, der darin schließlich nur einem Muster wissenschaftlicher Selbstdarstellung folgt. Problematisch indessen wird solche Rhetorik, wenn es Gründe gibt, anzunehmen, daß sie der intendierten Sache nicht ganz gerecht wird – und das ist in diesem Fall die
Verwahrlosung
von Kindern und Jugendlichen, ihre Erscheinungsformen, ihre Ursachen, vor allem aber die Frage, wie wir uns
auf anständige Weise
– ich darf mich einmal so altertümlich ausdrücken – diesen Kindern und Jugendlichen gegenüber verhalten. Die Sachlage rechtfertigt keinen Optimismus, und sie macht auch wissenschaftliche
Paradigma
-Diskussionen verdächtig; verdächtig nämlich einer Flucht in die theoretische Kontroverse, um sich der Hilflosigkeit unserer szientistischen Konstrukte nicht allzu ungeschützt aussetzen zu müssen. Gerade weil das Buch Herrigers dort, wo es informiert, in der Regel zuverlässig ist, gerade weil die Argumentation im ganzen sorgfältig, die Diktion präzise und die innere Gliederung nach je begrifflichem Rahmen, Forschungsfragen und -ergebnissen, konkreter Veranschaulichung und praktischer Bedeutsamkeit überzeugt, aber auch weil es typisch ist für eine Literatur-Gattung, die es bei uns nun seit ungefähr einem Jahrzehnt schon gibt, möchte ich an seinem Beispiel einige Mißlichkeiten der Devianz-Diskussion andeuten, und zwar nach drei Richtungen hin: (1) Darf man den Wechsel der
Paradigmata
oder
Modelle
wirklich als Fortschritt deuten? (2) Und wenn es schon so ist: Wie sollte man mit Theorien umgehen, denen man selbst nicht anhängt? (3) Welchen Zweck können und sollten Verwahrlosungstheorien sinnvoll verfolgen?
[V54:3] Kürzlich war in der
Frankfurter Rundschau
zu lesen, daß auf einer Zusammenkunft der Drogenberatungsstellen diese erklärt hätten, sie seien mit ihrer Arbeit
gescheitert
. Aus den Forderungen, die dabei an den Gesetzgeber und an die Administrationen der Jugendhilfe gerichtet wurden, ging hervor, daß sie ihre Arbeit nicht nach |a 140|dem
medizinischen Modell
interpretieren, sondern das
sozialisationstheoretische
bzw. die
Labeling-Perspektive
bevorzugen. Solche und ähnliche Beobachtungen aus dem Bereich der ambulanten und stationären Jugendhilfe geben Anlaß zu der Vermutung, daß es nicht unbedingt sinnvoll ist, die verschiedenen theoretischen Modelle im Sinne einer fortschrittlichen Aufeinanderfolge zu ordnen, wobei für das je fortschrittlichere immer unterstellt wird, daß es theoretisch mehr erklären kann und praktisch erfolgreicher ist. Das ist eine windige Unterstellung, zumal die an das
medizinische Modell
sich anschließende Praxis entschieden mehr enthält als nur das, was aus den somatischen Variablen des Modells folgt. (Kinder- und Jugendpsychiater geben in der Regel in ihren Gutachten Empfehlungen, die sich auch auf das künftige soziale Milieu des Kindes oder Jugendlichen beziehen; eine Tatsache, die man bei Herriger zwischen den Zeilen lesen muß und die eine analysebedürftige pragmatische Theorie pädagogisch-sozialer Umwelten enthält.) Wir sollten uns also eingestehen, daß wir über die Wirkung von Maßnahmen einer
Pädagogik der Verwahrlosten
viel zu wenig wissen, um zuverlässige vergleichende Urteile über den Erfolg jener drei Modelle fällen zu können. Und warum eigentlich sollen es nur drei sein, denen der Status des
Paradigmas
zugeschrieben wird? Geht die materialistische Variante im sozialisationstheoretischen, die verhaltenstherapeutische im medizinischen auf? Oder sind es vielleicht überhaupt nur zwei Paradigmen, nämlich ein linear-kausalistisches und ein systemtheoretisch-interaktionistisches?
[V54:4] Angesichts solcher Fragen kann die Konstruktion von Fortschritt nur durch argumentative Erschleichungen gelingen. Interessant ist, mit welcher Mühe sich Herriger daran macht, das medizinische Modell als haltlos darzustellen. Das geht – erfreulicherweise – bis in die methodische Kritik dieses Forschungstyps. Es wird beispielsweise und mit Recht behauptet, daß bei den Untersuchungen zu den somatischen Komponenten von Verwahrlosung (besonders S. 61 ff.)) die Korrelationen in der Regel niedrig seien, Vergleichsgruppen fehlten und überhaupt der Vergleich der Untersuchungen untereinander wegen ihrer methodischen Verschiedenartigkeit Schwierigkeiten bereite, deshalb also als argumentative Stütze des medizinischen Modells wenig verläßlich sei. Nun ist man natürlich gespannt, wie es mit der Zuverlässigkeit der Behauptungen des
sozialisationstheoretischen Modells
und der
Labeling-Perspektive
bestellt ist. Allein: Hier hat den Verfasser sein kritisches Vermögen verlassen. Es ist keine Rede mehr von Kontrolluntersuchungen und Korrelationen; jetzt wird nur noch aus Theorien und häufig aus Untersuchungen, die gar nicht Verwahrlosung, sondern viel allgemeiner spezifische Sozialisationsstile zum Gegenstand hatten, geschlußfolgert. So erfahren wir beispielsweise nicht, daß die ermittelten Korrelationen in Untersuchungen zu sozialstrukturellen Bedingungen sozialer Auffälligkeit von Kindern und Jugendlichen selten mehr als 20% der Varianz aufklären. Vielleicht hegt das daran, daß der Autor sich hier allzu rasch auf Sekundärliteratur verläßt (H. Keupp, T. Moser, P. Milhofer, W. Gottschalch usw.), die in solchen Fragen auch nicht gerade pingelig ist. Durch solche Großzügigkeit – Floskeln wie
aus einer ganzen Reihe von Untersuchungen geht übereinstimmend hervor, daß ...
(hier ist offenbar Vergleichbarkeit problemlos gegeben) wirken eher wie Rechtfertigungen, nicht aber wie Begründungen – im Hinblick auf die eigenen Optionen verliert die harte Kritik am medizinischen Modell ihre Glaubwürdigkeit. Und da in der Zukunftsvision eines
integrativen
vierten Paradigmas – es soll uns gar eine
umfas|a 141|sende
(was ist das?) Devianzkonzeption bescheren – nur noch die sozialisationstheoretischen/sozialstrukturellen und die interaktionistischen (Labeling-)Gesichtspunkte auftauchen sollen, gewinnt der nun doch verdutzte pädagogische Leser den Eindruck, es handele sich nicht um eine theoretisch abwägende Vergleichung der Zuverlässigkeit von Behauptungen verschiedener Modelle, sondern um einen Glaubenskrieg auf geduldigem Papier. Wie anders wäre sonst zu verstehen, warum der Autor ohne jeden Versuch einer Prüfung folgenden Allerweltssatz H. Keupps zustimmend zitiert:
Das soziale Interesse, das hinter der Kontrolle abweichender Verhaltenstendenzen steht, ist identisch mit dem, das die Bestanderhaltung der gegebenen Sozialstruktur anstrebt, die durch die in ihr produzierten Spannungen abweichende Strategien der Situationsbewältigung ausgelöst oder erzwungen hat
(S. 199)
. Ein solcher Satz hat nur noch legitimatorische Bedeutung; er soll das Terrain der Verwahrlosungsforschung für die Fach-Soziologen sichern und konkurrierende
Paradigmata
als
Mythen
oder
Ideologien
diskriminieren; in Wahrheit enthält er keine Erkenntnis, sondern ist eine Definition. So hat man vom Interaktionismus wenigstens die Technik des
Labeling
gelernt, freilich nur in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und zu einem guten Zweck, versteht sich!
[V54:5] Aber zu welchem Zweck? Nun – der Autor sagt es: eine
aufgeklärte Praxis
. Ist das nun auch wieder nur eine soziologische Floskel, mit der man sich – unter Wissenschaftlern – seine Fortschrittlichkeit bescheinigt, oder ist hier eine pädagogische Praxis gemeint? Ich bin nicht sicher; es finden sich in dem Buch inhomogene Hinweise. Das am ehesten mit pädagogischen Problemen befaßte Kapitel handelt, als Teil der
Labeling-Perspektive
, von dissozialen Karriereprozessen (S. 155 ff.), in enger Anlehnung an E. M. Lemert und S. Quensel, zwei für erzieherische Probleme besonders sensible Autoren (ich möchte Studenten, für die dieses Buch ohnehin vornehmlich geschrieben zu sein scheint, empfehlen, mit diesem Kapitel ihre Lektüre zu beginnen). Im Abschnitt über den
Verwahrlosungsbegriff
(S. 11 ff.) sucht man indessen vergeblich nach einer pädagogischen Bestimmung. Es bleibt unerfindlich, wie der Autor auf die Idee gekommen ist, der
pädagogische Begriff der Verwahrlosung
sei, im Unterschied zum psychologischen und soziologischen,
auf die soziale Verursachung von Verwahrlosung ausgerichtet
, zumal gerade hier keine erziehungswissenschaftlichen Autoren zitiert werden. Der von Herriger leider nur am Rande behandelte A. Aichhorn war da vor einem halben Jahrhundert, liest man die Beschreibungen seines Umgangs mit den Heimzöglingen genau, schon wesentlich näher an der Sache. Ich jedenfalls würde den
pädagogischen Begriff
von Verwahrlosung mit Hilfe der Frage zu bestimmen suchen, wie der Zustand eines Kindes mit charakteristisch beschränkter eigener Selbstdarstellungsmöglichkeit, Bildsamkeit und Selbsttätigkeit zu beschreiben ist, und zwar in Korrespondenz zu dem Interaktionsnetz, in das es mit anderen Kindern und Erwachsenen eingebunden ist; im Vordergrund einer solchen Sichtweise stünde dann die Frage, welche pädagogische Aufgabe durch die Beschreibung mitbestimmt ist – und das kann durchaus Verschiedenes sein, also auch das, was im
medizinischen Modell
nahegelegt ist. So wird auch die Tatsache plausibel, daß eine breitere Diskussion der Verwahrlosungsproblematik in der Erziehungswissenschaft erst mit der Rezeption des
interaktionistischen Paradigmas
aufkam: Nun erst konnte nämlich das eigentümlich pädagogische Problem aus der bloßen Verursachungsdebatte herausgeführt werden. Man muß nicht die Ver|a 142|hältnisse hinnehmen, wie sie sind, wenn man – angesichts der Erfolglosigkeit der an Ursachen-Theorien orientierten Praktiken – den Anfang der pädagogischen Reflexion des Verwahrlosungsproblems bei der Frage ansetzt, wie ein menschenwürdiger pädagogischer Umgang mit problembelasteten Kindern/Jugendlichen (
primäre Devianz
) aussehen könne, ohne sie noch tiefer in die Belastung hineinzutreiben.
[V54:6] Das ist natürlich eben jene Frage, von der die
Labeling-Perspektive
in ihren interaktionistischen Quellen ausging. Und insofern hat Herriger auch pädagogisch recht, wenn er jenes Modell favorisiert; es liegt den pädagogischen Problemen näher als die anderen. Aber das scheint, trotz des von mir eingangs zitierten Schlußsatzes des Buchs, gar nicht das Anliegen Herrigers zu sein. Der Untertitel heißt ja auch:
Eine Einführung in Theorien sozialer Auffälligkeit
. Es ist vielleicht unbillig, dann noch zu erwarten, daß auch die Probleme des pädagogischen Handelns gründlich zur Darstellung kommen. Dafür sollte man dann vielleicht besser B. Bettelheim, F. Redl, die Therapie-Protokolle S. Minuchins, die Geschichten J. Jegges über seine Sonderschüler lesen oder sich Einrichtungen der Waldorf-Pädagogik anschauen. M. Foucault hat gelegentlich mit kalter Ironie die Frage, welchen Zweck denn Reformtheorien und -maßnahmen zur Resozialisierung von Strafgefangenen angesichts ihrer Erfolglosigkeit hätten, mit dem Hinweis auf das Wissen und also auch die Theorien beantwortet, die Experten auf solche Weise sammeln können. Verhält es sich mit Verwahrlosungstheorien anders? Herrigers Buch kann dieser Frage das Beunruhigende nicht nehmen. Obwohl ein gutes und die pädagogische Skepsis herausforderndes Buch, wünsche ich mir, daß es das letzte dieser Gattung von Sekundärliteratur ist.