Körper [Textfassung a]
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Körper

[079:1] Erziehung hat es notwendig immer auch mit der Leiblichkeit des Kindes zu tun. Das impliziert, sofern auch dies als durch Geschichte hervorgebrachte Problemstellung begriffen wird, daß sowohl das pädagogische Handeln als auch das Nachdenken über Leiblichkeit historisch verschiedene Modi angenommen hat. Der homerische Leib ist ein anderer als der augustinische, der frühneuzeitliche des Pieter Breughel oder des Erasmus, der cartesianische, der der Theorie Rousseaus oder der Leib des Gefangenen in Kafkas
Strafkolonie
. Hinter solchen begrifflichen Zugängen stehen und ihnen korrespondieren bestimmte Formen pädagogischer und sonst gesellschaftlicher Praxis oder Technik im Umgang mit dem, was als Leiblichkeit des Menschen umschrieben ist: Initiationsriten in sogenannten primitiven Gesellschaften, die Gymnastik der Antike, spätmittelalterliche Badehäuser, Anstandsregeln des körperlichen Betragens in der Frühneuzeit, Einübung der Leiblichkeit in die je vom Stand der Produktivkräfte abhängigen Arbeitsvollzüge, Reinlichkeitserziehung, Sexualerziehung, ...
[079:2] So verschieden die historisch bestimmten Formen des Umgangs mit der Leiblichkeit des Kindes und ihre je begrifflichen Korrelate auch sind, sie haben als anthropologische Bedingung ihrer Möglichkeit den
unaufhebbaren Doppelaspekt seiner [des Menschen] Existenz als Körper und Leib
zum Grunde
(Plessner 1965, S. 294)
. Diese Formel der philosophischen Anthropologie besagt, daß der Mensch zwar Körper sei (
Ding unter Dingen
), aber Leib habe, sich also zu seinem Körper in Distanz und Beziehung setzen könne;
positional liegt also ein Dreifaches vor: Das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist
(Plessner 1965, S. 293)
. Deshalb sei der Körper zwar immer letzte Instanz
der inneren Evidenz
, könne aber den Zweifel an der Wahrhaftigkeit des eigenen Seins nicht beseitigen und umgekehrt (vgl. Plessner 1965, S. 298). Die Körperlichkeit wurde also als Horizont noch des Leibhabens bestimmt, der nach außen verlegte
Blickpunkt
auf Körper und Leib begründet damit die eigentümliche Stellung des Menschen in der Welt (als anschauliche Erläuterung vgl. Sartre 1977).
[079:3] In der wissenschaftlichen Beschäftigung der letzten Jahrzehnte mit dem Körper ist diese Formel zwar nicht aufgelöst, aber stark modifiziert worden. Die These von der transzendentalen Natürlich|a 479|keit wird nunmehr als historischer Spezialfall und nicht als überhistorische Wesensaussage toleriert. Damit kommt eine eher gesellschaftswissenschaftliche Grundorientierung der Anthropologie zum Tragen, die vor allem die rückwirkenden Folgen des Leibhabens, also der sozialgeschichtlichen Vergegenständlichung und Verwertung des menschlichen Leibes, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Ähnlich wie im Umgang mit der Natur, mit deren Stoffen und Gestalten, scheint sich geschichtlich seit dem Mittelalter auch im Umgang mit dem Körper der Menschen ein Organisationsprinzip durchzusetzen, nach dem einerseits die genuinen Gesetzmäßigkeiten des Körpers immer genauer erforscht, andererseits aber auch ohne Rücksicht auf irgendwelche Spätfolgen mißachtet werden (vgl. Elias 1969, Kamper/Rittner 1976, zur Lippe 1974). In einer zunächst langsam und unspezifisch anhebenden Zurichtung von körperlichen Funktionen und Expressionen (Tischsitten, Umgangsformen, Anstandsregeln) wird die
innere Natur
einer Regelhaftigkeit unterworfen, die, grob formuliert, mit der gesellschaftlichen Abstraktion verbunden ist. Das konnte beispielsweise an der Geschichte des Balletts (vgl. zur Lippe 1974) und des Sports (vgl. Eichberg 1978) gezeigt werden. Diese Instrumentalisierung beschleunigt sich immer mehr (gewiß seit der Industrialisierung) und kulminiert in der Gegenwart dadurch, daß der Körper, der nach wie vor als unüberholbare Grundlage der Vergesellschaftung fungiert, seine hilfreiche Unterstützung für eine weitere Eskalation der Zurichtungsprozesse zu verweigern scheint. Der menschliche Leib ist als Arbeitskraft, als Sexualobjekt, als Krankheitsherd, als Zeichenträger über die Grenze des Zuträglichen hinaus in Dienst genommen. Er produziert chronische Symptome, sendet immer hilflosere, irrationale und unverständlichere Signale aus und entzieht somit dem gesellschaftlichen Organisationsprinzip, jener abstrakt-allgemeinen Instanz der Naturbeherrschung, selbst die Fundamente. Die Trennung von Körper und Geist droht total zu werden. Auch die Chancen einer einfachen Gegenwehr mit Hilfe des Körpers, also der Mobilisierung der Sinnlichkeit oder einer als positiv angesetzten natürlichen Unmittelbarkeit, wie sie vor allem seitens der
Kritischen Theorie
zunächst noch hoch angesetzt wurden, gelten als minimal, seitdem eine Mikrophysik der Macht (vgl. Foucault 1976) die historische Produktivität von Disziplin und Kontrolle über den Körper als durchdringend und ihre Effekte als weitgehend irreversibel verdeutlicht hat. Angesichts solcher Beobachtungen wird zweifelhaft, ob das Urteil von Elias, es handele sich bei diesem
Prozeß der Zivilisation
um einen kontinuierlichen Zuwachs an Vernunft, weiterhin zustimmungsfähig ist (vgl. Elias 1969, de Mause 1977).
[079:4] Parallel zu jener Entwicklung, teils aber auch schon weit vor das Mittelalter zurückreichend, findet ein pädagogisches Prinzip Anwendung, das jenes
Dispositiv
(vgl. Foucault 1977, S. 95 ff.)
für den Umgang mit dem Körper auf die Organisation von Erziehungsverhältnissen überträgt: An die Stelle der körperlichen Gewalt im Umgang mit Kindern tritt tendenziell die (nur noch) symbolische Gewalt der pädagogischen Handlung (vgl. Bourdieu 1976). Unabhängig von solchen historischen Varianten aber
sieht jede Gesellschaft Einprägungsweisen vor, die [...] strukturale Übungen darstellen
und zunächst unmittelbar an fundamentale Körpererfahrungen, an den Körper als erstes
Referenzschema für die Ordnung der Welt
, gebunden sind
(Bourdieu 1976, S. 192 f.)
. Das zeigt sich in der Imitation von Gesten und Posituren ebenso wie in der Kleidung, der Motorik, dem Spiel.
Struktural
sind solche Übungen und Erfahrungen insofern, als in ihnen nicht nur |a 480|eine je einzelne Körperhandlung vollzogen, sondern zugleich ein kultureller Typus im Kinde ausgebildet wird, denn
das Verhältnis zum eigenen Körper ist immer durch den Mythos vermittelt
(Bourdieu 1976, S. 193)
. Es gibt also in jeder pädagogischen Praxis ein Normalitätsmodell angenommener Körperdarstellung; außerdem ist der Körper immer auch der Ort, an dem sich Lernen abspielt, denn das Kind lernt mit seinem Gesamtorganismus, mit allen seinen Sinnen. Wenn diese beiden Behauptungen akzeptabel sind, dann stellt sich die Frage, wieweit Normalitätsmodelle noch der Körperlichkeit des Lernens
gerecht
werden und ob nicht doch die oben skizzierten anthropologischen Thesen Plessners als regulatives Prinzip für die Beurteilung pädagogischer Sachverhalte gelten können.
[079:5] Folgen wir der These von Foucault (vgl. 1977), daß die Geschichte der Neuzeit auch eine Geschichte der zunehmenden Körperdressur, der pädagogischen Behandlung des Körpers als
Ding unter Dingen
zum Zwecke der wirkungsvolleren Beherrschung von Menschen ist, folgen wir ferner den skeptischen Analysen von Bourdieu (vgl. 1976), nach denen der pädagogische Habitus gerade dadurch, daß
Modelle
der Bildung an die Stelle körpervermittelter
Praxis
treten und die spontane Improvisation von Körperlichkeit tendenziell verdrängt wird, bleiben wir schließlich mißtrauisch gegenüber den Versuchen einer ahistorischen und naiven
Erneuerung
körperlicher Unmittelbarkeit, dann ist das pädagogische Nachdenken über eine praxisrelevante Problemstellung und über die historische Analyse hinaus eher ratlos. Weder kann es darum gehen, die Verwertungsprozesse kritiklos fortzusetzen, noch scheint es möglich zu sein, irgendeine angebbare Alternative zur gesellschaftlichen Abstraktion zu praktizieren, die nicht endlich auch unter das Prinzip, das sie bekämpft, subsumiert wäre. Die einzige Möglichkeit scheint darin zu liegen, den Körper zur Geltung zu bringen, wenigstens die Reste seiner genuinen Produktionsweise zu tolerieren und zu ermöglichen. Die darin enthaltene Dialektik von Körperlichkeit und Geschichtlichkeit, von individueller
Personalisation
und kollektiver
Konstitution
ist beispielhaft von Sartre (vgl. 1977) in seiner Analyse des Falles Flaubert herausgearbeitet worden.
[079:6] Aber auch solche Tendenzen – die neueren Rekurse auf Körpersprache, auf averbale Kommunikationsformen (vgl. Scheflen 1976) und die ihnen korrespondierenden Praktiken der körperzentrierten Therapien (vgl. Petzold 1974), der Sexualität, der kaum noch verstehbaren Zunahme von Körpergewalt in Fußballstadien, neue Formen der körperlichen Selbstinszenierung Jugendlicher – werden, solange in ihnen nicht Kultur überhaupt geleugnet werden soll (vgl. Freud 1930) und damit ein Selbstwiderspruch unvermeidlich wäre, einem
Dispositiv
für den Umgang mit dem Körper und damit der Dialektik von
Körper sein
und
Leib haben
nicht entfliehen können. Ob indessen die herrschende Regel pädagogischer Zurichtung noch eine human zu nennende Zukunft versprechen kann, mag fraglich sein.
Ironie dieses Dispositivs: es macht uns glauben, daß es darin um unsere
Befreiung
geht
(Foucault 1977, S. 190)
.
[079:7] Alsberg, P.: Das Menschheitsrätsel, Wien/Leipzig 1937. Ariès, Ph.: Geschichte der Kindheit, München 1978. Bourdieu, P.: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M. 1976. Eichberg, H.: Leistung, Spannung, Geschwindigkeit, Stuttgart 1978. Elias, N.: Der Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt/M. 1969. Foucault, M.: Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976. Foucault, M.: Sexualität und Wahrheit, Frankfurt/M. 1977. Freud, S.: Das Unbeha|a 481|gen an der Kultur, Leipzig/Wien/Zürich 1930. Grunert, J. (Hg.): Körperbild und Selbstverständnis, München 1977. Kamper, D./Rittner, V. (Hg.): Zur Geschichte des Körpers, München 1976. Lippe, R. zur: Naturbeherrschung am Menschen, Frankfurt/M. 1974. Mause, L. de (Hg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt/M. 1977. Petzold, H. (Hg.): Psychotherapie und Körperdynamik, Paderborn 1974. Plessner, H.: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1965. Sartre, J.-P.: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857, Bd. 2: Die Personalisation 1, Reinbek 1977. Scheflen, A. E.: Körpersprache und soziale Ordnung, Stuttgart 1976.