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Anfänger-Probleme
Ein ganz unwissenschaftliches Werkstattprotokoll
I
[085:1] Von einer ausländischen Universität erhalte ich einen Brief. Ein
mir unbekannter Kollege bittet mich, an einem Symposium über
«Hermeneutische Psychodiagnostik»
teilzunehmen und dort
einen Vortrag zu halten. Ich weiß zwar nicht, was das ist: hermeneutische
Psychodiagnostik. Aber ich sage dennoch erst einmal vorsichtig zu, weil mich
das Thema, auf zunächst noch unbestimmte Weise, reizt. Es aktiviert, so
scheint mir beim Nachsinnen, meinen antipsychologischen Affekt.
[085:2] Ich bekomme einen zweiten Brief jener Universität, und nun sehe ich
mich plötzlich inmitten bekannter Namen. Ich reagiere schreckhaft, will
schon absagen, da siegt die Eitelkeit – denke ich. Ich versuche, das Thema
meines Beitrages zu präzisieren, denn die erste
«Reiz-Reaktion»
wird ja nicht falsch, nur weil ich auch eitel bin.
Ich formuliere nun als Arbeitstitel:
«Ist ein
nicht-psychologisches Verstehen von Kindern möglich? – Marginalien zur
pädagogischen Hermeneutik»
, sage endgültig und verbindlich zu – und
finde mich in einer peinlichen Lage. Aus Affekt, Eitelkeit und Interesse
habe ich mir selbst den Knoten gebunden (den Strick haben freilich andere
mir gereicht), von dem ich nicht weiß, wie und ob überhaupt ich ihn werde
lösen können. Nun muß ich. Ein Versprechen ist ein Versprechen.
Aber der Gegenstand ist noch im Nebel; ich bin nicht einmal sicher, ob da
überhaupt einer ist; ich habe indessen einige Ahnung, kenne ein wenig die
hermeneutische Literatur: Schleiermacher, etwas Dilthey, ein wenig Gadamer, einiges von Ricoeur, bin wohl gelegentlich etwas kühn, wenn ich
«Lacan»
sage (ich verstehe ihn nur in der Form, in der ich
verstehe, wie seine Interpreten glauben ihn verstanden zu haben - aber was
verstehe ich da schon?), |a 140|und Frank ist mir eine große Hilfe.
Aber wäre Panofsky nicht
vielleicht die bessere? Oder Herman
Meyer? Gleichviel: es kommt, schon eine Pointe, eine
selbstironische, dabei heraus: offensichtlich möchte ich meine Hörer
überraschen.
[085:3] Hörer? Sartres zwei
Fragen kommen mir in den Sinn: Warum schreibt man? Für wen schreibt man? Ich
merke: schon denke ich, daß mein Text gedruckt wird (irgendwie muß ich mit
der Schwierigkeit fertig werden, die die Eitelkeit mir bereitet; aber warum
eigentlich? Ist sie eine Barriere oder eine Droge?) Also: offensichtlich
schreibe (oder rede) ich, wenn ich mit der Niederschrift des Textes (oder
dem ersten gesprochenen Satz) beginne, zu Kollegen und Studenten dort und zu
einer schwer zu kalkulierenden späteren Leserschaft (vielleicht gebe ich ja
einen Sammelband mit kleineren Arbeiten der letzten fünf Jahre heraus, da
würde sich dieses Stückchen gut ausmachen; oder gar ein Büchlein über das
Symposium in fremder Sprache; oder auch nur (letzte Wahl) ZfPäd oder Neue Sammlung.)
[085:4] Ich entrinne der Eitelkeit nicht. Aber vielleicht ist sie ein
Motor?
II
[085:5] Es wird Zeit, mit dem Manuskript einen Anfang zu machen. Die Folgen
stellen sich dann wie von selbst ein. Zu jedem Gedanken gibt es nicht nur
einen
«Gegengedanken»
, sondern auch einen Folgegedanken.
Also:
[085:6]
«Hermeneutische Problemstellungen in der Pädagogik
sind ...»
– um Gottes willen, hier stock’ ich schon. Unmöglich! Ich
verschenke mindestens eine, wahrscheinlich sogar mehrere Pointen, wenn ich
derart beginne. Das wäre Wissenschaft in ihrer langweiligsten Form, das
kennt jeder!
[085:7] Mal sehen, wie andere das machen:
[085:8]
«Unser Ausgangspunkt ist die Frage nach einer
integralen Methodologie ...»
. Geht nicht. Karl-Heinz Bohrer lief vor 25 Jahren tagelang in
Göttingen herum mit einem Satz Adornos im |a 141|Kopf (
«Die
Gesellschaft ist integral»
)und fiel mir mit der Frage auf die
Nerven, was das bedeuten könnte. Seitdem kann ich das Wort nur ironisch
hören. Neuer Anlauf:
[085:9]
«
‹Wer vor etwa fünfzehn Jahren mit
besorgter Miene festgestellt hätte›
, die hermeneutischen
Bemühungen der Pädagogik seien
‹wenig mehr als die
sentimentale Verklärung›
dessen, was ohnehin der Fall ist, dem
wäre wohl dies oder das widerfahren, heute indessen zeigt sich, daß
...»
– das kommt mir vor wie eine abgetakelte Rhetorik, toter Stil;
gut gemeint, aber, wie mein ostpreußischer Deutschlehrer sagte,
«sonst nischt dran!»
Also: geht nicht! Außerdem: Im
ersten Satz schon sich als Weltenrichter in Szene setzen, und sei es nur
über zwei Jahrzehnte, das ist einfach geschmacklos. Hybrid ist es sicher
nicht, denn diese Art zu reden ist ein Stereotyp geworden für unsereinen,
member of the community of scientists,
Leute, die den Überblick haben, die wissen, wie die Welt sich verhält, was
los ist, was Sache ist, wo’s langgeht. Natürlich wissen wir das nicht
wirklich; aber wir werden dafür bezahlt, die Fassade instand zu
halten und beständig zu renovieren. Ich meine das gar nicht abschätzig: ich
liebe Fassaden, die Zeichen, die sie setzen, die ornamentale Rhetorik. Aber
die Rhetorik müßte durchlässig sein. Wofür?
III
[085:10] Ich denke mir, daß ich ganz anders anfangen sollte. Ich weiß nur
dies: ganz anders.
[085:11] Ich will über Hermeneutik reden/schreiben, über Botschaften also;
darüber ob ich recht verstehe, was der Botschafter mir mitteilt und ob die
Botschaft, die er mir mitteilt, eine wahrhaftige Botschaft ist.
Verständlichkeit und Wahrhaftigkeit also; man kennt das.
[085:12] Kinder sind solche Botschafter. Und also – denke ich – könnte es
ein guter Anfang sein, ohne rhetorische Einleitung und Umschweife, ein Kind
oder einen Jugendlichen
«reden zu lassen»
. Zum Beispiel
so:
[085:13]
«
‹Mann, du kannst ja wat
Richtiges; warum willst’n dann Er|a 142|zieher
wern?›
– sagt ein Jugendlicher zu einem Heimpraktikanten, der was
von Tischlerei versteht.»
– Ja; gut. Dieser Anfang wäre nicht
schlecht. Aber der nächste Satz!? Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken:
ob ich will oder nicht – mir schießen, tatsächlich sie schießen mir
gewaltsam hinein in den Kopf, die geläufigen Klassifikationen: Erwartungen
und Erwartungserwartungen; die professionalisierte Rolle und ihre
Abstraktionen; die Überraschung des Mädchens oder Jungen (in diesem Fall ein
Mädchen) über die Differenz zwischen Lebenskompetenz und Rollenkompetenz;
tiefe Hoffnungen kommen da zur Sprache, und modernistisches Ungenügen; die
Jugendliche zeigt auf sich und mich. Ein guter Botschafter ist das:
Bedeutung teilt er beiden Seiten zu, Ego und Alter. Und das alles – und noch
vieles mehr – in einem Satz, Ha! – wir wissen es, wir
können das entschlüsseln.
[085:14] Die Peinlichkeit läßt sich nicht mehr verbergen. Vielleicht gerade
noch vor den Zuhörern; denn es ist ja eine Szene, in der
das vorgetragen würde, und die Rollen sind festgelegt, und die Erwartungen
an die Rhetorik begnügen sich mit überraschenden Auftritten und der Idee
einer konventionellen Überführung der Eröffnung in das akademisch Gewohnte.
– Aber die Leser? Und: wäre es mir wirklich recht, wenn ich meine
Hörer/Leser nur in vertrautes Gelände führte, freilich hier und da ein
Spotlight? Nein, ganz klar, ohne Umschweife: Das
«Vertraute»
ist mir peinlich. Im Vertrauten lebe ich; aber soll ich
das auch noch, als Duplikat, anderen mitteilen? In der Ausbildung: gut. Aber
gedruckt? Wieviele Kollegen gibt es, die dasselbe sich mühelos denken? Gibt
es einen Grund dafür, anderen mitzuteilen, was sie sich mühelos selber
denken können?
[085:15] Oh – ich glaube, jetzt hab’ ich etwas; nicht mühelos, aber
zwanglos. Gibt es also einen Anfang, der zwanglos ist, wenigstens
so scheint, nein, es wirklich ist, von außen und innen, aber dennoch
«Mühe»
signalisiert. Zwanglose Mühe. Das ist gut, denke
ich. Was ist das?
[085:16] Zum Beispiel Übergänge. Man muß ja nicht über den Paß;
aber es könnte, trotz der Mühe oder auch ein bißchen wegen ihr, interessant
sein; interessanter jedenfalls, als nur im Tal hinabzuwandern, |a 143|zu den größeren Flüssen (eine peinlich platte
Metapher; ich gestatte sie mir nur als Eselsbrücke, nicht für Publikum
gedacht).
[085:17] Also Übergänge (nicht vergessen: ich muß über Hermeneutik reden!).
Welche kommen in Frage? Ich blättere hier und da, ich krame in meiner
Erinnerung herum, ich finde das Protokoll einer Vorschulsituation:
[085:18]
Leo (zum Erzieher):
«
Spielst du mit
‹Cowboy und Indianer›
?»
Alfred (zum Erzieher):
(Alfred schubst Leo ins
‹Zelt›
.)
Alfred:
«Warte, ich hol dir ein Gewehr!»
(Alfred geht und
holt eine Holzlatte.)
Erzieher:
«Ein Gewehr will ich keins.»
Erzieher:
«Gewehr brauch ich nicht.»
Leo:
«Du
bist auch en Cowboy.»
Erzieher:
«Ich will aber kein Gewehr.»
Alfred:
«Du machst dann halt so mit der Hand, peng, peng,
peng, ne?»
Erzieher:
«Nee, das tu ich auch nicht.»
Erzieher:
«Ich arbeite, ich esse, ich schlafe.»
Alfred:
«Arbeiten, äh, äh, das, äh, machen se nich bei
Winnetou.»
[085:19] Dieses kleine Gespräch hat den Vorteil, eine triviale
Kurzgeschichte mit einer feinen Pointe zu sein. Auf Anhieb wohl werden die
Leser/Hörer keinen Zusammenhang zum Thema finden. Aber wenigstens werden
sie, beim letzten Satz, Vergnügen empfinden. Vielleicht gelingt mir eine
Überraschung, nicht durch umständliche Deutung |a 144|des
Textes, sondern dadurch, daß ich nur ganz knapp auf Verstehen und
Nicht-Verstehen von Symbolen hinweise. Ich muß also nur darauf achten, daß
Alfreds
lakonische Pointe und mein theoretisches Interesse im Gleichgewicht bleiben,
daß Alfreds Pointe
nicht überwuchert wird von meinen Kommentaren. Die Geschichte hat den
Vorteil, daß man sie fast komplett im Gedächtnis behalten kann; ich kann
deshalb später immer wieder darauf zurückkommen.
[085:20] Aber irgendwie bin ich unzufrieden. Ich habe mich schließlich
gerade aus den Reihen der minutiösen Interaktionsanalytiker herausgefädelt.
Ich möchte nicht in dieses Webmuster zurück. Wenn schon, dann möchte ich
wenigstens etwas zur Erbauung der Erwachsenen beitragen – sie mögen
dann damit machen, was sie wollen.
[085:21] Also sollte ich doch vielleicht ganz praxis-fern anfangen, damit
gar nicht erst eine falsche Erwartung aufkommt – und dann der
«Übergang»
um so überraschender ist. Also: am Anfang
kein Wort von Pädagogik. Ich schaue mich in Texten von Kollegen anderer
Fachbereiche um und finde beispielsweise diesen Anfang:
[085:22]
«Auf dem Weg zum Konfirmandenunterricht und zur
Kirche hatte ich als Kind zweimal in der Woche über einen ziemlich
steilen Hügel zu gehen, auf dessen Scheitel ich meist außer Atem
angelangte; bis ich lernte, die Wirklichkeit mit den Bildern meiner
Einbildungskraft zu überlisten.»
[085:23] Dieser Mensch hat Mut. Er beginnt einen Text, in dem es auch um
hermeneutische Anstrengung geht, mit sich selbst. Ein bißchen ist das heute
freilich auch Mode. Ich habe nichts gegen diese Mode, ich finde sie gut.
Aber ich kann es nicht. Ich bin mir selbst peinlich. Ich mag mich selbst
nicht generalisieren. Ich zeige lieber nur auf das Allgemeine in den
Erfahrungen anderer. – Ich blättere weiter und finde, als Anfang eines
interpretierenden Textes dies (es ist ein
Buch über Lichtenberg mit dem Untertitel
«Lichtenbergsche Konjunktive»
)
:
[085:24]
«
Der
‹gesunde Menschenverstand›
empöre sich über die Behauptung, daß der große Newton auch
‹im Kopfe eines Labradoriers, der |a 145|weiter nicht, als auf sechse zählen kann, und was
darüber geht, unzählbar nennt, die Planeten gewogen und den
Lichtstrahl gespaltet hätte›
. In den
‹Physiognomischen Fragmenten›
des Zürcher Theologen Johann Caspar Lavater
hat der Göttinger Professor Georg Christoph Lichtenberg diesen Satz gelesen (im
Oktober 1775 in London, wo die englische Königin ihm ihr Exemplar
der weithin Aufsehen erregenden Neuerscheinung auslieh). Das hat ihm
keine Ruhe mehr gelassen.»
[085:25] Was mir daran gefällt, ist, daß im ersten Satz schon das Thema des
ganzen Buches enthalten ist, und zwar völlig
«zwanglos»
,
einfach nur dadurch, daß der Autor diesen Satz in den Konjunktiv gesetzt
hat. Und dieser Satz läßt die Überraschung eines vergnüglichen Übergangs
vermuten. Denn was haben Newton, Lavater
und die Physiognomik mit den Konjunktiven Lichtenbergs zu tun? Das ist für mich eine Nummer
zu groß. Das schaffe ich nicht, mit Bezug auf mein Thema. Denn wie könnte
ich das Problem des Verstehens von Kindern auf derart zwanglose Weise,
gleichsam unter der Hand, in einem Eingangssatz repräsentieren? Mir
fällt da absolut kein Satz ein, der das leisten könnte. (Ich bin
eben kein guter Schriftsteller.)
[085:26] Also weitersuchen!
[085:27] Ein anderes Beispiel gerät mir unter die Brille. Ein Aufsatz über
«diskursanalytische»
Hermeneutik fängt so an:
[085:28]
«
1781 erschienen – posthum – die
‹Bekenntnisse›
Jean-Jacques Rousseaus. Der Verfasser charakterisiert sein
Vorhaben am Beginn des ersten Buches mit den Worten:
‹Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen
Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird.›
Der Text
präsentiert sich als Einsetzungsakt der modernen Subjektivität.»
[085:29] Das ist kein schlechter
«Übergang»
, denn
Professoren der Germanistik interessieren sich für Rousseaus
«Bekenntnisse»
eher nur am Rande. Mit einer Jahreszahl
beginnen, dann Titel und Autor,
«posthum»
, und dann
(Übergang) eine theoretische Fanfare:
«Einsetzungsakt der
modernen Subjektivität»
. So etwas liegt mir. Ich denke auch, daß mir
etwas Analoges für meinen Aufsatz einfallen würde. Diese Rhetorik hat sich
bewährt; freilich ist sie nicht so |a 146|subtil wie die
des Buches über Lichtenberg. Es fehlt
ihr die Leichtigkeit, das Schwebende. Sie kommt ein wenig
«mit dickem Hintern»
, um mit Benn zu sprechen. Das kommt, wenn man, wie unsereins, den ganzen
Tag am Schreibtisch sitzt. Vieleicht kein Grund, sich zu schämen. Ein derartiger Anfang ist gewiß nicht
schlecht. Beispielsweise:
[085:30]
«Achtzehnhundertsoundsoviel schrieb Bettina von Arnim in einem
Brief an den Fürsten
Pückler, was ihr an Schleiermacher das Faszinierendste schien; ohne seine
Vorlesungen zur Hermeneutik gehört oder gelesen zu haben – sie
erschienen erst posthum, und zwar ... – trifft sie in diesem Brief
genau, worauf es ihm, Schleiermacher, ankam: die Kontinuität zwischen
theoretischer Arbeit und ihrem Fundament in den Verständigungen über ein
rechtes Leben.»
[085:31] Warum bin ich unzufrieden? Das ginge doch so! Vor allem stünde ich
gut da: als jemand, der Überblick hat, der zu recherchieren versteht, der
nicht den bornierten Blick auf nur Pädagogisches hat; Günderode und Kleist könnte ich mühelos
einfädeln, und mit Schleiermacher im Bunde ist die Schlacht ohnehin schon halb
gewonnen. Was stört mich daran? Schwer zu sagen. Vielleicht dies: Es ist die
Rhetorik von Antrittsvorlesungen. Die soziale Geste, die hier überwiegt, ist
diese: schaut her, ich bin ein kompetenter Kollege. Es hat etwas von
akademisch ritualisierter Geistreichelei, auch wenn alles stimmt, was gesagt
wird.
[085:32] Aber vielleicht sollte man das nicht beklagen. Eigentlich ist so
etwas ja nichts als Didaktik: zeigen, was man gearbeitet hat; zeigen, was
für andere daran wichtig sein könnte; es auf eine Art zeigen, die
Aufmerksamkeit und Neugier erheischt. Warum also nicht sich der bewährten
rhetorischen Figuren bedienen? Wir sind ja keine Genies, sondern eine
soziale Institution.
IV
[085:33] Ich lese einfach mal ganz woanders. Zum Beispiel:
[085:34]
«Von der Alleenstraße, wo er in
einem Hinterhaus logierte, fuhr der Kutscher August Kandel am
siebzehnten Juni, abends gegen |a 147|halb acht,
zum Neuen Schloß»
– so beginnt ein Roman, oder eine Erzählung (ich will mich hier in
die Diskussion über literarische Gattungen nicht einmischen).
[085:35] Dieser Satz reißt mich aus dem Routine-Schlummer des Denkens
heraus. Warum? Es geschieht doch noch gar nichts! Triviale Zeit- und
Ortsangaben! Ein Name! Der Kutscher
«logierte»
irgendwo! Aha – er
«logierte»
; aha – das
«Neue
Schloß»
. Noch einmal der Anfang. Der Kutscher Kandel ist die Hauptperson, keine Frage, schon im ersten Satz.
Aber der beginnt nicht mit
«der Kutscher August Kandel fuhr ...»
, sondern:
«Von der Alleenstraße, wo er
...»
. Also ist Kandel doch nicht die
Hauptperson? Ist es eine Ortsangabe? Übergänge. Wird das nun ein Roman über
Personen oder über Orte? Wer weiterliest, erfährt die Antwort. Warum bin ich
erregt schon bei diesem ersten Satz? Allmählich dämmert es mir:
«Von der Alleenstraße ... wo er ...
logierte, fuhr ... August Kandel ...
zum Neuen Schloß»
. Da ist eine Opposition und ein Sog in diesem
Satz, ich werde – ich muß diesen Ausdruck wiederholen – auf zwanglose Weise,
Thomas Bernhard würde
sagen
«naturgemäß»
, mit einem Problem konfrontiert,
einfach dadurch, daß der Satz diese Struktur hat. Das können nicht nur
Schriftsteller, sondern gelegentlich auch Wissenschaftler, wie der
Eingangssatz zu dem Lichtenberg-Buch
zeigt.
[085:36] Ich kann es nicht! Ich kann es nicht!
[085:37] Also muß mich wohl doch zu einem Imitat entschließen. (Dies alles
geschieht naturgemäß nicht an einem Tag. Es zieht sich hin über Tage und
Wochen. Immer zwischendurch, neben den Verpflichtungen der Profession, hier
mal eine halbe Stunde, dort mal, wenn’s hochkommt, zwei oder drei.)
[085:38] Da werde ich – nur wenige Tage ist es her – auf eine faszinierende
Beobachtung aufmerksam:
[085:39] Rilke, der Dichter,
schrieb 1924 dieses Gedicht:
[085:40]
Nach so langer Erfahrung sei Haus,
Baum oder Brücke anders gewagt;
Daß wir das tägliche Wesen entwirrn,
|a 148|das jeder anders erfuhr,
machen wir uns ein Nachtgestirn
aus der gewußten Figur.
[085:41] Er schrieb es als Widmung in ein Exemplar seiner
Duineser Elegien
, wo es – darauf machen die Herausgeber der
«Materialien»
aufmerksam – in der neunten Elegie heißt:
[085:42]
«
... Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus
Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, –
höchstens: Säule, Turm ... aber zu sagen, verstehs,
oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals
innig meinten zu sein ...»
[085:43] Das Widmungsgedicht also: einerseits eine Kurzform der Verse aus
der Elegie, andererseits eine
Erweiterung oder Präzisierung auf das hin, was Hermeneutik ist.
«Daß wir das tägliche Wesen entwirrn ...
machen wir uns ein Nachtgestirn»
.
[085:44] Das Exemplar der Elegien,
mit diesem Widmungsgedicht, hatte Rilke Frau Kröller in Den Haag geschickt, der Frau eines Industriellen,
dessen berühmt gewordene van-Gogh-Sammlung im Rijksmuseum Otterlo wir heute besichtigen können. Der Anlaß für
die Zusendung von Buch und Widmungsgedicht war ein Besuch von Clara Rilke in jenem Hause und
ihr Bericht, nicht nur über die genossene Gastfreundschaft, sondern auch
über die dort gesehenen Bilder van
Goghs. Rilke war
schon Jahre zuvor in einer Pariser Galerie von dessen Meisterwerken
fasziniert gewesen.
[085:45] (Bin ich eigentlich noch bei meinem Problem? Ich suche doch einen
Anfang für einen Text über pädagogische Hermeneutik! Und nun diese Details
über Rilke und van Gogh? Ich muß mich
zusammennehmen!)
[085:46] Nun denn: Jeder kennt das
«Nachtcafé»
, wohl auch die zwei oder drei
späteren Bilder van Goghs, in
denen die Sterne in strahlende Bewegung geraten (eine frühere Zeichnung
dieser Bildidee könnte Rilke
gekannt haben), vielleicht den Kommentar, den Artaud dazu |a 149|gab. Und nun Rilke:
«Machen wir uns ein Nachtgestirn / aus der gewußten
Figur»
.
[085:47] Ich lese diese Verse immer wieder und schaue dabei auf van Goghs Bilder. Ich denke:
das ist ziemlich gut. Mehr als das: es trifft einen Punkt (
«Punkt und Linie zu Fläche»
), der mir jetzt wie der Flucht- oder Blickpunkt
(ich kann das in der Eile nicht entscheiden) meines eigenen Interesses
vorkommt: Rilkes Gedicht und
van Goghs Bilder sind
«struktural»
(mir fällt zwar wieder Karl-Heinz Bohrer ein mit
seinem Insistieren auf
«integral»
vor 25 Jahren, aber das
stört mich jetzt nicht). Jetzt komme ich in Fahrt; ich glaube zu wissen, wie
es gehen könnte. Denn es ist ja ganz klar: Rilkes
Widmungsgedicht enthält eine
semiologisch-hermeneutische Theorie, durch Vincent als Mal-Praxis vorgetragen, und für
jedes Kind verständlich!! Noch einmal das Zitat:
«Daß wir das tägliche Wesen entwirrn, /
das jeder anders erfuhr, / machen wir uns ein Nachtgestirn / aus der
gewußten Figur»
.
[085:48] Voilà! Fast dünkt mich, daß jeder kommentierende Zusatz peinlich
wäre; eine Geschwätzigkeit, die kaum mehr sagen könnte, als bereits gesagt
ist – zumal dann, wenn man zugleich auf jene zwei oder drei Bilder van Goghs blickt.
[085:49] Ich sollte hier also verstummen. Aber das wäre auch wieder ganz
falsch, denn ich muß ja jenen Vortrag halten, nehme diesen Umweg ja deshalb,
um etwas zu sagen; ich bin ja kein Rezitator; ich werde bezahlt als
Interpret; allerdings, und das weiß ich jetzt, im zweiten oder dritten
Glied; im ersten stehen andere.
[085:50] Also entschließe ich mich, meine mediokre Tätigkeit fortzusetzen.
Dazu benötige ich nun freilich einen vermittelnden Gedanken; und der stellt
sich auch glücklicher- oder unglücklicherweise rasch ein: Erziehen ist
Dolmetschen; und zwar nach beiden Richtungen hin: Ein Kind könnte wohl
verstehen, wovon bei Rilke
und van Gogh die Rede ist –
wenn ich nur den Weg finde, auf dem es zu diesem Verstehen gelangt; es liegt
nicht an dem Kind; es ist meine Sache, den Weg zu finden und zu zeigen. Und
umgekehrt: Jedes Kind kennt schon
«das Nachtgestirn»
, hat
es sich längst gemacht
«aus der
gewußten Figur»
. Und auch Rilke läßt ja wohl keinen |a 150|Zweifel daran,
daß dieses
«Wissen»
ein anderes ist als jenes, das uns
abgefragt werden könnte.
[085:51] Wie dem auch sei: Die wenigen Zeichen hinter den vielen
sollte man suchen, wenn man es auf eine
«psychodiagnostische
Hermeneutik»
abgesehen hat. (Vielleicht sollte ich doch noch einmal
genauer C.G. Jung studieren,
oder – warum nicht? – Paracelsus).
[085:52] Aber eins weiß ich jetzt genau: diese
«Übergänge»
von Rilke
zu van Gogh, zu mir, zum
Kind, die sind wesentlich – oder besser; sie sind mir wichtig, in der
Mittler-Position, in der ich mich befinde. Aber damit habe ich immer noch
nicht den Anfang für meinen Essay gefunden. (Immerhin: Jetzt kommt mir schon
die Bezeichnung
«Essay»
in den Kopf, irgendwann also;
scheinen meine Assoziationen und Studien schon auf die Form des
Projektes einzuwirken.)
[085:53] Soll ich wirklich mit dem Rilke-Gedicht beginnen, ein van-Gogh-Bild zeigen, in zwei oder drei Sätzen die
Brücke zu einer semiologischen Hermeneutik bauen, dies alles auf das
symbolische Verstehen dessen, was Kinder sind, beziehen – und dann die
akademischen Argumentationen in Länge und Breite folgen lassen? Geht es
nicht vielleicht doch anders? Zum Beispiel so, wie es der Autor des
Kutschers August Kandel macht? Also mit
den Kindern beginnen und bei Rilke und van
Gogh enden – wenn überhaupt bei diesen? Also doch anfangen mit
«arbeiten machen se nich bei Winnetou»
?
V
[085:54] Nein. Dieser Schluß wäre dann doch wohl etwas zu sentimental –
denke ich. Ich sollte besser der Rilke-van-Gogh-Spur energischer folgen.
«Zurück zu den
Kindern»
– das ist Pädagogen-Kitsch. Ich brauche doch, damit mir der
Anfang gelingt, einen exzentrischen Punkt. Und dafür war Rilke nicht schlecht.
[085:55] Aber vielleicht ist Thomas
Mann auch nicht schlecht, womöglich nicht besser, aber in einer
Hinsicht ergiebiger. Am Ende von Doktor
Faustus steht dieser Absatz:
[085:56]
«Deutschland, die Wangen hektisch gerötet, taumelte
dazumal |a 151|auf der Höhe wüster Triumphe, im
Begriffe, die Welt zu gewinnen kraft des einen Vertrages, den es zu
halten gesonnen war, und den es mit seinem Blute gezeichnet hatte.
Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand
und mit dem andern ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu
Verzweiflung. Wann wird es des Schlundes Grund erreichen? Wann wird
aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben
geht, das Licht der Hoffnung tragen?»
[085:57] Das ist eine willkürliche Umdeutung eines Bildes von Michelangelo und eine
sprachliche Paraphrase auf eine wenige Seiten zuvor beschriebene Musik.
[085:58] Man kann dazu Synästhesie sagen, aber auch
«Homologie»
. Die Zeichen von Wort, Bild und Ton laufen auf eine
Totalisierung der hermeneutischen Bewegung hinaus.
«Verstehen»
heißt offenbar, derartige Totalisierungen zu vollziehen.
Und nun ist es schon gar keine Entdeckung mehr, nun ist gar nicht
überraschend, beim Kinde dieses
«Totalisieren»
zu finden.
Natürlich, naturgemäß, wenngleich nicht ohne Mühe, bringt das Kind beständig
derartige Totalisierungen hervor. Um das zu erkennen, braucht man nur Augen
und Ohren und eine halbwegs bewegliche Vernunft, die dabei hilft, aus den
Sinnesdaten die
«Figuren»
herauszulesen. Die Kinder tun
dies ohnehin, wenngleich, leider, nicht unbedingt zwanglos. Pädagogische
Hermeneutik, denke ich, wäre also Lesen von Figuren und Gegenfiguren.
[085:59] Vielleicht gelingt mir jetzt der erste Satz. Ich probiere es
einmal:
[085:60]
«
Kinder verstehen, und die Kunstlehre dieses
Verstehens, die pädagogische Hermeneutik, heißt: Figuren lesen können.
Ich möchte jetzt erläutern, was diese Behauptung bedeutet. Und ich gehe
dabei einige verschlungene Pfade, von der Rede psychotischer Kinder über
die Vorschulerziehung zu einem Gedicht Rilkes, dann zu Bildern van Goghs und weit zurück
zu Giorgione, wieder in
die Nähe der Moderne zu Schleiermachers Psychologie, zum Problem der
‹Archetypen›
und schließlich zu einer Form
semiologischen Verständnisses, das
‹hermeneutische
Psychodiagnostik›
genannt werden könnte.»
|a 152|
[085:61] Bin ich denn von allen guten Geistern verlassen? So geht das
niemals! Das hatte ich doch schon vor Tagen oder Wochen verworfen! Das ist
ja ein Zirkel! Hat denn mein Wissen nur mein Gedächtnis belehrt: Mehr nicht?
Habe ich denn auf meinen Wegen und Umwegen nichts erfahren, das ich in
einem Satz zeigen könnte, so wie der, der über den Kutscher
August Kandel schrieb? Bin ich
zu akademischer Geschwätzigkeit verdammt? (Mein Gott, welch ein Pathos,
unpassend peinlich, akademischer Kitsch!) Ich fürchte, ich pack’ es nicht.
Ich könnte es ja noch mit rhetorischem Wohlklang von Post-Strukturalismus
und Post-Historie versuchen, aber das ist noch schlimmer!
[085:62] Ich denke jetzt, ich bleibe besser bei mir; nicht bei dem, was ich
alles weiß oder zu wissen glaube, sondern bei dem, was ich (vielleicht)
kann. Ich beschreibe einfach ein Kind, das ich kenne (oder zu kennen meine);
und wenn Rilke, van Gogh, Schleiermacher, Lacan, Ricoeur, Michelangelo, Thomas Mann, Gadamer, Piaget usw., so wie sie in
meinem Kopf sind, etwas dazu beigetragen haben, werden sie sich (so, wie sie
in meinem Kopf sind) schon melden. Aber wie fange ich an?