Selbsttätigkeit: Reden, Rechnen, Gehen [Textfassung a]
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Selbsttätigkeit: Reden, Rechnen, Gehen

[A08:1] Im Rahmen einer Vortragsreihe mit dem Titel
Sinn im Wissenschaftshorizont
könnte es für den Pädagogen, um einen Beitrag gebeten, naheliegen,
vom Sinn der Erziehung und Bildung
zu reden, oder zu erläutern, inwiefern und ob überhaupt Erziehungswissenschaft als eine sinnverstehende Tätigkeit bestimmt werden könnte, oder darzustellen, wie Kinder sich den Sinn der Lebenswelt erschließen, in der sie aufwachsen bzw. wie die Erwachsenen solchen Sinn den Kindern repräsentieren – vom möglichen und wirklichen Unsinn in all diesen Hinsichten gar nicht zu reden! Allein: ich möchte hier einen anderen Problemzugang wählen, da ja doch über jene drei Varianten des Themas – die anthropologische, die wissenschaftstheoretische und die empirische – so viel geschrieben wurde, daß mein Beitrag vielleicht nicht unbedingt eine Bereicherung der Diskussion wäre. Man kann den Bezug, den das Rahmenthema auf pädagogische Problemstellungen hat, auch auf andere Weise suchen:
[A08:2] Daß die Bildung des Kindes in dem Maße vorankommt, in dem es sieh die Sinnhorizonte der vorgegebenen Lebenswelt, ihre kulturellen Bestände und Traditionen erschließt, wird kaum mit Gründen bezweifelt werden können (man denke nur an die Sprache). Daß andererseits, wer erziehen will, sich auf die Lebensäußerungen des Kindes sinnverstehend beziehen muß, scheint mindestens in unserem Kulturkreis plausibel. Dieses sinnverstehende Sich-Beziehen auf das Kind richtet sich naturgemäß auf die verschiedensten Lebensäußerungen; viele davon sind Imitate der herrschenden Kultur, mit Varianten und Nuancierungen. Einige aber sind anders; zu diesen gehören Akte der Selbsttätigkeit. Sie sind nicht notwendig anders in den Inhalten, sie sind es vielmehr der Form nach. Ich möchte das Sinnproblem im Hin|a 70|blick auf diese Akte von Kindern und Jugendlichen vorläufig so umschreiben: Ehe noch der sich bildende junge Mensch im Kontext gegebener und inhaltlich bestimmter Sinnhorizonte lokalisiert wird bzw. sich lokalisiert,
produziert
er Lebenssinn für sich selbst in Akten der Selbsttätigkeit. Das geschieht beispielsweise im Symbolspiel des Kleinkindes; in der Bildung eines Begriffs von
anderen Personen
, die allgemeiner sind als Mutter und Vater; in kognitiver Koordinierung von Menge und Gewicht, subjektiv-erlebter und objektiv-meßbarer Zeit und in vielen anderen ähnlichen Operationen. Diese Operationen sind nicht
lehrbar
. Lehrbar und demonstrierbar sind nur die Problemstellungen (und für diese findet das Kind in den ihm präsentierten Lebensformen mannigfache Anlässe). Das jeweilige Problem aber muß das Kind selber lösen, durch seine eigene geistige Tätigkeit. Diese Problemlösung bedeutet für das Kind
Sinn
insofern, als ihm daraus eine Kompetenz erwächst, es anders ist, es mehr kann, es beteiligter wird als vordem. Im folgenden möchte ich, gleichsam neben den in der erziehungswissenschaftlichen Literatur üblicherweise geführten Diskussionen herlaufend, an drei Beispielen fragen, was Selbsttätigkeit im Sinne dieser elementaren Sinnproduktion sein könnte.

Reden

[081:300] Im Jahre 1805 schrieb Heinrich von Kleist ein kleines Prosastück mit dem Titel
Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden
. Dieses Stück enthält, in sehr leichter, fast spielerischer Attitüde vorgetragen, einen für die Bildungstheorie wesentlichen Gedanken, wenngleich wohl auf Anhieb schwer erkennbar ist, was die folgende kleine Szene mit Pädagogik zu tun haben könnte:
[081:301]
Mir fällt jener
Donnerkeil
des Mirabeau ein, mit welchem er (Mirabeau) den Zeremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juni, in welcher dieser den Ständen auseinanderzugehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten?
Ja
, antwortete Mirabeau,
wir haben des Königs Befehl vernommen
– ich bin gewiß, daß er, bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchen er schloß:
ja, mein Herr
, wiederholte er,
wir haben ihn vernommen
– man sieht, daß er noch gar nicht recht weiß, was er will.
Doch was berechtigt Sie
– fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell |a 71|ungeheurer Vorstellungen auf –
uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation.
– Das war es, was er brauchte!
Die Nation gibt Befehle und empfängt keine.
– um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen,
und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre
– und erst jetzo findet er, was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt:
so sagen Sie Ihrem Könige, daß wir unsre Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden.
– worauf er sich, selbstzufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte. – Wenn man sich den Zeremonienmeister denkt, so kann man sich ihn bei diesem Auftritt nicht anders, als in einem völligen Geistesbankerott vorstellen.
(Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Zweiter Band, hrsg. von H. Sembdner, S. 323)
[081:302] Mich interessiert an dieser
Anekdote
nicht die republikanische Pointe, sondern die dargestellte geistige Bewegung, die Art der Tätigkeit, die hier durch das Reden in Gang gesetzt wird. Aber das ist schon nicht ganz richtig beschrieben. Kleist behauptet in der Szene nicht, daß das Reden die Ursache der Bewegung der Gedanken sei; er vermeidet überhaupt jede empirische Eindeutigkeit im Sinne von Ursachen und ihren Folgen; nicht das
Verfertigen der Gedanken durch das Reden
(oder das Umgekehrte) zeigt er, sondern
beim Reden
. Denken und Reden sind parallele Ereignisse, allerdings so, daß zwischen beiden irgendeine Art von Wechselbeziehung gedacht wird. Das läßt sich – jedenfalls von Heinrich von Kleist – auch in einem Satz darstellen. In dem Essay heißt es etwas früher:
[081:303]
Weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist.
(Kleist, a. a. O., S. 322)
[081:304] Dieser Satz repräsentiert, in seinem syntaktischen Gefüge, genau den Gedanken, den er zum Inhalt hat. Zugleich repräsentiert er aber auch die Bewegung, in der der Gedanke gebildet wird. Die Bewegung des Gedankens und die Bewegung des Redens (oder auch Schreibens) können wir auch
innere
und
äußere
Tätigkeit nennen. Und sofern das Subjekt des Satzes und das Subjekt der Tätigkeit identisch sind, reden wir von
Selbsttätigkeit
.
[081:305a] Das ist nun allerdings zunächst nur ein Etikett; was es bedeuten könnte, zumal welches Problem sich darin verbirgt, soll gleich erläu|a 72|tert werden. Zunächst aber noch ein paar Sätze zu dem anschaulichen Bild, in dem Kleist seine Problemskizze vorträgt.
[081:305b] Ganz wesentlich für Kleists Vorstellung von dem Sachverhalt ist nämlich, daß diese
Verfertigung der Gedanken beim Reden
nicht etwa – das wäre ja denkbar – als stille Meditation eines einsamen Denkers gedacht wird, sondern vor Publikum, in einem sozialen Verhältnis also. Dies ist ihm sogar das Wichtigste an dem ganzen Problem. Der Essay beginnt nämlich mit dem folgenden Satz:
[081:306]
Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharf denkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen.
(Kleist, a. a. O., S. 321)
[081:307] Man kann zwar nicht behaupten, Kleist sei hier der Meinung, daß jene Tätigkeit der Gedanken-Verfertigung immer und nur dann möglich ist, wenn die Bedingung eines sozialen Verhältnisses gegeben ist. Der Essay ist keine philosophisch-logische Argumentation. Er läßt deshalb diese Frage offen. Aber er gibt doch zu bedenken, wie wichtig es für den Begriff der geistigen Tätigkeit sein könnte, sie sich nicht nur so zu denken, als richte ein denkendes (oder sonst irgend produktives) Ich seine Aufmerksamkeit auf nichts als den Gegenstand, sondern auch so, daß die Aufmerksamkeit eines anderen, eines Alter ego, für die eigene Tätigkeit, ihre Bewegung und ihr Produkt, bedeutungsvoll, wenn nicht gar notwendig ist. Erst in unserem Jahrhundert wurde, beispielsweise von G. H. Mead, dieser Gedanke voll entfaltet. Aber schon zur Zeit Kleists fand er in der Philosophie Fichtes und seiner Schüler eine Stütze. Deren Frage war, wie aus dem bloß möglichen Vernunftwesen Mensch ein wirkliches werde (vgl. für das folgende D. Benner 1978, S. 89 ff..
[081:308a] Der Argumentationsgang der Fichteaner sieht so aus: Ausgangspunkt ihrer erziehungsphilosophischen Überlegungen ist eine Definition des Menschen als Vernunftwesen:
Das Vernunftwesen ist ein mit Bewußtsein tätiges
(Sauer)
. Das bedeutet zweierlei: Einerseits ist jeder einzelne Mensch das, was er als Vernunftwesen ist, nur durch Tätigkeit, der Mensch
als Werk seiner selbst
, wie Pestalozzi sagte; andererseits ist er das nicht durch Tätigkeit überhaupt, durch irgendeine |a 73|Tätigkeit, sondern durch
bewußte
Tätigkeit; und
bewußt
ist eine Tätigkeit dann zu nennen, wenn – gleichsam neben der Tätigkeit – diese Tätigkeit auch noch angeschaut wird. Die Fichteaner nennen dieses Anschauen der eigenen Tätigkeit
Reflexion
. Es gibt also zwei Arten von Tätigkeit: einen gleichsam naiven Umgang mit den Gegenständen der Welt und eine Auseinandersetzung mit den Weisen dieses Umgangs. Erst wenn die zweite Art der Tätigkeit hinzutritt und sich auf die erste bezieht, kann man sagen, daß das Vernunftwesen sich die Welt aneignet, Sinneswahrnehmungen zu eigenen Erfahrungen macht, sich bildet.
[081:308b] Das hier Gemeinte läßt sich beispielsweise beim Kleinkind beobachten, wenn es, nach einer Phase scheinbar diffusen Hantierens mit Bauklötzen, zu einem regelgeleiteten konstruktiven Spiel übergeht (in der Bildungstheorie Piagets spielt in diesem Vorgang tätiger Weltaneignung die Bildung von Begriffen die entscheidende Rolle). Will man den Bildungsprozeß eines Menschen verstehen, muß man sich also offenbar klarmachen, von welcher Art dieses eigentümliche Verhältnis ist, das wir je zu uns selber haben.
Die Bildung des Vernunftwesens findet auf keine andere Weise als durch eine Wechselwirkung desselben mit sich selbst statt. Was auch immer von außen zu ihrer Beförderung geschehen mag, seine Bildung verdankt es schlechthin sich selbst, denn so wie es aus sich selbst nie heraustritt, so gelangt auch nie etwas in dasselbe hinein, es sei denn, daß es sich dasselbe aneigne
(Sauer )
.
[081:309] Das scheint nun eine durchaus unbefriedigende Formulierung des Bildungsproblems zu sein. Es sollte doch geklärt werden, wie das Vernunftwesen, das der Mensch als Möglichkeit ist, Wirklichkeit wird. Was hat es also mit dem
Werden
auf sich, von dem im letzten Zitat die Rede war? Denn: bliebe es bei der bisherigen Auskunft über das Problem, wäre
Erziehung
überflüssig, und der Bildungsprozeß wäre nichts als eine dauerhafte Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst. Selbsttätigkeit wäre eine Art Münchhausen-Effekt. Kleist gibt in seinem Essay und seiner Anekdote vorsichtig, aber anschaulich zu bedenken, daß da noch etwas fehlen könnte. Und auch die Schüler |a 74|Fichtes stoßen auf diese Schwierigkeit:
[081:310]
Es ist ... nicht zu begreifen, wie sie (die Kräfte des möglichen Vernunftwesens) von sich selbst ohne äußeren Anstoß in Wechselwirkung treten könnten, denn von welcher aus der Anfang gemacht werden sollte, diese müßte, wider unsere Voraussetzung, in ihrer Ruhe schon als tätig einwirkend auf die übrigen gedacht werden. Sollen sie also denn doch aus ihrer Ruhe in wechselseitige Tätigkeit übergehen, so kann der Grund davon nur einem äußern Antriebe beigelegt werden.
(Sauer, zit. nach Benner 1978, S. 93)
[081:311a] Wie also kann man sich vorstellen, daß die im Kinde gleichsam schlummernden Kräfte des Vernunftwesens in Tätigkeit kommen? Wie kann man sich vorstellen, daß aus der bloßen Bildsamkeit, dem Vernunftwesen als Möglichkeit also, ein wirklicher Bildungsprozeß wird? Und läßt sich eine Antwort finden, die notwendig ist und nicht nur zwar plausible, aber vielleicht zufällige empirische Beobachtungen beibringt?
[081:311b] Eine Antwort, die nur auf zufällige empirischen Bedingungen, Anstöße verweist, könnte nicht befriedigen. Würden wir uns nämlich mit derartigen Antworten zufrieden geben, dann würden wir ja die Prinzipien unseres pädagogischen Handelns situativ den jeweiligen Umständen anpassen: d. h. von
Prinzipien
des Handelns könnte keine Rede mehr sein, eher von vermuteten oder situativ erfundenen Zweckmäßigkeiten, die sich dann nicht mehr am Menschen als Vernunftwesen orientierten, sondern an dem, was man gerade kurzfristig für wünschenswert hält oder billigend in Kauf nimmt. Eine solche Einstellung nennen wir nach herrschendem Sprachgebrauch
opportunistisch
.
[081:312] Der springende Punkt ist also die Frage, wie die
Vernunft
des Kindes in Tätigkeit versetzt werden kann. Da nicht erkennbar ist, wie das mögliche Vernunftwesen aus sich selbst heraus zu dieser Tätigkeit kommen könnte, bedarf es eines Antriebs von außen. Also beispielsweise die Sinnesempfindungen? Diese Antwort führt, nach allem Vorhergehenden, in eine Sackgasse: wie beispielsweise könnte man sich verständlich machen, daß das Hantieren des Kindes mit Bauklötzen zu einer Idee regelgeleiteter Operationen führt? Die Sinnesempfindung, auch die durch die Motorik des Kindes bewirkte Selbststimulation (die wir ja auch bei Tieren beobachten können), wie erreicht sie die
schlummernden
Vernunftkräfte? Denn alle Sinneseindrücke können doch immer nur die erste Art der Tätigkeit erreichen und erregen.
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[081:313] Wie also muß dieser äußere Antrieb gedacht werden, damit er nicht nur das gleichsam naive Tätigsein erreicht, sondern das
mögliche
Vernunftwesen derart in Tätigkeit versetzt, daß es anfängt, sich reflexiv auf die Tätigkeiten der ersten Art zu beziehen? Der Antrieb oder Anstoß muß also so beschaffen sein, daß er nicht nur das äußere Tätigsein betrifft, sondern die innere Tätigkeit, und daß eine Beziehung zwischen beiden hergestellt werden kann. Die Antwort der Fichteaner war, im Grundsatz, nicht sehr verschieden von der Antwort, die die Erziehungsforschung auch heute gibt – heute freilich detaillierter und durch einige wichtige Zusatzbedingungen angereichert – , nämlich:
[081:314]
Das unbestimmte Vernunftwesen kann mit sich selbst in keinen bestimmten Wechsel treten, wenn es nicht durch ein anderes, bestimmtes Vernunftwesen dazu ausdrücklich bestimmt wird
(Sauer)
. Oder etwas ausführlicher:
Das Resultat des Gesagten ist also der Satz, daß die ganze Erziehung lediglich darin besteht, daß das Wesen, welches erzogen werden soll, durch äußere Gegenstände zum freien Handeln aufgefordert und dadurch seine Selbstständigkeit angeregt werde ...
(Johannsen, zit. nach Benner 1978, S. 94)
[081:315] Genau das hatte Kleist angedeutet. Aber er fügte diesem Gedanken noch eine nicht unwichtige Interpretation hinzu: es bedürfe nämlich für jene Aufforderung zur Selbsttätigkeit keiner besonders geschäftigen Selbstdarstellung, keiner zielgerichteten, auf eine bestimmte Wirkung bedachten Tätigkeit des Anderen, sondern nur einer gewissen gespannten Aufmerksamkeit für die Differenz zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen. Die erste Tugend des Pädagogen wäre demnach Aufmerksamkeit, Zuhören-Können, geduldig beobachten.

Rechnen

[081:316] Ein Mathematiklehrer (B. M.) unterrichtet in einer Art Privatstunde einen achtjährigen Jungen (Didier). Dabei spielt sich die folgende Szene ab:
[081:317]
B. M.: Wieviel Finger hast du?
Didier: Warte mal. Hmm, einen zwei, drei, vier. Vier.
– Und ich?
– (er zählt) Fünf.
– Haben alle Leute gleich viel Finger?
– Ja.
– Und Rémy, wieviel Finger hat der ?
– Fünf. |a 76|
– Und du, Didier?
– Das hab’ ich dir doch schon gesagt.
– Wieviel denn?
– O je, o je, vier.
– Aber ich, ich habe fünf?
– Ja, also ich habe doch immer weniger.
[081:318] Später kommentiert der Lehrer:
[081:319]
In der Zwischenzeit hat Didier gewisse Fortschritte gemacht. Er hat sogar ganz gewisse Fortschritte gemacht. Er ist nicht mehr derselbe wie im September. Er ist viel weniger zerstreut und keineswegs (aber wirklich keineswegs) mehr das artige Kind. Er ist schelmisch geworden, lebhaft und weiß sich zu wehren. Wenn er auch immer noch weniger hat, will er jetzt doch mehr.
(Mannoni 1978, S. 90 f.)
[081:320] Was geschieht hier? Der Ort der Handlung ist Bonneuil, eine kinder- und jugendpsychiatrische Einrichtung in der Nähe von Paris, in der seelisch schwer geschädigten Kindern und Jugendlichen pädagogisch und therapeutisch geholfen wird. Die Einrichtung ist keine stationäre Klinik, sondern
offen
: die Kinder wohnen teils in der Einrichtung, teils in Pflegefamilien, nach eigenem Belieben; es werden Einzeltherapien, Gruppengespräche, Unterrichtsstunden usw. angeboten; niemand wird zur Teilnahme gezwungen; wer arbeiten will, dem wird eine Möglichkeit dazu vermittelt, meist bei Freunden der Einrichtung. Hier also lebt auch der achtjährige Didier. Er hat einen starken Entwicklungsrückstand und wirkt schwachsinnig; das wird von dem Lehrer, der die Szene notierte, allerdings anders ausgedrückt:
Er spielt perfekt den
Debilen
(a. a. O., S. 86)
. Er
ist
also nicht schwachsinnig; vielmehr folgt er in seinem Verhalten einer (ihm nicht bewußten) Regel, die ihn als schwachsinnig erscheinen läßt.
Schwachsinn
ist für ihn selbst die Legitimation seines Verhaltens und für die anderen ein Etikett, das seine Merkwürdigkeiten (scheinbar) verstehbar macht. (Ein anderer Junge dieser Einrichtung hatte einmal dieses Problem auf eine einfache Formel gebracht, einen Test zur Unterscheidung eines
echten
von einem
gespielten
Schwachsinnigen:
Man stellt eine Frage: Wieviel ist 10 mal 10? Der natürliche Idiot weiß es nicht. Der den Idioten spielt, gibt absichtlich eine falsche Antwort, weil er fürchtet, eine tödliche Antwort zu geben
(ebd.)
. Das verrät eine gute Kenntnis der
Innenansicht
von Pseudo-Debilität, allerdings nicht ganz zutreffend, denn was soll hier
absichtlich
heißen?)
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[081:321] Didier beispielsweise, auf die Aufforderung hin, einen kleinen, einen mittleren und einen großen Stock zu zeichnen, gibt dem Lehrer das Blatt mit folgenden drei Strichen zurück:
Hier ist eine Grafik mit drei unterschiedlich langen vertikalen Strichen zu sehen.
[081:322] Der Lehrer fragt skeptisch nach, und der Junge erklärt, der mittlere sei der größte. Beherrscht er die Reihenbildung nicht? Der Lehrer kommentiert:
Didier ist der älteste unter den Geschwistern. Er hat zwei Brüder, und der mittlere Bruder ist genauso groß wie Didier ... Didier reproduziert also haargenau eine Familiensituation, die ihn beängstigt und von der er sich nicht abstrahieren kann
(a. a. O., S. 87)
.
[081:323] Diese Informationen erklären zwar noch nicht zureichend den von Didier gespielten Schwachsinn, sie erleichtern aber die Interpretation der zitierten Szene. Was also geschieht dort? Der Lehrer diagnostiziert das Lernproblem Didiers offenbar (nicht explizit; aber man erkennt es aus seinen Beispielen) als eine Paradoxie, die durch zwei unvereinbare Anforderungen entsteht: was kognitiv richtig ist, ist affektiv falsch; was affektiv richtig ist, ist kognitiv falsch.
[081:324] Man könnte, angesichts einer solchen Blockierung der Vernunfttätigkeit des Kindes, die beiden Komponenten trennen: zunächst das Zählen üben, und zwar an unverfänglichen Beispielen, und, etwa parallel dazu, in therapeutischen Gesprächen und Übungen, die affektive Situation aufklären (für das eine wäre der Pädagoge, für das andere der Psychotherapeut zuständig). Der Lehrer in jener Szene trifft eine andere Wahl; er trennt die Komponenten nicht, sondern nötigt das Kind geradezu in das Dilemma hinein. Ihm wird keine Möglichkeit gelassen,
den Idioten zu spielen
, denn daß es bis fünf zählen kann, hat es ja bereits zugegeben; ihm bleibt deshalb nur noch die Wahl, die Interaktion abzubrechen oder sich mit seiner affektiven Blockade auseinanderzusetzen. Das Kind
akzeptieren
heißt hier also nicht, es in seinem gegenwärtigen Status gelten zu lassen, sondern es darüber hinauszudrängen dadurch, daß es zur Lösung eines schwierigen Problems genötigt wird: Aufforderung zur Selbsttätigkeit. Das ge|a 78|schieht freilich nicht in einer einzigen Situation, sondern in einer Serie von Situationen, die immer diese gleiche Struktur haben.
[081:325] Das zugrunde liegende Problem bezeichnet der Lehrer so: diese Kinder abstrahieren sich nicht vom Konkreten; eben dies blockiert ihre Tätigkeit. Die pädagogische Aufgabe besteht demnach darin, diese Abstraktion zu ermöglichen; das soll dadurch geschehen, daß die Selbsttätigkeit des Kindes
als Vernunftwesen
(Fichte) herausgefordert wird; dies wiederum bedeutet, daß es, in den zitierten Beispielen, sich von den beiden Komponenten (Kognition und Affektion) distanzieren kann, eine
operative
Einstellung gewinnt. Das ist nun aber eine Beschreibung des vorliegenden pädagogischen Problems, das der Auffassung Piagets nicht nur ähnelt, sondern ihr gleich ist.
[081:326] Bei Piaget taucht das Wort
Selbsttätigkeit
als theoretischer Terminus nicht auf. Er spricht statt dessen von
Mobilität
. Ich will erläutern, inwiefern
Steigerung der Mobilität
die lerntheoretische Version dessen ist, was bei den Fichteanern
Aufforderung zur Selbsttätigkeit
hieß. Die Problemstellung wird in folgender Experimentalanordnung deutlich:
[081:327]
Zwei Dimensionen (Farbe und Form) mit je drei Werten (Rot, Gelb, Grün; Viereck, Dreieck, Kreuz) sind in einer Matrix so multipliziert, daß die nebeneinanderliegenden Zellen (die Zellen einer Zeile) alle die gleiche Farbe und die untereinanderliegenden Zellen (die Zellen einer Spalte) alle die gleiche Form haben. Man kann das Verständnis für diese logische Multiplikation zweier Dimensionen dadurch prüfen, daß man eine Zelle der Matrix abdeckt und die Matrix ergänzen läßt. Die richtige Lösung besteht darin, daß man die Form der Spalte und die Farbe der Reihe bestimmt und die bestimmten Werte kombiniert. Der typische Fehler des voroperatorischen Niveaus besteht darin, daß nur auf eine Dimension geachtet wird, also nur auf die Form oder nur auf die Farbe. Ein Pb kann nun leicht in einen Zustand mangelnden Gleichgewichtes geraten, wenn er nämlich auf die zunächst vernachlässigte Dimension achtet. Er wird in diesem Falle seine erste Ergänzung (sein erstes Urteil) als falsch ansehen und revidieren. Erst wenn beide Dimensionen gleichzeitig beachtet und logisch multipliziert werden, kann eine Vervollständigung der Matrix stabil bleiben. Das Urteil erfährt dann keine Veränderung mehr durch plötzliches Beachten der vorher vernachlässigten Dimension, und wir können sagen, daß nun ein höherer Grad des Gleichgewichts erreicht ist.
(Montada 1970, S. 165)
[081:328a] Man kann sich – wie übrigens sehr viele Experimente Piagets und seiner
Schule
zeigen – diesen Versuch sowohl als Test wie auch als pädagogische Übungsaufgabe vorstellen. Als Übungsaufgabe wurde |a 79|diese Versuchsanordnung beispielsweise folgendermaßen verwendet: Ein Kind, das über die Fähigkeiten der operativen Intelligenz nocht nicht verfügt, wird aufgefordert, in raschem Wechsel mal das fehlende Element in der Senkrechten, mal in der Waagerechten zu bestimmen. Dabei lernt es, beide Dimensionen zu koordinieren, also rasch zwischen beiden hin- und herzuwechseln; es steigert also seine kognitive
Mobilität
.
[081:328b] Im Prinzip wurde von Didier das gleiche verlangt: er wird mit einem Problem konfrontiert, über dessen Lösungswege er noch nicht verfügt; diese Lösungen werden ihm nicht
gesagt
, es finden keine Belehrungen statt. Vielmehr wird der kindliche Geist streng auf den Punkt hingeführt, an dem er selbst die Lösung finden kann. Die Lösung selbst ist dann nichts, was dem Kind äußerlich wäre, sondern sie repräsentiert eine neu erworbene Kompetenz, eine neue operative Fähigkeit des Kindes; diese Fähigkeit hat es nicht wie etwas auswendig Gelerntes, sondern sie ist ihm
eigen
. Das ist es, was die Fichteaner
aneignen
nennen, zu einer solchen Aneignung oder Kompetenz kann es aber nur kommen, wenn der kindliche Geist selbst produktiv tätig wird. Auch das hatten die Fichteaner formelhaft ausgedrückt, als sie sagten,
seine Bildung verdankt es (das Vernunftwesen) schlechthin sich selbst
(Sauer)
oder
der Mensch wird nur durch sich selbst ein Mensch
(Johannsen)
. Aber freilich bedarf es dazu der
Aufforderung
. Die Beispiele erläutern, daß
Aufforderung
zur Selbsttätigkeit nicht einfach ein verbaler Appell ist. Diese
Aufforderung
ist, genau besehen, eine ziemlich komplexe Handlung des Erziehers oder sogar eine komplexe Serie von Handlungen in immer anderen Situationen.

Gehen

[081:339] Der
aufrechte Gang
ist eine beliebte aufklärerische Metapher. Sie hat zudem einen bildungstheoretischen Sinn, der spontan plausibel ist: neben dem Sprechen-Lernen ist das Stehen- und Gehen-Können des Kleinkindes Stolz der Eltern. Dieser Stolz hat ein anthropologisches Motiv: sofern das Kind sich aufrichtet, seinen Blick in die Horizontale bringt, ist es ein anderes als vordem, ist es im Prinzip und sinnlich-anschaulich unseresgleichen; nun beginnt es auch zu re|a 80|den. Die große Faszination, die Kinder, die gerade eben erst laufen können, für Erwachsene haben, beruht auf dem Eindruck dieses Gerade-schon-aber-noch-nicht-ganz-Könnens, den uns ihr Anblick macht – eine Differenz-Erfahrung, die der nur
divinatorisch
verstehbaren Erfahrung des Kindes entspricht: es kann nun fortgehen oder bleiben; es kann jenes von Freud interpretierte Spiel mit der Balance zwischen Nähe und Ferne erweitern, und zwar qualitativ: nun kann es seinen eigenen Standpunkt signifikant ändern (Freud deutete das Spiel des Kleinkindes mit einer Garnrolle, die es fortwarf und am Faden wieder heranholte, als kindliche Symbolisierung des Wechsels von Ferne und Nähe des geliebten Erwachsenen), es kann sich selbst hinzu- oder hinwegbegeben; es kann Horizonte ausmachen, sie durch eigene Fortbewegung verändern; es kann in Verborgenes Vordringen, Dinge von verschiedenen Seiten sehen, sich neues Gelände erschließen.
[081:340] Eine solche Beschreibung ist abstrakt.
Gehen
bedeutet pädagogisch nicht immer dasselbe, wenngleich das historisch Verschiedene seine Möglichkeitsbedingung in jenem allgemeinen anthropologischen Sachverhalt hat: wenn das Kind sich aufrichten kann, sich den aufrechten Gang aneignet, dann gewinnt es damit eine empirische Dimension möglicher Selbsttätigkeit; wie diese sich konkret gestaltet, hängt an den historischen Bedingungen. Schwer zu interpretieren ist beispielsweise dieser Holzschnitt aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts:
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung eines Ausschnittes aus dem Holzschnitt “Der Tod und die Lebensalter” von Hans Schäufelein aus dem Jahr 1517 zu sehen.
Ausschnitt aus: H. Schäufelein, der Tod und die Lebensalter, um 1517. Holzschnitt, Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett
|a 81|Es scheint so, als würde hier dem Vorgang des Sich-Aufrichtens und Gehen-Lernens größte Aufmerksamkeit gewidmet. Die Geste der Mutter könnte gedeutet werden als liebevolle Unterstützung der Selbsttätigkeit des Kindes, als Aufforderung, seine Kräfte zu erproben und ihnen etwas zuzutrauen. Aber das Bild ist ambivalent, es signalisiert auch Mißtrauen, Ungeduld, Kontrolle: das Bild läßt sich als Information über wünschenswerte Apparate zur Dressur des Kindes lesen. Indessen: daß Kinder auch ohne derartiges Gestell sich aufrichten und das Laufen lernen, war den Zeitgenossen gewiß nicht verborgen geblieben. Worüber also informiert das Bild? Offenbar über die effektivste, die rascheste Methode. Ein gleichsam mechanisches Verständnis des Bildungsprozesses bahnt sich da an. Laufen-Können kündigt Selbsttätigkeit an, die eine wesentliche Voraussetzung für die gesellschaftliche Brauchbarkeit des Kindes ist; die pädagogische Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Prozeduren ihrer Herstellung, die Aufforderung zur Selbsttätigkeit wird auf ein technisches Machen reduziert (auf die an dieser Stelle sicher nötigen erziehungs- und sozialgeschichtlichen Hintergründe kann ich hier nicht eingehen). Der Gestus des Bildes müßte anders sein, wenn er jene Haltung des Aufmerksam-Machens auf ein zu lösendes Problem ausdrücken wollte, die sich im Rechenunterricht in Bonneuil zeigte. Der Lehrer Didiers zeigte gleichsam nach vorn; die Mutter hier hält zurück, ermuntert und bremst, unterstützt und kontrolliert zugleich.
[081:341] Aber vielleicht ist
Gehen
ein ungeeignetes Beispiel, Selbsttätigkeit zu erläutern – es sei denn, man könnte plausibel machen, daß das Kind dabei ein geistiges Problem zu bewältigen hat, dessen Lösungswege es sich als Vernunftwesen aneignen kann. Ich denke, das läßt sich zeigen oder doch wenigstens andeuten. Dazu muß man sich vorstellen, welche kognitiven Probleme, welche Koordinierungsleistungen fällig sind, wenn das Kind sich (!) aufrichtet und zu gehen beginnt: das gesehene Bild kippt nun in die Senkrechte als Normalform; Distanzen und Perspektiven müssen dauerhaft in ein Verhältnis gesetzt werden; der nun leichter mögliche Wechsel des Standortes verlangt eine Koordinierung der Perspektiven; der subjektive Raum kann im Hinblick auf den physikalischen, der physikalische im Hinblick auf den subjektiven relativiert werden; oben und unten, vorn und hinten, links und rechts verlangen jetzt, wo die adverbialen Bestimmun|a 82|gen variabel und teils (rechts/links) austauschbar werden, eine Orientierung am handelnden (gehenden) Ich und zugleich am (stehenbleibenden) Raum; Hinweg- und Hinzubewegungen sind nun derart leicht auszuführen, daß das Kind nicht mehr auf nur symbolische Handlungen angewiesen ist, sondern an der Herstellung der Balance zwischen Nähe und Ferne aktiv sich beteiligen kann – eine neue Quelle elterlicher Ängstlichkeit.
[081:342] Kein Zweifel: auch ohne hier eine entwicklungstheoretische Phänomenologie des Gehens zu referieren, ist einleuchtend, daß die die Selbsttätigkeit des Kindes herausfordernden Aufgaben hier strukturgleich denen sind, die sich beim Reden und Rechnen zeigten. Aber ist das auch noch der Fall dort, wo, im jugendlichen Alter, ein Mensch große Teile seiner psychischen Energie auf das Fortgehen, auf die Entfernung von seiner primären Lebenswelt und Tradition richtet? Thomas Bernhard schreibt, in Erinnerung an sein Jugendalter:
[081:343]
“ ”
(Thomas Bernhard: Der Keller, Salzburg 1976)
[081:344] Dies ist ein für Pädagogen außerordentlich interessanter Text. Was wir sonst, im Kontakt mit Jugendlichen, als Andeutung und Wiederholung in vielerlei Kontexten, über oft Jahre sich hinziehend, erfahren, was in Interviews und anderen Selbstzeugnissen Jugendlicher in einem breiten Spektrum von Metaphern, in konventionalisiertem Vokabular und durch die syntaktischen Fügungen und Brechungen alltäglicher Rede oft nur sich andeutend zum Ausdruck kommt, was Jugendliche oft eher nur in Haltungen und Gesten, gelegentlich auch in den Slogans der Graffiti an unseren Mauern zu erkennen geben – das ist hier in die knappe, eindeutige und immer wiederholte Wendung
in die entgegengesetzte Richtung
verdichtet. Was sonst zumeist über Jahre sich hinzieht, ist hier auf einen Punkt, in eine Entscheidungssituation zusammengezogen: der (vermeintlich)
richtige Weg
steht gegen den falschen, der
lebensrettende Augenblick
gegen das
Lernmaschinenopfer
, die
Kraftlosigkeit
gegen
ich wollte leben
, die
Adresse in der entgegengesetzten Richtung
gegen die
beste Adresse
usw.
Gehen
ist hier nur
fortgehen
, nahezu eine pure Negation; was im Rücken liegt, schrumpft zum Nichts, vorn liegt Alles:
Wir haben in einem solchen lebensrettenden Augenblick einfach gegen alles zu sein oder nicht mehr zu sein, und ich habe die Kraft gehabt, gegen alles zu sein.
[081:345] Diese Attitüde eines Jugendlichen, auch wenn heute wohl der Gang zum Arbeitsamt weniger erfolgversprechend ist, tönt
emanzipatorisch
– aber ist sie es? Auf den ersten Blick scheint sich dieser Text in die Reihe larmoyant-wütender Abrechnungen mit Kindheit und Erziehung einzuordnen, die wir in vielen zeitgenössischen Autobiographien und deren romanhaften Verkleidungen finden. Da heißt es beispielsweise – und das
Lernmaschinenopfer
Thomas Bernhard scheint dazu zu passen:
[081:346]
“ ”
(E.A. Rauter 1979, S. 29)
.
[081:347]
“ ”
(ebd., S. 27
[081:348]
“ ”
(K. Struck, Kindheits-Ende, 1982, S. 299)
[081:349]
“ ”
(J. Winkler, 1981, S. 148 f.)
[081:350]
“ ”
(ebd., S. 182)
[081:351]
[081:352]
“ ”
(Th. Bernhard, 1981, S. 70 f.)
[081:355] In solchen Texten wird Selbsttätigkeit bereits als Idee liquidiert. Die Selbstdeutung nach deterministischem Muster, das kausalistische Schema, nach dem die Autoren sich als Opfer von Erziehung interpretieren, hat eine Entsprechung (im letzten Zitat) in der Attitüde des Machens; das Verhältnis zwischen Edukator und Edukandum wird, wie in jenem Holzschnitt von 1520, nach Art technischer und effektiver Eingriffe gedacht; nicht einmal die Haltung mütterlicher Fürsorge bremst diesen Zugriff; daß er sich psychologisch oder psychoanalytisch gibt (
Arne braucht eigentlich eine Therapie
, heißt es in dem letzten der zitierten Texte), macht ihn nicht weniger manipulativ. Derartige Urteile mögen unangemessen scheinen, sind doch die zitierten Äußerun|a 85|gen vermutlich durchaus
echte
, d. h. wahrhaftige Versuche, eigene Erfahrung zur Sprache zu bringen. Im Hinblick auf Selbsttätigkeit ist aber weniger die Intention, die gute Absicht entscheidend, als vielmehr der im Produkt dargestellte Produktionsprozeß. Gewiß wollen alle jene Autoren
fortgehen
im Sinne dieser Metapher, fort von ihren konventionellen, als bedrückend und einschränkend, meinethalben
repressiv
, erlebten Herkünften; ob ihnen das in ihrem eigenen Leben geglückt ist, läßt sich nicht beurteilen. In ihren Texten jedenfalls geriet es ihnen zur Sentimentalität, ästhetisch gesprochen zum Kitsch, pädagogisch gesprochen zur naiven Spontaneität. Aber Spontaneität ist nicht schon Selbsttätigkeit, sondern allenfalls eine ihrer Bedingungen. Einerseits lernt das Kind – wie der Holzschnitt erläutert – das Laufen nicht allein, nur von sich aus; andererseits ist das physische Laufen-Können erst die Exposition von Koordinierungs- und Mobilitätsproblemen und nicht schon deren Lösung.
[081:356] Mit eben dieser Differenz setzt sich der Text Thomas Bernhards auseinander. Die ästhetische Qualität jedes dieser Sätze liegt – im Unterschied zu den anderen Zitaten – darin, daß die Mühe der selbstreflexiven Bewegung in ihnen unmittelbar zum Ausdruck kommt. Zwar wird auch hier Klage erhoben gegen ein Erziehungsmilieu, das nur Leiden ohne produktive Tätigkeit hervorbringt, das, in der Sprache Piagets, Akkomodation verlangt, ohne Assimilation zu unterstützen, das Kind zum
Lernmaschinenopfer
macht; zwar gerinnt auch hier der Ausweg zur negativen Formel
in die entgegengesetzte Richtung
. Derartige Stereotype oder Klischees aber werden, gerade durch die hartnäckige Wiederholung in nuancenreichen syntaktischen Variationen, in ihrem Bildungssinn gleichsam ausgelotet; und dabei findet sich in der Tiefe nicht etwa irgendein Schuldiger, finden sich nicht irgendwelche Umstände als die umgreifenden Determinanten oder Ursachen, keimt deshalb auch nicht die Attitüde des Machens, sondern die des Wollens:
Eine solche Kehrtwendung ist nur auf dem absoluten Höhepunkt der Gefühls- und Geistesanstrengung möglich
. Das
Lernmaschinenopfer
macht sich selbständig, vollzieht die Kehrtwendung weg vom Elternhaus und bürgerlichen Milieu, zugleich aber hin zu Arbeitsamt und der Adresse in der Scherzhauserfeldsiedlung (dem Wohnquartier der Ärmsten in Salzburg). Das ist ein Akt der Selbstbildung. In der Terminologie der Fichteaner gesprochen: Die Vernunftkräfte des Jugendli|a 86|chen sind bereits so weit gebildet worden, daß er nun in der Lage ist, sich selbst jene Probleme zu stellen, die seine Selbsttätigkeit herausfordern. Der Weg in den Keller, als Lehrling eines im Souterrain gelegenen Lebensmittelladens, ist für den jungen Bernhard freilich riskant – wie die Rede für Mirabeau, die Rechenaufgabe für Didier. Es ist zunächst nur die Exposition einer Möglichkeit.
[081:357a]
[081:357b]
[081:358] Eine Verwandte Gustaves erinnert sich später:
[081:359-361]
“ ”
“ ”
[081:362] Diesen und anderen Quellen über Flauberts Kindheit läßt sich folgendes Bild entnehmen, das die Erwachsenen von ihm haben: Gustave war offenbar ein ängstliches Kind, in sich zurückgezogen, etwas dümmlich scheinend, wenn nicht gar zum Schwachsinn neigend, lernunwillig; die Mutter, so scheint es, ging auf dieses Kind mit großer Fürsorglichkeit ein. Der Vater war ein erfolgreicher Arzt, ganz Naturwissenschaftler, und Gustave sah ihm in seiner Kindheit häufig durch ein Fenster zu, wenn er Leichen sezierte. Gustaves Geschwister waren für die Eltern durchaus erfreuliche Gestalten, klug, strebsam, manierlich, gesellig. Gustave selbst dagegen:
der Idiot der Familie
.
[081:363] Im selben Jahr noch, für das jene Verwandte Gustaves ihm seine intellektuelle Mangelhaftigkeit bescheinigt, schreibt Gustave an seinen Freund Ernest Chevalier diesen Brief:
[081:364] ".
[081:365] Und einen Monat später:
[081:366]
“ ”
(ebd.)
[081:367] Was liegt zwischen den Beobachtungen der Familienangehörigen und diesen Briefen? Zwischen ihnen liegt, so Sartre, ein
Entwurf
, eine
Überschreitung
:
Sicher wird ein Existierender durch keine Bestimmung geprägt, die er nicht durch seine Art, sie zu leben, über|a 88|schreitet
. Wer also über jene Fichteschen Bestimmungen hinauskommen will, wer beschreiben will, was denn nun jener Begriff der Erziehung, über seine die Erziehungstheorie begründende Funktion hinaus, für den Vorgang der Bildung konkret bedeutet, dem steht bevor, diese Überschreitung darzustellen. Sartre nennt die den Menschen zunächst prägende Bestimmung
Konstitution
und den Vorgang des Überschreitens zu einer neuen Bestimmung hin
Personalisation
. Wer also über Selbsttätigkeit reden will, muß den Vorgang der Personalisation in Auseinandersetzung mit der Konstitution zur Darstellung bringen.
[081:368] Das ist auch wieder nur eine Formel. Was es heißt, diese Formel zu erläutern, hat Sartre demonstriert: um nur in einem einzigen Fall klarzumachen, was Selbsttätigkeit ist, brauchte er dreieinhalbtausend Seiten – und kam mit seinem Vorhaben nicht einmal zu Ende. Das liegt am Gegenstand, der, wie Kafka sagte,
über Gedächtnis und Verstand weit hinausgeht
, jedenfalls im Sinne (beispielsweise) eines akademischen Vortrags. Man kann sich diesem Gegenstand offenbar nur essayistisch nähern. Zum Beispiel so – wie Sartre im Fall Flaubert–, daß man fragt, wie denn dieses Kind Gustave
sich zum Schriftsteller gemacht hat
(Bd. 2, S. 16)
. Aber zur Beantwortung dieser Frage gehört vieles. Z. B.: Warum stand Gustave so oft vor dem Spiegel? Wie hat er sich die anatomische Tätigkeit seines Vaters
angeeignet
(um in der Terminologie der Fichteaner zu sprechen)? Wie kam er, der angeblich nicht lesen und schreiben lernen mochte, als 10jähriger dazu, Theaterstücke zu schreiben? Was bedeutete es für ihn, Schauspieler werden zu wollen? Was bedeutet es, wenn er sich selbst als
Irren
(fou) erläutert? Wie kommt es dazu, daß er schließlich eine Sprache sucht, die von kalter Genauigkeit ist, in der Kunst und Wissenschaft, wie er später sagt, zusammenfallen?
[081:369] Jede dieser Fragen zieht viele andere nach sich. Und keine abstrakt-allgemeine Antwort könnte befriedigend sein. Will man zur Selbsttätigkeit mehr sagen als Fichte und seine Schüler, dann hat Kleist die richtige Spur aufgenommen und Sartre uns den Sisyphus-Charakter der Aufgabe vor Augen gestellt.Da das nicht geht, breche ich besser an dieser Stelle ab.
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Literatur

    [A08:3] D. Benner: Grundströmungen der Erziehungswissenschaft, München 1978
    [A08:4] Th. Bernhard: Der Keller, Salzburg 1976
    [A08:5] Th. Bernhard: Die Kälte, Salzburg 1981
    [A08:6] H. Boesch: Kinderleben in der deutschen Vergangenheit, Leipzig 1900
    [A08:7] G. Flaubert: Briefe, hrsg. von H. Scheffel, Zürich 1977
    [A08:8] F. Kafka: Brief an den Vater, in: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Gesammelte Werke, hrsg. von Max Brod, Frankfurt 1953
    [A08:9] H. v. Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von H. Sembdner, 2. Band, München 1952
    [A08:10] M. Mannoni: Ein Ort zum Leben, Frankfurt 1978
    [A08:11] S. Merian: Der Tod des Märchenprinzen, 4. Aufl., Hamburg 1980
    [A08:12] L. Montada: Die Lernpsychologie Jean Piagets, Stuttgart 1970
    [A08:13] J. Oelkers / Th. Lehmann: Antipädagogik. Herausforderung und Kritik, Braunschweig 1983
    [A08:14] H. Pleßner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1965
    [A08:15] E.A. Rauter: Brief an meine Erzieher, München 1979
    [A08:16] J.P. Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 - 1857. I . Die Konstitution, Reinbek 1977
    [A08:17] K. Struck: Kindheits-Ende, Frankfurt 1982
    [A08:18] J. Winkler: Menschenkind, Frankfurt 1981