Emanzipation [Textfassung a]
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Emanzipation

1. Die Aktualität des Problems

[087:1]
Emanzipation
ist seit der Mitte der 60er Jahre unseres Jahrhunderts ein Wort, dem, so scheint es, eine Schlüsselrolle bei der Formulierung pädagogischer Aufgabenstellungen zukommt. Seitdem findet es Verwendung in verschiedenen Bereichen pädagogischer oder pädagogisch/bildungstheoretisch relevanter Praxis, in der Schule, der Jugendarbeit, der Vorschulerziehung, der Erwachsenenbildung, der Sozialarbeit – aber auch in der diese Praxis begleitenden und kommentierenden Theorie, gelegentlich gar in einem Typus theoretisch-wissenschaftlicher Literatur, die nicht nur kommentieren will, was praktisch geschieht, sondern diesem Geschehen selbst eine theoretisch begründete Richtung vorgeben möchte. Das Wort
Emanzipation
signalisiert mithin ein Problem, welches das Verhältnis betrifft zwischen dem, was in der
Praxis
geschieht, und dem, was in der
Theorie
als Argumentation entwickelt wird.
[087:2] Für die Phase, in der das Wort
Emanzipation
derart zum Signal werden konnte, war zweierlei charakteristisch: (1) Praktiker hatten, durch die Reformanstrengungen im Bildungs- und Erziehungswesen ermutigt (1966 Beginn der Arbeit des Deutschen Bildungsrates), die Erwartung, daß längst fälliges Umdenken im Hinblick auf die Formen des Umgangs mit der heranwachsenden Generation von seiten der Wissenschaft/Theorie begründet und damit gerechtfertigt werden könnte. (2) Wissenschaftler/Theoretiker hatten die Erwartung, daß der enge Kreis akademischer Argumentationen aufgebrochen werden könnte; ermutigt durch die Gleichzeitigkeit von bildungspolitischer Diskussion, von beginnender praxisrelevanter Bildungsforschung und von Fragen der Praxis an die Theorie, verstanden viele Vertreter der
akademischen
pädagogischen Theorie ihre neue/alte Aufgabe pointiert darin, für den aktuell gewordenen Zusammenhang von Theorie und Praxis Begründungen zu suchen und darin an einer Verbesserung der demokratischen Erziehung/Bildung mitzuwirken.
[087:3] Diese Problemstellung ist, obwohl auch sie konjunkturellen Schwankungen unterliegt, bis heute (1985) nicht verschwunden. Da es sich um eine Problemstellung der europäischen Neuzeit handelt, ist auch nicht recht denkbar, wie sie verschwinden könnte, solange jedenfalls, als wir an unserem |a 38|kulturspezifischen Begriff von Humanität Festhalten, in dem das Selbständigwerden der nachwachsenden Generation ein integrales Konzept darstellt. Das Wort
Emanzipation
ist deshalb ein Zeichen, das zwar immer neu auslegungsbedürftig ist, dessen
significatum
aber in Erinnerung behalten werden muß, solange wir – in gut europäischer Tradition – zu unterstellen bereit sind, daß akademisches Denken und praktisches Handeln miteinander zu tun haben, daß Kritik von Abhängigkeiten legitim, daß die Eröffnung neuer Handlungschancen für einen Fortschritt der Demokratisierungsprozesse nützlich sei, daß unsere Kinder fähig werden sollten, nicht nur uns zu wiederholen, sondern aus unseren Fehlern zum Besseren hin zu lernen. Aber nicht nur das Zeichen, auch das Bezeichnete erleidet geschichtliche Veränderungen.

2. Wortbedeutung und Problemgeschichte

[087:4]
Emancipatio
bedeutet am Ursprung der Wortgeschichte in der römischen Antike einen Rechtstitel: Das Kind wird, über verschiedene Stufen hinweg aus der Vormundschaft, der Gewalt des pater familias entlassen und ein selbständiges Rechtssubjekt. Damit wird der biographische Punkt/Prozeß bezeichnet, in dem zwar nicht die Traditionen verlassen werden, aber die materielle und rechtliche Abhängigkeit von den natürlichen Eltern erlischt oder wenigstens beträchtlich vermindert wird.
[087:5] Von dieser Wortbedeutung ausgehend, die bis heute ihren Sinn behalten hat, hat der Ausdruck
Emanzipation
im Lauf der europäischen Geschichte immer weiter greifende, teils politische, teils pädagogische Inhalte in sich aufgenommen. Vor allem seine politische, sozialtheoretische und kulturell-pädagogische Bedeutung, die er im Rahmen der Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts bekam, markiert den Beginn einer Emanzipations-Diskussion, die auch der gegenwärtigen Auseinandersetzung noch zugrunde liegt. Die Sache, die Problemstellung, um die es dabei ging, soll kurz skizziert werden:
  1. (1)
    [087:6] Es handelte sich um eine politische oder, im weiteren Sinn, um eine gesellschaftsstrukturelle Thematik. Die bürgerliche Gesellschaft, deren Anfänge bis in die italienischen Stadtstaaten des 14. Jahrhunderts zurückreichen, war an einem Punkt angekommen, wo die absolutistischen und klerikalen Traditionen einem weiteren
    Fortschritt
    im Wege zu stehen schienen.
    Emanzipation
    heißt in diesem Zusammenhang deshalb: von nur traditional bestimmter Herrschaft frei werden und die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse nach den bürgerlichen Regeln eines
    vernünftigen
    Gemeinwesens bilden. Das entscheidende Ereignis war die Französische Revolution.
  2. |a 39|
  3. (2)
    [087:7] Parallel zu dieser geschichtlichen Entwicklung verlief eine
    Emanzipation
    des Denkens
    . Man kann darunter eine Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte verstehen, die Schritt für Schritt an die Stelle der Auslegung antiker, kirchengeschichtlicher und mittelalterlich-philosophischer Texte eine Argumentation setzte, die sich an den Möglichkeiten der menschlichen Vernunft und an der kontrollierten Erfahrung orientierte. Zwei hervorstechende Ereignisse waren in diesem Zusammenhang die Philosophie Kants und – im Hinblick auf die Erfahrungswissenschaften – die
    Encyclopédie
    von Diderot und D’Allembert.
  4. (3)
    [087:8] Beide Entwicklungen hatten Folgen für die Pädagogik, ja verlangten sie geradezu: Wenn sowohl im Denken als auch im, politisch-ökonomischen Handeln der Bürger
    emanzipiert
    sein sollte, dann mußte er dazu gebildet werden. Dazu bedurfte es einer Abwendung vom
    Buchwissen
    und einer Hinwendung zu den
    Realien
    . Ferner bedurfte es einer von Vorurteilen befreiten Erkenntnis der Natur der Entwicklung des Kindes. Um den künftigen Bürger aber wirklich und effektiv instand zu setzen, sich auch an der politischen Geschichte aktiv zu beteiligen, und zwar ohne Unterschied, mußte wirklich jedes Kind in solcher Weise gebildet werden. Die wesentlichen Daten dieser pädagogischen Komponente bürgerlicher Emanzipation sind deshalb: Jean-Jacques Rousseaus Erziehungsutopie
    Emile
    (1762), Condorcets
    Erziehungsplan
    (1792 der französischen Nationalversammlung vorgelegt)und die Vorbereitung der Einführung einer allgemeinen Schulpflicht.
[087:9] In der Folgezeit geriet die Emanzipations-Idee in eine Reihe von Schwierigkeiten. Sie war eine Idee des Bürgertums. Die
Mündigkeit
des Bürgers wurde zwar in den pädagogischen Diskurs als wesentliches Orientierungs-Datum eingeführt, vor allem durch Kants häufig zitierte Definition von Aufklärung:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
1
1I. Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe Band XI, hrsg. von W. Weischedel, Frankfurt 1977, 53.
Aber er macht in der gleichen Schrift zwei wesentliche Einschränkungen: sich seines Verstandes in Freiheit zu bedienen, dürfe nur für dessen
öffentlichen Gebrauch
gelten, nicht aber für den
Privatgebrauch
oder auf
bürgerlichen Posten
(beispielsweise im Beruf), und zwar deshalb, weil der Vollzug der Praxis zusammenbrechen würde, wenn jederzeit beliebiges
Räsonnieren
gestattet sei; zweitens sei die Aufforderung zur Mündigkeit nicht als Rechtfertigung von |a 40|Revolutionen zu verstehen:
Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern nur neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.
2
2Ebd., 55.
Das heißt: Emanzipation des Denkens als Befreiung von Vorurteilen ist nicht gleichbedeutend mit Emanzipation des Handelns, weil nicht als sicher gelten kann, daß in der Emanzipation des Handelns (beispielsweise im Ungehorsam) nicht neue Vorurteile sich ausbreiten.
[087:10] Karl Marx hat diesen Gedanken in gewisser Weise umgekehrt. Inzwischen nämlich schickte die bürgerliche Gesellschaft sich an, sich zur Klassengesellschaft zu formieren und die Prinzipien der Aufklärung zwar für das Bürgertum gelten zu lassen (und auch dort nur in Grenzen), sie aber dem Proletariat vorzuenthalten. Nicht
Faulheit und Feigheit
(Kant)
seien die Ursachen fortbestehender Unmündigkeit in der Masse der Bevölkerung, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere die der materiellen Produktion. Aus dieser Annahme konnte die Prognose gefolgert werden, daß ein mündiges Denken erst dann zu erwarten sein werde, wenn ihm eine veränderte gesellschaftliche Praxis vorausgeht, denn:
Zum Leben aber gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst, und zwar ist dies ... eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute ... erfüllt werden muß, um die Menschen nur am Leben zu erhalten.
3
3K. Marx/Fr. Engels, Die deutsche Ideologie, in: Marx-Engels-Werke, Band 3, Berlin 1969, 28.
Die Veränderung des Denkens sei deshalb nur dann als Veränderung aller Gesellschaftsmitglieder möglich, wenn zugleich auch
die Produktion des materiellen Lebens selbst
, kurz die
Umstände
verändert würden; und dies wiederum könne
nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden
.
4
4Ebd., 6
[087:11] Seitdem umfaßt die mit dem Ausdruck
Emanzipation
bezeichnete Problemstellung ein breites Spektrum geschichtlicher Bewegungen: zunächst freilich die schon erwähnte Emanzipation des Bürgertums aus den überlieferten Herrschaftsverhältnissen; dann die Emanzipation der Frau seit der Romantik in der Frauenbewegung bis hin zur
feministischen
Bewegung der Gegenwart; die sozialen Bewegungen, die auf Überwindung der bürgerlichen Klassengesellschaft drängen; die Sicherung der Freiheit von Forschung und Lehre; nicht zuletzt die Herstellung demokratischer Verfassungen mit dem Recht auf allgemeine, gleiche und geheime Wahl. Dies alles hat |a 41|auch in die pädagogischen Verhältnisse hineingewirkt: Am Anfang des 19. Jahrhunderts standen die Projekte der preußischen Unterrichtsreform, in denen eine Allgemeinbildung für alle vorgesehen war; in der Mitte des Jahrhunderts setzte der Kampf der Volksschullehrer gegen staatliche und kirchliche Bevormundung ein; es entstanden im Zusammenhang mit der sozialen Bewegung Arbeiterbildungsvereine; der Klassenkampf erreichte das Jugendalter in der proletarischen Jugendbewegung; die bürgerliche Jugendbewegung
emanzipierte
sich von den als autoritär erlebten Familien- und Schulverhältnissen; das Konzept einer Einheitsschule (Gesamtschule) gewann zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich Kontur; in der Weimarer Republik wurde endlich die allgemeine Grundschule eingeführt, auf der nun erstmals die Kinder sämtlicher sozialer Schichten gemeinsam unterrichtet wurden.
[087:12] Diese Vielfalt politischer und erziehungsgeschichtlicher Ereignisse ist schwer unter einen Begriff zu bringen, der nicht nur ein allgemeines geschichtspraktisches Interesse zur Sprache bringt, sondern der auch eine theoretisch klare Kontur hat. In der pädagogischen Theorie war deshalb in der Regel nicht von
Emanzipation
, sondern von pädagogischen
Reformbewegungen
die Rede. Das änderte sich, als in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts in der Pädagogik nach neuen zukunftsfähigen Orientierungen gesucht wurde.

3. Pädagogische Emanzipation im 20. Jahrhundert

[087:13] Seit die Pädagogik, im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung moderner Wissenschaften, sich aus der Philosophie herausgelöst hatte und sich als selbständige,
autonome
Wissenschaft zu bestimmen suchte (so H. Nohl in den 20er Jahren), ist sie mit einem Grundlagenproblem nicht recht fertig geworden. Da sie doch eine Theorie des Handelns sein will: wie steht es mit ihrem Verhältnis zur Praxis; wie verträgt sich eine empirische Tatsachenwissenschaft mit der notwendigen Normativität ihres Gegenstandes; läuft derjenige, der – in geisteswissenschaftlicher Einstellung – die vorliegende Praxis nur auslegt, nicht immer nur dem hinterher, was ohnehin der Fall ist? Durch die politischen Anstrengungen zur Bildungsreform, durch die Ausweitung des theoretischen Blicks auf die Soziologie hin und durch die dramatisch-praktischen Vorgänge in der sogenannten Studentenbewegung wurde diese Schwierigkeit der Pädagogik gleichsam auf eine Pointe zugetrieben. Ein praktisches, also auf begründete Ziele pädagogischen Handelns gerichtetes Interesse schien nun nicht nur in irgendeinem Sinn wünschenswert, sondern schien durch die geschichtliche Situation einerseits nahegelegt, andererseits theoretisch legitimationsfähig und vielleicht doch einen Ausgangspunkt pädagogischen Denkens hergeben zu können, ohne in den Verdacht |a 42|zu geraten, die alte normative und gegenaufklärerische
Weltanschauungspädagogik
wiederbeleben zu wollen: Die empirische Bildungsforschung zeigte, daß die Verteilung von Lebenschancen durch die Organisation des Schulsystems immer noch ungleich war, und zwar in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft der Schüler; in der Sozialarbeit kam zum Bewußtsein, daß es einen scheinbar unauflöslichen Zusammenhang von Armut bzw. Randständigkeit und Bildung gab; in der Jugendarbeit meldeten sich vermehrt Stimmen, die ihre als staatliche, private oder kirchliche Jugendpflege organisierte Form der puren Anpassung an bestehende Herrschafts-, Produktions- oder Konsumtionsbedingungen verdächtigten. Wie 100 oder mehr Jahre zuvor schien das
praktische
Grundproblem immer noch irgendwo zwischen Kant und Marx angesiedelt zu sein.
[087:14] In dieser Situation bot der Vorschlag einer Theorie der Erkenntnisinteressen von Jürgen Habermas einen Ausweg: Neben dem technischen an der Naturbeherrschung und dem hermeneutischen an der Sinnauslegung gebe es noch ein
emanzipatorisches Erkenntnisinteresse an der Lösung aus materiell festgesetzten oder ideologisch festgefrorene(n), im Prinzip aber veränderliche(n) Abhängigkeitsverhältnissen
, im ganzen
aus der Abhängigkeit von hypostasierten Gewalten
.
5
5J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft als
Ideologie
, Frankfurt 1968, 158 f.
Genau dies, so schien es, war der Hinweis auf die Lösung jener pädagogischen Grundfrage, in der Praktiker und Theoretiker der Pädagogik übereinstimmen konnten und also ein sowohl praktisch befriedigender wie theoretisch legitimationsfähiger Ausgangspunkt gegeben war.
[087:15] Das hatte zumindest Plausibilität. Tatsächlich konnte keine Rede davon sein – und das gilt heute unvermindert–, daß das Projekt einer nicht nur formal, sondern auch materiell demokratischen Gesellschaft zu einem befriedigenden Ende gekommen war. Es mußte also in allen pädagogischen Verhältnissen darum gehen, in der nachwachsenden Generation die Fähigkeiten hervorzubringen, die nötig sind, um die Hindernisse, die der weiteren Emanzipation entgegenstehen (und da ist nun auch die sogenannte Dritte Welt mit einbezogen), zu beseitigen.
Emanzipation
konnte mithin als ein praktisches Postulat gelten, das in allen Bereichen pädagogischen Handelns Geltung beanspruchen kann: in der Familie als Befreiung des Jugendlichen von der elterlichen Gewalt, je älter er wird, von den äußeren und inneren Nötigungen der erlittenen Sozialisation; in der Schule, schrittweise, als Befreiung von den institutionell auferlegten Lernformationen; in der Gleichaltrigengruppe von den zugemuteten Konformitätszwängen; in den politischen Gruppierungen von den argumentativen Verkürzungen – und in bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im ganzen, sofern sie in pädagogischen |a 43|Beziehungen zum Thema wurden, die im politischen Bewußtsein und in den sozialen Handlungskompetenzen gebildeten Fähigkeiten, nicht rechtfertigungsfähige (nach den von Kant vorgegebenen Kriterien) Ungleichheiten zu erkennen und an ihrer Verminderung praktisch sich zu beteiligen.
[087:16] Dafür nun hatte Schleiermacher – Theologe, Philosoph und Pädagoge – vorgearbeitet. In seiner Pädagogik-Vorlesung von 1826 beginnt er mit der Frage:
Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?
6
6 Fr. D. Schleiermacher, in: E. Weniger/Th. Schulze (Hrsg.), Pädagogische Schriften 1, Frankfurt 1983, 9
Die Antwort auf diese Frage ist seitdem nicht besser reflektiert gegeben worden, denn: Schleiermacher läßt keinen Zweifel daran, daß er sie sich nur im Rahmen der christlichen Überlieferung denken könne, der allerdings – in emanzipatorischem Interesse – einige Transformationen bevorstünden; er läßt ferner keinen Zweifel daran, daß die von ihm vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse verbesserungsbedürftig seien und die nachwachsende Generation instand gesetzt werden müsse,
mit Kraft
um diese Verbesserung sich zu bemühen; er hat schließlich einen offenen Begriff von Zukunft und verlangt von einer vernünftig zu nennenden Erziehung/Bildung, daß sie sowohl dem Moment des sich bildenden Kindes/Jugendlichen volle Befriedigung sichert als auch diese Befriedigung derart gestaltet, daß sie zukunftsfähig ist. Damit bot sich in der pädagogischen Theorie, neben Kant und der an Marx sich anschließenden Kritischen Theorie (Horkheimer, Adorno, Habermas), ein dritter Anknüpfungspunkt in der Geschichte des pädagogischen Denkens selbst.7
7Vgl. Kl. Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation, München 1968.
Die durch Bildungsreform und Studentenbewegung in Gang kommende Bezugnahme auf politisch relevante Perspektiven der Pädagogik und pädagogisch relevante Komponenten politischen Handelns konnte nun auch theoriegeschichtlich verortet werden.

4. Emanzipation und Jugendarbeit

[087:17] Diese Entwicklung hatte von Anfang an auch ihre Entsprechungen im Bereich der Jugendarbeit, und zwar an drei institutionellen Orten: Jugendverbände begannen, in ihre Arbeit gesellschaftspolitische Orientierungen aufzunehmen; die Freizeitarbeit in
Heimen der Offenen Tür
erkannte ihre schichtspezifische Begrenzung und versuchte, sich ausdrücklicher auf Arbeiterjugendliche einzustellen und politische Gehalte zur Geltung zu bringen; die Jugendbildungsstätten (z. B. Steinkimmen, Dörnberg, Bad Boll, Josefstal/Schliersee) entwickelten neue didaktische Modelle der Jugendbildungsarbeit. Schon relativ früh, noch ehe die Termini
emanzipatorische |a 44|Pädagogik
oder
emanzipatorische Jugendarbeit
gebräuchlich wurden, erschien ein erster
Versuch
, derartige Perspektiven anzudeuten und praktische Interessen mit theoretischen Klärungen zu verbinden.8
8Vgl. C. W. Müller/H. Kentler/Kl. Mollenhauer/H. Giesecke, Was ist Jugendarbeit? Vier Versuche zu einer Theorie, München 1964.
Nach 1968 wurden die Diskussionen heftiger; die politischen, besonders auch die klassentheoretischen Aspekte des Problems wurden stärker hervorgehoben; es entstand das Konzept einer
antikapitalistischen Jugendarbeit
9
9Vgl. H. Lessing/M. Liebel, Jugend in der Klassengesellschaft, München 1974.
, einer Jugendarbeit, die sich an
Selbsterfahrung und Klassenlage
orientierte10
10Vgl. U. Lüers u. a., Selbsterfahrung und Klassenlage, München 1971.
, einer
bedürfnisorientierten
Jugendarbeit.11
11Vgl. D. Damm, Politische Jugendarbeit, München 1975.
Es entstanden
selbstverwaltete Jugendzentren
, in denen Emanzipation endlich nicht mehr nur als pädagogisches Projekt erschien, sondern als wirkliche Selbstbefreiung der jungen Generation, durch politisch-institutionelle Kämpfe hindurch, zumeist gegen die Stadtverwaltungen und Verbände. Im Licht derartiger Veränderungen und Pointierungen erschienen nun die Anfänge von 1964 als
sozialintegrativ
.12
12 Vgl. K Lessing/M. Liebel, Jugend in der Klassengesellschaft, a.a.O., 152 ff.
[087:18]
Emanzipatorische Jugendarbeit
– das war zu einem Sammelnamen geworden, dessen begriffliche Konturen unscharf waren. Und wenn neuerdings auch Friedensengagement, ökologische Aktivitäten,
Spurensuche
, gruppendynamische Selbsterfahrung dazugehören, zeigt sich das Problem: ob nämlich
Emanzipation
in der Jugendarbeit nichts bedeuten soll als eine grobe Richtungsangabe, ein Hinweis darauf, daß unsere wissenschaftlich-technisch-kapitalistische Zivilisation im Hinblick auf zukunftsfähige Orientierungen für die junge Generation in ein Dilemma geraten ist – oder ob damit ein klar umrissenes, theoretisch begründungsfähiges, didaktisch-praktisches Konzept von Jugendbildungsarbeit gemeint ist. Indessen lassen sich, durch alle Diskussionen und Praxisvarianten hindurch, doch einige wesentliche Komponenten im Hinblick darauf, was
Emanzipation
in der Jugendarbeit bedeutet, festhalten:
  • [087:19] Jugendarbeit soll sich nicht in affirmativer Freizeitpädagogik erschöpfen, sondern ihre politischen und sozialstrukturellen Bedingungen und Funktionen bedenken, dem Jugendlichen ein Bewußtsein dieser Zusammenhänge vermitteln und ihm durch politische Aufklärung zu politischer Handlungsfähigkeit verhelfen.
  • [087:20] Sie soll dem Jugendlichen helfen, sich mit den überlieferten kulturellen und institutionellen Beständen kritisch auseinanderzusetzen und – in der Solidarität von Gleichaltrigengruppen – eigene zukunftsfähige Sinnentwürfe zu finden und auszuprobieren.
  • |a 45|
  • [087:21] Sie muß sich dabei zunächst auf die Lebenswelt des Jugendlichen einstellen, auf seine psychischen und sozialen Erfahrungen, sie muß bei den
    Bedürfnissen
    ansetzen.

5. Offene Fragen und künftige Aufgaben

[087:22] So plausibel diese Orientierungen erscheinen, in ihnen verbergen sich dennoch einige offene Fragen; es ist nämlich noch keineswegs ausgemacht, ob der Emanzipationsbegriff tauglich ist, eine charakteristisch bildungstheoretische/pädagogische Problemstellung hinreichend zu umreißen. Er bezog sich zunächst auf die geschichtspraktische Beteiligung des erwachsenen Bürgers am gesellschaftlich-politischen Prozeß. In pädagogischen Zusammenhängen geht es hingegen allererst darum, solche Beteiligungsfähigkeit hervorzubringen, zu bilden. Damit entstehen zwei Fragen: (1) Findet Jugendarbeit ohne verantwortliche Beteiligung von Erwachsenen statt, als Selbstbildung der Gleichaltrigen, und soll ihnen also in dieser Hinsicht der Erwachsenenstatus zugebilligt werden, dann fragt sich, auf welche Weise ein derartiges Generationenverhältnis begründet werden kann. (2) Ist der Erwachsene verantwortlicher Pädagoge/Sozialarbeiter in der Jugendarbeit, dann muß er sich fragen oder fragen lassen, wie ein Emanzipationsinteresse unter der Bedingung von Abhängigkeit gebildet werden könne, und zwar ohne daß das Emanzipationsinteresse des Erwachsenen bloß imitiert wird, denn das wäre ein neuer Fall von Unmündigkeit. – Das Dilemma entsteht unter anderem dadurch, daß das Interesse an Emanzipation, das der Erwachsene in der Jugendarbeit vorgeben mag, in seiner Artikulation immer an empirische Prognosen gebunden ist (darüber, daß diese Handlung oder jener Gedanke auch wirklich zu mehr Freiheit und Gerechtigkeit führt und nicht zu ganz anderen Folgen), solche Prognosen aber prinzipiell nie gewiß sind, es sei denn, man vertritt eine mechanistische Auffassung von Geschichte, was wiederum dem Emanzipationsinteresse widersprechen würde. Ein zweiter Typus offener Fragen ergibt sich aus der trivialen Tatsache, daß jeder Bildungsschritt des jungen Menschen in Abhängigkeit zu seinem Entwicklungsstand steht und dieser wiederum in Korrelation mit den Lebensfeldern, in denen das Kind/der Jugendliche sich bewegt oder bewegt hat. Emanzipation kann also nicht auf jeder Bildungsstufe pädagogisch gleichbedeutend sein; es wäre sogar denkbar, daß ein Konzept emanzipatorischer Jugendarbeit, für 17jährige entworfen, für 14jährige gegenaufklärerisch wirkt. Die wichtigste Frage ist hier offenbar: Wie muß ein Entwicklungsgang und wie müssen die ihm korrespondierenden Bildungshilfen der Erwachsenen gedacht werden, an deren Ende die von Kant geforderte
Mündigkeit
steht?
Emanzipation
hat es, von den geschichtlichen Ursprüngen dieser Idee an, |a 46|mit Herrschaft und kultureller Überlieferung zu tun. Gegen eine Pädagogik des
Wachsenlassens
oder
Antipädagogik
ist immer wieder geltend gemacht worden, daß es im Verhältnis der Generation zueinander eine unaufhebbare Asymmetrie gebe. Auch die Jugendarbeit muß sich mit dieser Frage auseinandersetzen; eine pädagogische Theorie der Emanzipation muß klären, wie mit dem Vorsprung an Fähigkeiten, über die der Erwachsene verfügt, verfahren werden soll, zumal dieser Vorsprung eine der notwendigen Bildungsbedingungen ist, die der junge Mensch braucht (ohne diesen Vorsprung, diese
Abhängigkeit
, lernt das Kind nicht einmal sprechen!). Damit hängt das Verhältnis von Tradition und Fortschritt zusammen: Die Aneignung traditioneller Gehalte, auch wenn sie mühsam ist, widerspricht nicht der Emanzipationsidee, sondern ist eine der Bedingungen ihrer Realisierung; nur so ist – wo nötig – kritische Distanzierung möglich. Da Emanzipation ohne Geschichtsbewußtsein ihren Sinn verlöre, ist hier vor allem zu fragen, welche Bestände unserer kulturellen, besonders auch christlichen Überlieferung für die Zukunft transformationsfähig sind (die Franziskaner heute geben dafür ein Beispiel).
[087:23] Ein Mißverständnis ist es auf jeden Fall, zu meinen, die unter dem Namen
Emanzipation
zusammengefaßten Bestrebungen seien schon eine begründete Antwort auf die Fragen nach dem
guten Leben
.13
13Vgl. J. Ruhloff, Das ungelöste Normproblem der Pädagogik, Heidelberg 1980.
Sie sind ein Teil dieser Fragen.
Emanzipation
ist ein gesellschaftliches Regulativ, das vor naivem Traditionalismus oder selbstgerechtem Konservatismus bewahren kann. Die Begründung für normativ gerechtfertigtes und künftig sinnvolles Leben garantiert dieses Regulativ nicht.

Literatur

    [087:24] Giesecke, Hermann, Die Jugendarbeit, München 1971 (Juventa).
    [087:25] Habermas, Jürgen, Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft als
    Ideologie
    , Frankfurt 1968 (Suhrkamp).
    [087:26] Lessing, Helmut/Liebel, Manfred, Jugend in der Klassengesellschaft, München 1974 (Juventa).
    [087:27] Mollenhauer Klaus, Erziehung und Emanzipation, München 1968 (Juventa).
    [087:28] Ders., Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung, München 1983 (Juventa).
    [087:29] Ruhloff, Jörg, Das ungelöste Normproblem der Pädagogik, Heidelberg 1980 (Quelle & Meyer).