Vorwort der Herausgeber von Band 1 [der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft] [Textfassung a]
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Vorwort der Herausgeber von Band 1

[V60:1] Theorien und Grundbegriffe der Erziehung und Bildung – dieser Titel des ersten Bandes einer Enzyklopädie könnte suggerieren, daß hier das theoretische und methodologische Fundament zur Darstellung gebracht werde, auf dem die gesamte Erziehungswissenschaft aufruht. So zutreffend es ist, daß der vorliegende Band jene Theorien, Konzepte, Positionen und Begriffe aufnimmt, die in ihrer Mehrzahl
quer
zu den pädagogischen Feldern und praktischen Anwendungsbereichen erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse stehen, die in den folgenden Bänden der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft repräsentiert sind, so falsch wäre gleichzeitig der Eindruck, dieser Band könne
die
Theorien und Grundbegriffe der Erziehung und Bildung lückenlos, systematisch und mit zweifelsfreier Zuverlässigkeit wiedergeben. Zu sehr hat sich die Erziehungswissenschaft in den letzten zwanzig Jahren differenziert und in verschiedenartigen Richtungen entwickelt, zu sehr haben gesellschaftstheoretisch und -politisch widersprüchliche Strömungen Einfluß auf die Entwicklung der Erziehungswissenschaft genommen, als daß eine einheitliche Auffassung über Theorien und Grundbegriffe einer sozialwissenschaftlichen Disziplin noch verbürgt sein könnte, als daß eine enzyklopädiefähige Systematik der Disziplin noch denkbar oder sinnvoll wäre; zu sehr auch hat die Erziehungswissenschaft über die Inanspruchnahme für die wissenschaftliche Initiation und Begleitung von Reformmaßnahmen über ein Jahrzehnt Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland sich expandiert, als daß Vollständigkeit und Einheitlichkeit der Darstellung, selbst im Bereich von Metatheorien, noch angestrebt werden könnten. Andererseits erlauben, ja befördern die inzwischen eingetretene bildungspolitische Stagnation sowie die gesellschaftliche Normkrise eine Selbstreflexion der Erziehungswissenschaft auf ihren Gegenstand, ihre Methoden und normativen Orientierungen. Als ein vorläufiges Resultat dieser Selbstthematisierung ist mindestens zweierlei zu konstatieren: eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Geschichte der Erziehung und Bildung, insbesondere für deren sozialwissenschaftliche Rekonstruktion, und eine Konzentration auf die Mikroebene erzieherischer Prozesse, die mit dem zunehmenden Interesse an Interaktions-Analysen begann und sich jüngst etwa in der Rede von der
Alltagswende
der Erziehungswissenschaft manifestiert, gegenwärtig noch eher Ausdruck einer Mentalität denn einer Methode oder gar einer Theorie der Wissenschaft.
[V60:2] Zur Beantwortung, ob der Zeitpunkt gut gewählt ist, zu dem wir mit dem vorliegenden Band eine theoretische Bilanz versuchen, erscheint uns noch ein anderer Umstand wichtig: Die Expansion der Erziehungswissenschaft hat praktische Ansprüche an sie hervorgebracht oder verstärkt, die häufig unerfüllbar waren. Immer deutlicher hat sich gezeigt, daß hier die Beziehung zwischen Wissenschaft und pädagogischem Handeln grundsätzlich prekär ist. Vom Gegenstand her, der Erziehung und Bildung, ist die Erwartung plausibel, die Erziehungswissenschaft solle zu besserem Handeln anleiten, sei es in der Form zweckmäßig ausgearbeiteter Technologie, sei es in der Form praktischer, die pädagogischen Handlungsnormen reflektierender und begründender Argumentationen. Andererseits ist sie, als Wissenschaft, eben auch oder gar ausschließlich an Erkenntnis interessiert und kann deshalb nur indirekt, auf dem Umwege über die wissenschaftliche Aufklärung der Inhaber pädagogischer Berufe, praktisch wirksam werden. Dieses Dilemma, selbst ein Moment gesellschaftlicher Praxis heute, wird in jenen erziehungswissenschaftlichen Bemühun|a 18|gen jüngeren Datums aufgegriffen, die daran erinnern, daß Pädagogik einst eine Abteilung der praktischen Philosophie gewesen ist und die postulieren, es müsse eine wissenschaftliche Argumentation gefunden werden, die die damit aufgeworfene Problematik in moderner Gestalt bearbeitet. Trotzdem mußte die Enttäuschung der Praktiker über die Erziehungswissenschaft zwangsläufig kommen; denn weder konnten diejenigen, die diese Wissenschaft betreiben, guten Gewissens eindeutige und effektive Technologien für den pädagogischen Umgang der Generationen miteinander anbieten, noch konnten sie, angesichts der auch sonst in unserer Gesellschaft zu beobachtenden normativen Unsicherheiten, eine überzeugende und konsensfähige Argumentation zu den Zielen pädagogischen Handelns vorlegen. Aber wenigstens hat doch diese Diskontinuität zwischen Erziehungswissenschaft und beruflichem Handeln zum Bewußtsein gebracht, daß eine fundamentale Problematisierung unseres Gegenstandes und der argumentativen Verfahren seiner wissenschaftlichen Bearbeitung notwendig ist. Ein solcher wissenschaftsgeschichtlicher Moment ist gut dazu geeignet, in der wissenschaftlichen Alltagsproduktion innezuhalten, sich der Bestände zu vergewissern und Prospekte zu erproben. So könnte die Konsolidierung der Erziehungswissenschaft auch durch dieses Unternehmen selbst befördert werden.
[V60:3] An diese Aussicht knüpft die Gliederung des Handbuchteils dieses Bandes an: Die Renaissance des Historischen verlangt nach einer Abklärung der Konzepte erziehungswissenschaftlicher Geschichtsschreibung. Sie erfolgt in der ersten Abteilung des Handbuchteils (
Die historische Dimension von Erziehung und Bildung
). Der Gedanke an eine Konsolidierung der Disziplin bestimmt sodann die Aufnahme und Differenzierung von Theorien, Konzepten und Positionen, die sich in der Erziehungswissenschaft mehr oder minder durchgesetzt haben. Am Ende einer Phase der Theorieentwicklung in der Erziehungswissenschaft, die durch eine intensive Rezeption von Ansätzen aus anderen Sozialwissenschaften gekennzeichnet war, zeichnet sich ab, welche theoretischen Zugänge zu Erziehung und Bildung genuin erziehungswissenschaftlicher Natur sind oder werden können (
Konzepte und Positionen der Erziehungswissenschaft
) und welche Ansätze aus anderen Sozialwissenschaften eher interdisziplinäre Beiträge darstellen, die, bestimmten Erkenntnisinteressen und Orientierungen verpflichtet, für bestimmte pädagogische Felder eine Erweiterung der Forschungs- und Reflexionsmöglichkeiten sein können (
Interdisziplinäre Beiträge zur Erziehungswissenschaft
). Eine Thematisierung des in dieser Differenzierung zur Geltung gelangenden Problems der Interdisziplinarität der pädagogischen Fragestellung bietet der Beitrag im Abschnitt
Interdisziplinarität
.
Konsolidierung der Erziehungswissenschaft
kann allerdings kaum heißen, daß die Verschiedenartigkeit der Konzeptionen zum Verschwinden zu bringen wäre. Sie wird vermutlich eher dadurch erreicht, daß, von solchen Konzeptionen ausgehend, mit Hartnäckigkeit derjenige Typus von Forschungstätigkeit betrieben wird, der im jeweiligen theoretischen Ansatz projektiert ist. Das gilt für die
Konzepte und Positionen
wie für die
interdisziplinären Beiträge
gleichermaßen. Damit aber stellt sich nun auch die alte, mindestens seit Schleiermachers Pädagogik-Vorlesungen von 1813 und 1826 beunruhigende Frage neu, ob es – bei aller Pluralität von
Paradigmen
und Methoden – so etwas wie eine Eigentümlichkeit pädagogischer Problemstellung geben könne, die sich als Kanon von Grundbegriffen bestimmen läßt und als Kriterium für erziehungswissenschaftliche Relevanz konsensfähig Geltung beanspruchen kann. Dieser Frage wird in einem eigenen Abschnitt nachgegangen (
Erziehung als Praxis
).
[V60:4] Die Auswahl der Stichworte dieses Bandes ist nun in ähnlicher Weise wie die Glie|a 19|derung des Handbuchteils dem Versuch verpflichtet, ein begriffliches Substrat aus der Vielzahl möglicher Stichworte zu gewinnen, wenigstens die Grundlagen für einen Korpus von theoretischen Begriffen zu erarbeiten, über deren Verwendung und Bedeutung eine gewisse Einheitlichkeit in der Auffassung besteht. Es handelt sich dabei sowohl um genuin erziehungswissenschaftliche Begriffe wie Begabung, Begegnung, Bildsamkeit, Bildung, Erziehung, pädagogisches Verhältnis, als auch um solche, deren Herkunft auf andere Sozialwissenschaften zurückgeht, die allerdings inzwischen eine eigene pädagogische Semantik entfaltet haben, beispielsweise Emanzipation, Erziehungsstil, Handeln, Lernen, Professionalisierung, Selektion.
[V60:5] Die Legitimation der Begriffsauswahl fällt noch schwerer als diejenige der Auswahl von Ansätzen und Konzepten der Erziehungswissenschaft, wie sie im Handbuchteil behandelt werden. Einige der Begriffe wird man in einer erziehungswissenschaftlichen Enzyklopädie vielleicht für entbehrlich halten, andere wiederum vermissen. Für den letzten Fall ist allerdings auf die anderen Bände der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft zu verweisen, die manchen Terminus aufnehmen, auf den aus Gründen der Vermeidung von Überschneidungen zwischen den Bänden hier verzichtet wurde. Insofern ist auf den Registerband der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft aufmerksam zu machen, der das gesamte Begriffsinventar der Enzyklopädie erschließt.
[V60:6] Eingedenk aller Einschränkungen, denen die Herausgabe eines
Theoriebandes
der Enzyklopädie einer so jungen Disziplin wie der Erziehungswissenschaft unterliegt, ist indessen beabsichtigt, dem Leser mit diesem Band eine Informationsquelle zu erschließen, deren Aktualität von einiger Dauer sein soll und die, fast ebenso wichtig, den Prozeß des Theoretisierens über Erziehung und Bildung selbst weitertreibt.