Welches sind die überliefernswerten kulturellen Inhalte?
[076:1] Im Jahre 1978 erschien die Dokumentation der Vorträge und
Diskussionen des Forums
«Mut zur Erziehung»
. Bei gleicher
Gelegenheit hat H. v.
Hentig, einer der wenigen Pädagogen, die dort zu Wort kamen, und
ein praktisch erfahrener dazu, seine Verblüffung über das pädagogische
Denken, das sich dort inszenierte, ausgedrückt. Im gleichen Jahr, erschienen
argumentativ sorgfältige
«Entgegnungen»
zu jenen
Vorträgen, Diskussionen und Thesen. Und nun liest man im Interview des
«Magazins Primarschule 3/82»
mit H. Lübbe das gleiche wie vor vier Jahren. Was
H. Lübbe in jenem
Interview sagt, hat grosse, wenn auch nicht rhetorische, Ähnlichkeit mit
dem, was J. Hersch in ihren
«Antithesen»
zum Problem der Jugendunruhen zu sagen wusste, und tönt – wie schon die 9
Thesen der
«Erklärung»
von 1978 – keinesfalls nur wie ein
Beitrag, in dem lediglich
«ein Problem wachgehalten
werden»
soll. Wäre dies nämlich der Fall, könnte ich mir nicht
erklären, warum H. Lübbe und
seine Mitstreiter in der
«Erklärung»
bis heute die
Einwände ignorieren.
[076:2] Es liegt deshalb nahe, zu vermuten, dass hier Grundüberzeugungen
formuliert sind, die von ihren Anwälten für argumentationsunzugänglich
gehalten werden. Dennoch mache ich einen bescheidenen Versuch.
[076:3] Gewiss ist manches von dem, was Lübbe sagt, zustimmungsfähig, jedenfalls für
den, der sich positiv auf die grosse philosophische und pädagogische
Tradition des neuzeitlichen Europa bezieht: Das Verhältnis zwischen den
Generationen darf nicht als
«Indoktrination»
gedacht
werden; ob es
«den Kindern in erzieherischer Hinsicht gut
tut»
, in einem Überflussmilieu aufzuwachsen, ist gewiss eine wichtige
und
«viel zuwenig»
aufgeworfene Frage – zu der freilich
die andere gehört, für welche Kinder das eigentlich gilt und für welche
nicht;
«dass in hochdynamischen Gesellschaften Traditionen
ein sehr knappes Gut sind»
, ist zumindest eine plausible Hypothese,
aus der nicht die Missachtung der gebliebenen Bestände, sondern die
«Ermunterung zu schonendem Umgang»
folgt; gerade deshalb
scheint mir auch die Behauptung zustimmungsfähig, es käme in der Erziehung
und Bildung u.a. darauf an, an den überliefernswerten Erziehungsinhalten,
Inhalten unserer kulturellen Tradition also, festzuhalten, wenigstens aber
sie nicht leichtfertig fallenzulassen.
[076:4] Das alles ist indessen pädagogisch trivial, jedenfalls innerhalb
unserer Kultur, und dennoch immer wieder erinnernswert. Solche Ermahnungen
aber lösen keine Probleme, sondern sind eher die Plattform, auf der sie sich
stellen: Um welche Inhalte, welche
kulturellen Bestände soll es sich denn handeln? Die bis zum Überdruss
zitierten
«sekundären Tugenden»
(Disziplin und Ordnung
beispielsweise) kann doch ein auf begriffliche Klarheit so erpichter
Hochschullehrer wie Lübbe
damit kaum meinen; ausserdem weiss jeder Pädagoge, dass ohne
Selbstbeherrschung und geordnete Tätigkeit (aber auch Phantasie und Lust am
Hervorbringen und aufmerksames Erfassen von Aufgaben usw.) kein Werk
gelingt, keine Gemeinsamkeit entsteht, Bildung missrät. Also noch einmal:
welches sind die überliefernswerten kulturellen Inhalte? Solange wir uns um
die Beantwortung dieser Frage herumdrücken und uns mit rhetorischen Ritualen
zufriedengeben, greift die Aufforderung
«Mut zur
Erziehung»
ins Leere – jedenfalls für Pädagogen (bei Politikern mag
das anders sein). Zum Beispiel: Ein Kultusminister empfiehlt den Schulen
mehr Schiller-Lektüre;
beobachtet man aber seine Bildungspolitik, entsteht der Eindruck, er halte
dessen Schriften für unbedeutend, totes
«Bildungsgut»
.
Jemand klagt über den flachen Musikkonsum von Jugendlichen, ihm selbst aber
ist Schönbergs Musik zu
anstrengend. Was haben die Selbstporträts van Goghs mit unseren Identitätsproblemen zu tun?
Welche kulturellen Traditionen überliefern sich in den europäischen
Arbeiterklassen, und was davon ist bewahrenswert?
[076:5] Jeder Pädagoge wird die Liste solcher Fragen beliebig verlängern
können. Er wird sich auch fragen, was an neuen Aufgaben
oder Problemstellungen entsteht, denn das tritt ihm in den Kindern und
Jugendlichen täglich entgegen. Das sind freilich Fragen, die sich zunächst
dem Erwachsenen stellen. Seine Stellung in der Kultur
muss er zunächst klären; er darf das nicht den Kindern aufbürden. Aber sein
Unterricht, auch in der Primarschule, wird sicherlich um so lebendiger sein,
je genauer er sich in der Zone zwischen kultureller Tradition und
kulturellem Wandel lokalisieren kann. In solcher Lage ist es
lernen, als Problemlösungen zu empfehlen. Das ist langweilig, weil es in
dieser Abstraktheit nur Kopfnicken hervorrufen kann, weil damit überhaupt
kein Problem wirklich beschrieben, sondern lediglich unausgesprochene
Attitüden bekräftigt werden. Eine kulturell dürftigere Formel kann ich mir
kaum denken.
[076:6] Das scheint Lübbe –
und scheinen mit ihm die anderen Verfasser jener
«Er|a 11|klärung»
– zu ahnen. Deshalb ist offenbar
nötig, einen bedrohlichen Gegner aufzubauen, mit teils dubiosen empirischen
Behauptungen:
[076:7] Da soll in der Bundesrepublik Deutschland
«der
pädagogische Aberglaube»
verbreitet worden sein,
«man
könne junge Menschen kritikfähig machen, indem man sie schon vor der
Pubertät oder im pubertären Umbruch systematisch in
eine Hinterfragungskultur eintaucht»
. Ich denke,
die schweizerischen Lehrer sind informiert genug, um so etwas nicht
unbesehen zu glauben. Ich vermute, dass die Zahl der Erwachsenen, auf die
dieser Satz, beim Wort genommen, zutrifft, wesentlich kleiner ist als die
Zahl derer, die auf Prügel als legitimes Erziehungsmittel setzen,
«Ausländer-raus»
-Parolen gutheissen und sich
Verhältnisse wünschen, die der Zeit des Nationalsozialismus ähnlich
sind.
[076:8] Lübbe bemüht die
gewiss nicht widerlegbare Feststellung, dass
«in den
Spätjahren der Weimarer Republik in den intellektuellen akademischen
Kreisen»
die Zustimmung zum Faschismus grösser war
«als in der traditional gebundenen Bevölkerung»
als Argument für die
These, dass
«hinterfragungsfähige Intelligenz»
ein
zweifelhaftes, wenn nicht gar schädliches Orientierungsdatum für Pädagogik
sei. Was ist dieses Argument wert, ausser dass es Ressentiments gegen
Intellektuelle weckt? Ist Lübbe etwa deswegen für Pädagogen weniger glaubhaft, weil er zu
den
«intellektuellen akademischen Kreisen»
gehört? Ist
der Zustand, in dem sich jene Kreise heute befinden, identisch mit dem, in
dem sie sich 1930 befanden? Sind es damals die
«Hinterfragungs»
-Akademiker gewesen, die sich dem Nationalsozialismus
angeschlossen haben, oder nicht gerade jene, die das
«Hinterfragen»
unterliessen? Ich plädiere nicht fürs
«Hinterfragen»
, ein scheussliches Wort;
«fragen»
genügt völlig. Also: Sollen Kinder, auch
«vor der
Pubertät»
, nicht lernen, verständige Fragen zu stellen?
[076:9] Auf die Frage, an welchen Massstäben unserer Zivilisation denn die
Kinder sich orientieren sollten, und was dies konkret bedeuten könne,
antwortet H. Lübbe wiederum
zunächst mit einer Behauptung, die den Anschein einer Tatsache erweckt: es
sei eine
«herrschende (!) pädagogische Vorstellung»
, dass
Glück
«so etwas wie ein Anspruch, den zu erheben Kinder
sogar in der Schule ermuntert werden müssten»
sei; gegen diese
angebliche Tatsache führt er dann das
«Tun des Rechten»
,
die Grundrechte, die ethischen und christlichen Tugenden ins Feld. Wo
«herrscht»
denn jene Vorstellung? Und was meint Lübbe, wenn er von
«Glück»
spricht? Soll hier vielleicht die ebenso
selbstverständliche (jedenfalls in unserer Kultur) wie schwierige Bemühung
von Eltern und Lehrern um ein
«glückliches»
, und das
heisst doch: um ein Leben mit möglichst wenig unnötiger Angst, mit Freude am
Lernen, mit belebenden Erfahrungen, diffamiert werden? Ist denn die Meinung
so zu verstehen, dass Kinder keinen Anspruch darauf hätten? Hier wird eine
schiefe Front aufgebaut, die nicht zu vernünftigem pädagogischem Handeln
ermuntert, sondern eher dazu, sich auf Gewohnheit zurückzuziehen. Jedenfalls
scheint es mir nicht nur
«lachhaft»
, sondern
kulturschädlich, derart über das
«Glück»
von Kindern zu
reden.
[076:10] Auf diese Weise werden Traditionen zerstört, nicht aber
weiterentwickelt. (Muss man darauf überhaupt noch hinweisen in einem Land,
in dem Pestalozzi tätig
war?).
[076:11] Offenbar ist das Denken wenig hilfreich, wenn ihm die Erfahrung
fehlt (das hatte 1978 schon Hartmut
von Hentig gegen die
«Erklärung»
eingewandt).
Und sicherlich schaden wir den Kindern, wenn wir ihnen Fleiss, Disziplin und
Ordnung abverlangen, ohne zuvor und zugleich ihnen sinnvolle und belebende Aufgaben zu stellen. Dazu wäre Mut, Phantasie und eine Auseinandersetzung
mit