Familie – Familienerziehung
[078:1] Familie als Problem. Was wir heute landläufig
als
„Familie“
bezeichnen, gerät gegenwärtig in
offensichtliche Legitimationsschwierigkeiten. Das gilt für die
Familienpraxis, die Familienforschung und die Familienpolitik. An der Familienpolitik beobachten wir das Dilemma, daß eine
im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft als entschieden privat definierte
Institution zunehmend zum Gegenstand öffentlicher Fürsorge wird und damit
unter den Erwartungsdruck öffentlich bestimmter Erziehungsleistungen gerät.
Obwohl bei den familienpolitischen Auseinandersetzungen Überzeugungen vom
angeblich übergeschichtlichen Charakter der Familie häufig eine Rolle
spielen, die ohne empirische Basis sind, korrespondiert doch die Heftigkeit
und Ängstlichkeit, mit der die Diskussion geführt wird, der familienpraktischen Problematik: beispielsweise
wachsende Scheidungsraten, Distanzierung der Generationen, zunehmende
Therapiebedürftigkeit, innerfamiliale Gewalt, Brüche zwischen der familialen
Erziehungspraxis und den Erwartungen öffentlicher Erziehung und
Unterrichtung, Konkurrenz der innerfamilialen Werte mit den Werten von
Freizeit und Konsum. Derartige Beobachtungen liegen freilich auf
verschiedenen Ebenen und sind sowohl in ihrem Ausmaß als auch im Umfang der
Folgewirkungen gegenwärtig quantitativ nicht hinreichend ermittelt. Aber
selbst wenn es sich nur um eine (überschätzte) Minderheit handeln sollte,
sind die Erscheinungen offenbar hinreichend beunruhigend, eine Diskussion zu
intensivieren und bis zur Prophezeiung vom
„Tod der
Familie“
(Cooper
1972) zu stilisieren, die – mit sozialwissenschaftlichem Anspruch
– im 19. Jahrhundert begonnen wurde (vgl. Riehl
1855, Play 1855) und gegenwärtig zu einer breit gefächerten Familienforschung geführt hat. Die Ambivalenzen in der praktischen und politischen Beurteilung treten auch hier
hervor: Die neuerdings intensivierte historische
Familienforschung (vgl. Ariès 1975, Beuys 1980, Conze 1976, Laslett/Wall 1972, de
Mause 1977, Mitterauer/Sieder 1977; vgl.
Rosenbaum
1978;
1982; vgl. Shorter
1977; vgl. die Bibliographie von Herrmann u. a. 1980) entzündet sich
unter anderem an der Frage, ob die gegenwärtige Kleinfamilie das
geschichtliche Resultat einer Evolution zu immer
„humaneren“
Formen des Umgangs der Generationen miteinander ist (vgl. de Mause 1977) oder nicht eher das problematische Ende einer
familienzerstörerischen jüngeren Geschichte (vgl. Ariès 1975). Ebenso bedeutsam
ist die Frage, ob die traditionelle Unterstellung, die Familie sei eine den
historischen Wandel relativ überdauernde Form menschlichen Zusammenlebens,
aufrecht erhalten werden kann angesichts historischer Befunde, die eher
bisweilen verwirrende Vielfalt erbringen (vgl. Mitterauer/Sieder 1977, Laslett/Wall 1972, Shorter
1977). Die soziologische Familienforschung
wird durch ein ähnliches Problem bewegt: Soll die Familiensoziologie mit
einem Familienbegriff operieren, der sich auf die
„Totalität“
historisch-konkreter Gesellschaftsformationen bezieht und
in den jeweils herrschenden
„Bedingungen der materiellen Produktion“
fundiert ist
(Rosenbaum
1978, S.
18)
, oder soll sie versuchen, Typen zu rekonstruieren, die unter durchaus
verschiedenartigen gesamtgesellschaftlichen Bedingungen entstehen können und
für deren Entstehung, Struktur und Funktion also allgemeine Gesetze des
sozialen Lebens geltend gemacht werden können (vgl.König 1973,
S. 123 ff.)?
[078:2] In der Sozialisationsforschung schließlich
spielt die Frage eine Rolle, ob die Parameter für gelungene
Sozialisationsleistungen der Familie den durchschnittlichen Anforderungen
des Schulsystems (zum Beispiel Sprachverhalten, Leistungsmotive, soziale
Integrationsfähig|a 413|keit, Planungsfähigkeit)
entnommen werden sollen, oder ob nicht vielmehr schicht-kulturelle Merkmale zur Geltung zu bringen
seien, die eine Beurteilung nach einem zwar kulturell dominanten, aber
mittelschichtspezifischen Standard familialer Erziehungspraxis fragwürdig
erscheinen lassen. Die im wesentlichen einerseits auf Fallanalysen,
andererseits auf der Erörterung theoretischer Konstrukte basierende Familientherapie-Forschung blieb von solchen
Verunsicherungen nicht unberührt; die normativen Implikationen
theoretisch-begrifflicher Alternativen treten hier, weil durch den einzelnen
Fall konkret herausgefordert, besonders deutlich hervor: Darf die Therapie
mit der Unterstellung arbeiten, daß das therapiebedürftige System, obwohl
bedroht, in seiner Funktionsfähigkeit erhalten werden muß, oder darf sie, um
der Befriedigung des einzelnen Mitgliedes willen, eine Auflösung des Systems unterstützen (vgl.
Boszormenyi-Nagy/Framo 1975,
Minuchin u.
a. 1967, Satir 1973)?
[078:3] Begriff der Familie. Die erwähnte
Familienforschung hat nur zum Teil ihren Fokus in der pädagogischen
Problematik. Wenn auch der Historiker, um die geschichtlichen Besonderungen
nicht zu nivellieren, und der Soziologe aus Mißtrauen gegen anthropologische
Behauptungen den wissenschaftlichen Sinn eines allgemeinen Familienbegriffs
skeptisch beurteilen, liegt die Problemstellung für die
Erziehungswissenschaft doch anders. So verschieden die je historisch
besonderen Strukturen und Funktionen der Familie sein mögen, für das
pädagogische Interesse ist es sinnvoll, von einem Begriff auszugehen, der
historischen und systematischen Vergleich möglich macht, also Behauptungen
über Kontinuität und Wandel zu prüfen erlaubt. Einer solchen Anforderung
kommt eine Definition von
Claessens/Menne (1973, S. 314)
entgegen, nach der von
„Familie“
immer und nur
dann die Rede sein soll, wenn
„wenigstens zwei gegengeschlechtliche psycho-sozial
erwachsene Menschen eine weitere Generation produzieren und
mindestens so erziehen, daß diese nächste Generation“
– hier weichen wir von Claessens/Menne ab – psycho-sozial erwachsen werden kann. Eine solche
Definition ist freilich formal und abstrakt, aber darin liegt ihr
erziehungswissenschaftlicher Wert: Sie erlaubt, solche Formen des
Zusammenlebens in Geschichte und Gegenwart aufzusuchen, die vergleichbar
sind, weil sie das Strukturmerkmal (gegengeschlechtliche Erwachsene, zwei
Generationen) und das Funktionsmerkmal
„erziehen“
gemeinsam haben (zu Einwänden gegen dieses Vorgehen vgl. Rosenbaum
1978, S. 13 ff.).
[078:4] Eine derartige Definition ist selbst historisch bestimmt; sie
bringt einerseits ein Interesse an solchen Vergleichen zum Ausdruck, in
denen eben diese Merkmale Berücksichtigung finden: Es sind aber, wie leicht
zu sehen ist, diejenigen Merkmale, auf die sich in der Gegenwart vor allem
das praktische Interesse richtet angesichts der Dominanz des Typs der
„Kleinfamilie“
(in der römischen Antike beispielsweise wäre ein solcher Begriff sinnlos erschienen;
„familia“
war ein reiner Personenstands- und
Vermögensbegriff); andererseits ist solche Begriffsbildung erst unter den
Bedingungen historischen Bewußtseins möglich, erst dann also, wenn
historisch-gesellschaftliche Verschiedenheit als Wandel von Lebensformen und
nicht nur als pure Norm-Abweichung gedacht werden kann.
[078:5] In diesem Sinne ist die Erziehungswissenschaft interessiert an den
Fragen: Wie war in vergangener Zeit der Umgang der beiden Generationen
innerhalb dieser Kleingruppen-Konstellation beschaffen (vgl. Aries 1975, de Mause 1977)? In welchen näheren sozialen Kontexten (Haushalt, Verwandtschaftssystem oder Produktion)
und welchen gesamtgesellschaftlichen Formationen |a 414|konkretisierte sich diese Konstellation (vgl. Conze 1976,
Laslett/Wall 1972, Mitterauer/Sieder 1977; vgl. Rosenbaum
1978, 1982)? Welche Folgen
hatte das für die nähere Bestimmung der Erziehungsfunktion, das heißt unter
anderem, wie ist – historiographisch – der Zusammenhang zu denken zwischen
einerseits den Bedingungen, Funktionen und Kommunikationen der
Erwachsenen-Subgruppe solcher sozialer Einheiten und andererseits den damit
verbundenen Intergenerationen-Kontakten (vgl. Ariès 1975,
Shorter
1977)? Gibt es Regeln – außer den bekannten nach Schichten und
Klassen –, die die Arten solcher Kommunikationen und Kontakte generieren
(vgl. deMause 1977, Bourdieu 1979)? Schließlich: Welche
Probleme ergeben sich unter Berücksichtigung derartiger Fragestellungen für
die Gegenwart, und lassen sich daraus Zukunftsprognosen gewinnen im Hinblick
auf Chancen einer historischen Weiterentwicklung gegenwärtiger familialer
Erziehungsfigurationen?
[078:6] Pädagogische Funktionen der Familie.
Geschichte, Struktur und Funktion der Familie können unter vielen
Gesichtspunkten (beispielsweise als Verwandtschaftssystem, als ökonomische
Einheit, als Ort biologischer Reproduktion der Gattung oder als
Herrschaftsinstrument) dargestellt werden. Hier soll, in Anlehnung an die
zitierte Definition von Claessens/Menne, von der Familie nur insofern die Rede sein, als von ihr
Erziehungsleistungen erwartet werden können. Die Behauptung, die
Erziehungsfunktion der Familie (in welcher besonderen historischen Gestalt
sie auch auftreten mag) sei universal, ist vermutlich nicht falsch;
gleichwohl beginnen die Probleme damit erst; denn
offenbar ist das, was in den verschiedenen Epochen und Gesellschaften als
Erziehungsaufgabe angesehen wurde, häufig kaum noch miteinander
vergleichbar. Das wird an den wichtigsten familientheoretischen Kontroversen
mit erziehungswissenschaftlicher Relevanz der letzten Jahrzehnte
deutlich:
[078:7] Die These, die neuere Geschichte der Familie sei die Geschichte
eines Funktionsverlustes, darf heute als mindestens
problematisch gelten (vgl. Mitterauer/Sieder
1977, S. 94 ff.). Sie verdankte sich einer
normativ-restaurativen Stilisierung, akzentuiert und mit wissenschaftlichem
Anspruch schon von Play (vgl. 1855) und Riehl (vgl. 1855) im Anschluß an
die historische Schule vorgetragen, die das angeblich empirische Datum einer
Schrumpfung auf die Kleinfamilie mit der Behauptung verband, die Familie
habe wichtige, besonders pädagogisch relevante Funktionen zunehmend an andere Institutionen (Schule, Kindergarten, Arbeitsstätte, Sozialhilfe) abgegeben.
Demgegenüber kann
„allenfalls von einem Funktionswandel“
gesprochen werden (
Rosenbaum
1978, 20
; vgl. König 1974, S. 69 f.), und auch dies nur, sofern die
Veränderungs-Behauptung auf vergleichbare gesellschaftliche Teilgruppen
beschränkt wird (zum Beispiel Wandel der pädagogischen Funktion der Familie
im Proletariat).
[078:8] Mit dieser Problemstellung ist die Frage verknüpft, ob es –
besonders unter dem Einfluß von Industrie und Kapitalismus – einen Wandel
von der Großfamilie zur Kleinfamilie gegeben habe.
Die Antwort fällt heute skeptisch aus: Kleinfamilien (bestehend aus nur zwei
Generationen) hat es offenbar unter den verschiedensten epochalen und gesellschaftliche Bedingungen gegeben (vgl. Mitterauer/Sieder, Laslett/Wall
1972, Shorter 1977); die quantitativen Verhältnisse sind
gegenwärtig noch schwer auszumachen; nicht einmal die von König (vgl. 1973) geäußerte Hypothese,
die Kleinfamilie sei für Unterschichten charakteristisch, kann ohne
Einschränkung aufrechterhalten werden (vgl. Braun 1979, Schwägler
1970). Außerdem ist zweifelhaft, ob derartige Unterschiede |a 415|in der Familienstruktur für die Probleme der
Familienerziehung durchschlagend sind, oder ob demgegenüber nicht der Habitus des Umgangs mit Kindern (vgl.
Ariès
1975, deMause 1977, Shorter 1977) und das gesellschaftlich
dominierende Bild von Kindheit und Jugendalter wichtiger sind.
[078:9] Schließlich bleibt die Frage, ob es nicht doch so etwas wie einen
sozialstrukturell und historisch je dominanten Familientypus gebe
beziehungsweise gegeben habe. Soziologisch ist die Frage gegenwärtig schwer
zu entscheiden. Die erziehungswissenschaftliche Antwort fällt leichter: Im
Hinblick auf die innnerfamilialen Erziehungsprobleme ist unbestritten, daß die bürgerliche
Gesellschaft eine Entwicklung zur quantitativen Dominanz der
„Gattenfamilie“
hervorgebracht hat, die alle sozialen
Gruppen erfaßt:
Shorter
(1977, S.
31)
nennt die Merkmale dieses Typs: das
der Gatten; die emotionale Intensität der Mutter-Kind-Beziehung;
„Privatheit und Intimität“
beziehungsweise
der Familienbeziehungen. Familie als pädagogisches Problem also als
relevantes
„Thema“
der Familienmitglieder (vgl. Hess/Handel 1975), gibt es erst unter
diesen Bedingungen, deren allmähliche Herausbildung für die Zeit zwischen
dem 17. und 19. Jahrhundert (für die verschiedenen sozialen Schichten und
verschiedene Länder in unterschiedlicher Geschwindigkeit) angenommen werden
kann. Vordem war offenbar das, was wir heute als pädagogische Funktion der
Familie bezeichnen, untergeordneter Bestandteil des
„Hauswesens“
, der hinter den genealogischen, rechtlichen,
ökonomischen, politischen Dimensionen zurücktrat. Als Beleg für diese
relative Irrelevanz der Erziehungsdimension mag wenigstens die Tatsache
gelten, daß mit Sicherheit bis in das 18. Jahrhundert hinein eine – in
gegenwärtiger Perspektive beurteilt – bemerkenswerte emotionelle
Gleichgültigkeit den Kindern gegenüber charakteristisch war, und zwar in allen gesellschaftlichen Schichten (vgl.
Ariès
1975, Donzelot 1979, deMause 1977, Shorter 1977) und unabhängig von
Familienform und -größe.
[078:10] Die Ursachen für die im 19. Jahrhundert sich endgültig
durchsetzende pädagogische Thematik der Familie können mit guten Gründen zum
großen Teil im sich entfaltenden Kapitalismus gesehen werden. Shorter (vgl. 1977,
S. 289 ff.) vermutet in erster Linie den
egoistischen Individualismus, der die
„romantische“
Gattenliebe durch Auflösung traditioneller kollektiver Orientierungen begünstigte, und das steigende materielle Existenzniveau der Massen, das die
intensivere Zuwendung zum Kinde ermöglichte. Aber diese Entwicklung war ideengeschichtlich vorbereitet. Während noch die
antike Ökonomik (
„Hauslehre“
; zum Beispiel Hesiod, Xenophon, Aristoteles) sich fast
ausschließlich auf materielle Produktion, Vermögensprobleme, Tugenden,
eheliches Verhältnis, Beziehungen zu Bediensteten und Gästen oder
Beziehungen zur Polis konzentriert (in Hesiods
„Erga“
heißt es:
„Allererst nun ein Haus und ein Weib und den
pflügenden Ochsen“
– Vers 405 f.)
, beginnt mit der frühen Neuzeit eine sozialnormative pädagogische Literatur, in
der – wenn man so sagen darf – die um Partnerprobleme, Sorge um die Kinder
und gesittete Häuslichkeit bemühte
„Geburt der modernen
Familie“
(Shorter
1977) sich bereits ankündigt. In diese neuzeitliche Tradition
gehören unter anderem die Werke
„Della famiglia“
des
L. B. Alberti (um 1430), die
„Essays“
des M. de Montaigne (um 1580) und die
„Pampaedia“
des A. Comenius (um 1677). Besonders unter dem Einfluß Luthers wird in dieser Zeit in den neu entstehenden Hauslehren
„dem Erwerb von Reichtum die Kindererziehung als die
erste Aufgabe in einem christlichen Hauswesen
gegenübergestellt“
(Hoffmann
1959, S.
43)
. Über zweieinhalb Jahrhunderte breitet sich dann in die|a 416|sem Sinne eine
„Hausväterliteratur“
aus, in
der als Hauptzwecke des häuslichen Lebens die Ehe und die Fürsorge für die
Kinder herausgestellt werden; zur Erhaltung der ganzen Hausgemeinschaft
(ökonomisch und ethisch) seien Redlichkeit, Fleiß und Sparsamkeit
unerläßliche Bedingungen (vgl. Hoffmann 1959, S. 87 ff., S. 188 ff.); dies aber sind eben jene Tugenden, die
der merkantilistische Markt erfordert. In den um 1700 in England und um die
Mitte des Jahrhunderts auch in Deutschland auftauchenden Moralischen Wochenschriften
setzt sich diese Tendenz fort, allerdings mit neuen Akzenten; die
theologische Begründung entfällt, die Liebe zwischen den Ehegatten wird nun
als unerläßliche Voraussetzung eines gedeihlichen Familienlebens angesehen,
die Familie wird als
„Gemütsgemeinschaft“
(Schwägler
1975, S.
17)
beschrieben; die Erziehungsaufgaben werden immer wichtiger. Obwohl zu
dieser Zeit (18. Jahrhundert) die moderne Kleinfamilie (kindzentriert, auf
emotionalen Bindungen beruhend) noch weit davon
entfernt war, ein quantitativ dominanter Typus zu sein, war ihr Bild
propagandistisch entworfen. Die europäischen Intellektuellen unter den
pädagogischen Schriftstellern (so Locke, Rousseau,
Salzmann, Schleiermacher), besonders aber
die Mediziner, bekräftigen es durch herbe Kritik an den immer noch
vorherrschenden traditionellen Zuständen (Kindersterblichkeit, emotionale
Gleichgültigkeit, Ammen-Wesen, frühe Trennung von Kind und Eltern) und durch
erste Versuche, die
„Sozialforschung“
(genaue
Beschreibungen, quantitative Erhebungen, Ursachen-Ermittlung) in den Dienst
des neuen Trends zu stellen. Mit dem
„Biedermeier“
um die
Mitte des 19. Jahrhunderts hat diese Entwicklung ihr begriffliches Ende
erreicht; zugleich aber vollzog sich auch der Umschlag in ihre kritische
Reflexion in F. Engels
„Die Lage der arbeitenden Klassen in England“
(1845).
[078:11] Familienerziehungsforschung. Unter
pädagogischem Gesichtspunkt sind die folgenden Fragen in den Vordergrund zu
rücken: die Familie ist, trotz ihres problematischen Status, der soziale Ort, an
dem sich im Regelfall die ersten Schritte der Menschwerdung vollziehen; das bedeutet im einzelnen, daß das Kind
sich in tätiger Auseinandersetzung mit seiner Umwelt die Grundkompetenzen
interpersonalen Handelns bildet; daß es in diesem Bildungsvorgang sich
selbst bestimmen, das heißt sein Ich abzugrenzen (gegen die Objekte der Wahrnehmung, andere Personen, seine eigenen
Antriebe) erlernt und daß es die grundlegenden kognitiven Orientierungen (Begriffe)
erwirbt. Die theoretische Rekonstruktion dieser Dimensionen
kindlich-familialer Bildung kann nach dem Muster zweier anthropologisch
begründeter Paradigmen vorgenommen werden: dem der werkzeugvermittelten
Auseinandersetzung mit der Natur (instrumentelles Handeln) und dem der
sprachvermittelten Auseinandersetzung mit anderen Menschen (kommunikatives
Handeln).
[078:12] Diese auch unter anderen historischen Bedingungen (und von den
Primärgruppen, die die erste Erziehung der Kinder übernehmen) zu leistenden
Aufgaben stehen unter einem historisch-spezifischen
Bedingungs-/Erwartungsdruck. Die aktuelle Definition von Problemen der
Familienerziehung wird von folgenden vier Merkmalen der gegenwärtigen
Situation strukturiert: die Einführung der Erziehungsthematik nicht nur als
Recht der Familie, sondern als ihre juristisch kontrollierbare Pflicht
(Pädagogisierung), die Abschließung der Familie gegenüber der Öffentlichkeit
(Privatisierung), die emotionale Verdichtung der innerfamilialen Beziehungen
(Intimisierung), die über Lohn beziehungsweise Gehalt hergestellte
materielle Sicherung. Diese Merkmale sind einerseits Bedingungen der
Erziehungsfunktion der Familie, andererseits gefährden sie auch ei|a 417|ne angemessene Erfüllung der pädagogischen Aufgaben,
die nun als Balancierungsleistungen erscheinen (vgl. Claessens/Milhoffer 1973, Mollenhauer
u. a. 1975, Stryker 1964). Eine derartige
Problemstellung wurde insbesondere im Anschluß an die theoretischen
Konstrukte des symbolischen Interaktionismus (vgl. Mead 1968) entwickelt (vgl. Burgess/Locke 1945), durch die Einbeziehung
psychoanalytischer und kommunikationstheoretischer Fragestellungen erweitert
(vgl. Bell/Vogel 1960, Bateson u. a.
1969) und in der Formel symbolisiert, die Familie sei eine
„Unity of interacting personalities“
(vgl. Burgess/Locke 1945). Das erscheint trivial,
ist aber erfolgreich, wenn Interaktion nicht nur als Reiz-Reaktionen-Folge,
sondern als wechselseitige Darstellung von Interpretationen der Erwartungen, Aufgabenstellungen,
Beziehungsdefinitionen und Umweltbedingungen begriffen wird. Die
„Systemeigenschaften“
der Familie (vgl. Claessens
1962, Neidhardt 1975) erlauben eine vergleichsweise gute
Realisierung derartiger Interaktion, und darin liegt ihre pädagogische
Potenz. Dennoch ist diese Potenz gefährdet, bleiben die Balancen prekär. Für
die gegenwärtige Situation der Familienerziehung lassen sich beispielsweise
die folgenden Schwierigkeiten ausmachen:
[078:13] Erstens: Die Tatsache, daß die Familie notwendigerweise, durch den
Generationenabstand zwischen Eltern und Kindern, eine Dominanzstruktur hat (vgl. Claessens/Menne
1979, S. 317 ff.; vgl. Lüschen/Lupri
1970, S. 323 ff., S. 353 ff.) – besonders eine des Vaters in der doppelten Dominanz des Geschlechts und der Generation
–, macht sie empfänglich für gesellschaftliche Bedingungen, in denen sich
Herrschaft realisiert. Sie kann deshalb bei ihren Mitgliedern, vor allem den
Kindern, die sozialpsychologische Disposition bereitwilliger Unterwerfung
unter beliebige andere Autoritäten hervorbringen (vgl. Adorno 1973, Horkheimer
1936). Die Formen elterlicher Autoritätsausübung unterstützen
überdies solche Persönlichkeitsmerkmale des Kindes, die seinen Erfolg im
gegenwärtigen Bildungssystem beeinträchtigen, und zwar abhängig von der
Stellung der Eltern im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung (vgl. Caesar
1972). – Zweitens: Da gegenständlich-produktive Tätigkeit im
Regelfall nicht mehr den materiellen Mittelpunkt der Familien-Interaktionen
bildet, sind diese außerordentlich stark allen Schwankungen des Gefühls und der ins Spiel gebrachten Deutungen ausgesetzt! Die Eltern-Kind-Beziehungen
sind anfällig für Belastungen aus der Berufstätigkeit der Eltern (vgl. Grüneisen/Hoff 1977, Ottomeyer
1974), unbewältigte Konflikte zwischen den Eltern verschieben
sich auf die Eltern-Kind-Beziehung (vgl. Bateson u. a. 1969, Richter
1970), extreme Belastungen durch die äußere oder innere Umwelt
(Verarmung, Emigration, Ausfälle von Mitgliedern durch Scheidung oder Tod
oder Drogenabhängigkeit) strapazieren die Flexibilität (vgl. Hansen/Hill 1964, S. 782 ff.). – Drittens: Die
Mutter-Kind-Beziehung im Säuglingsalter und
der frühen Kindheit ist nicht mehr nur eine Frage zureichender Pflege,
sondern empfindlicher Seismograph der pädagogischen (sozialisatorischen)
Möglichkeiten. Infolgedessen ist nicht nur das Problem der Konstanz der
Bezugspersonen mit Mutterfunktion, die Prüfung derartiger Annahmen in
lerntheoretischen, psychoanalytischen und kulturvergleichenden Studien
verfolgt worden, sondern ebenfalls das der Form dieser Beziehung (vgl. Lehr
1973, Liegle 1971, Lorenzer 1972, Schmalohr
1975). – Viertens: Die
Emanzipation der Kinder aus dem Familienzusammenhang
ist ein Strukturproblem dieser sozialen Gruppe dann, wenn – wie heute der
Regelfall im größten Teil der Bevölkerung – Strukturkontinuität nicht durch
produktives Eigentum gesichert |a 418|ist. Die
Pädagogisierung der Familie müßte die Ablösung der Kinder erleichtern, die
Intimisierung erschwert sie. Verlassen die Kinder die Familie, bleibt nur
die Ehe – also eine völlig andere Struktur – übrig. Eltern antizipieren
diese Situation und halten Kinder fest; Kinder antizipieren ihren Status als
Selbständige und rücken von den Eltern ab (vgl. Gillis 1980,
Shorter
1977, Stierlin 1975).
[078:14] Das so erzeugte komplizierte Netz psycho-sozialer Verhältnisse präsentiert dem Kinde nicht notwendig jene Bedingungen, derer es zur Bildung des
„sozialen Optimismus“
(vgl. Claessens
1962) und des
„Urvertrauens“
(vgl. Erikson
1966), zusammen mit sozialer Distanz, für seine Entwicklung
bedarf; aber es ist für die Entwicklung von Ich-Identität und sozialem
Verhalten die wichtigste Bedingung – was unter anderem auch daraus zu
folgern ist, daß, bei der Erklärung von Verhaltensstörungen, die psycho-soziale Familiensituation unter allen
Variablen den größten Teil der Varianz aufklärt (vgl. Moser 1970,
S. 108 ff.; vgl. Eberhard/Kohlmetz
1973).
[078:15] Diese Tatsachen verpflichten zu subtiler Analyse, die sich nicht
nur auf historisch-gesellschaftliche Charakteristik und interpersonale
Beziehungen richtet, sondern die Familie als eine Lebenswelt zum Thema macht, durch die die herrschende Kultur in fundamentale Kompetenzen des Kindes transformiert wird
(vgl. Claessens
1962, S. 100 ff.). Wie derartige Analysen beschaffen sein
können, haben beispielhaft Hess/Handel (vgl.
1975) gezeigt, deutlicher und umfassender aber vor allem Sartre
(vgl. 1977/1978) in seinem Werk über G.
Flaubert.
[078:16] Perspektiven. Wie auch immer gefährdet,
sozialstrukturell relativ und historisch überholbar, ist gegenwärtig doch
die Familie der gesellschaftlich reguläre Ort, an dem die basalen
Bildungsprozesse vollzogen werden. Anders als ganzheitliche historische
Analyse – das heißt als qualitative, phänomenologisch-strukturale, auf
typische Fälle gerichtete – wird allerdings das erziehungswissenschaftliche
Studium der Familienerziehung kaum weiterkommen. Es bedarf zunächst einer
hinter die Vereinzelung der gegenwärtig zumeist
vorherrschenden Sichtweisen noch zurückgehenden Phänomenologie, die die eigentümlichen Transformationen
beschreibt, die die Erziehungsleistung der Familie ausmachen:
„
den
‚wilden Körper‘
[...] durch
einen
‚habituierten‘
[...] zu ersetzen“
(Bourdieu
1979, S.
199)
, die Transformation von Intersubjektivität durch die Einführung in
die Sprache (vgl. Lorenzer 1972), das Vertrautmachen mit den Objekten und Werten der Kultur im Medium alltäglichen Lebens; es bedarf ferner
einer Rekonstruktion der Regeln, nach denen jene
Transformationen erfolgen (vgl. Hess/Handel
1975, Mollenhauer u. a.
1975); es bedarf schließlich einer sozialhistorischen und sozialstrukturellen Lokalisierung der
Familienformen und ihrer inneren Bildungsprozesse, einer ökologischen
Theorie der Familienerziehung (vgl. Bronfenbrenner 1976; vgl. Rosenbaum
1978, 1982). Die
Sozialform
„Familie“
und damit ihre innere psychosoziale
Dynamik wird sich, wie in der bisherigen Geschichte, wohl auch in Zukunft
wandeln; ob moderne Massengesellschaften indessen auf Dauer die besondere
Erziehungsleistung von Zwei-Generationen-Kleingruppen entbehren könnten, ist
zweifelhaft.
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