Anmerkungen zur Möglichkeit von Friedenserziehung*
1. Einleitung: Schwierigkeiten mit dem Thema
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1.[089:3] Unter den Bedingungen einer republikanischen Verfassung, der Gewährleistung von öffentlichem Unterricht durch den Staat und der Professionalisierung des Erzieher- und Lehrerstandes operieren Pädagogen entlang einer prekären Grenze, besonders dann, wenn es sich um politische Gehalte handelt: Einerseits ist der professionelle Pädagoge Bürger der Republik mit politischen Optionen; er ist, der Möglichkeit nach, kein politisches Neutrum. Andererseits ist er mit der Erziehung bzw. Unterrichtung von Kindern betraut, denen er dabei behilflich sein soll, die Kompetenz politisch-republikanischer Urteilsbildung allererst hervorzubringen. Dem Pädagogen wird damit ein distanziertes Verhältnis zu seinen eigenen geschichtspraktischen (politischen, weltanschaulichen) Präferenzen abgefordert. Diese Balance zwischen Bürger- und Pädagogenrolle ist immer dann besonders gefährdet, wenn der Druck zu politischem Handeln groß wird und infolgedessen die Bereitschaft wächst, die eigene politische Handlungsperspektive in das pädagogische Feld hineinzutragen. Nicht nur Pädagogen sind dieser Schwierigkeit ausgesetzt, sondern auch Schulverwaltungen – wie man gut an den von den CDU-Kultusministern vorgelegten Texten zur„Friedenssicherung“studieren kann. Unterricht kann dann leicht zu einer unkritischen Verlängerung politischen Handelns mit anderen Mitteln werden. Eine pädagogische Reflexion derartiger Schwierigkeiten hätte das Problem aufzuklären, und zwar so, daß sowohl die Kontinuitäten zwischen Politik und Pädagogik als auch die Grenzen zwischen beiden einsehbar werden.
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2.[089:4] Im Falle der Friedenserziehung kommt gegenwärtig eine weitere Schwierigkeit hinzu: Die Thematik ist vermutlich in uns allen stark emotional verankert, und zwar in anderer |a 178|Weise, als dies auch schon für vergangene Jahrhunderte behauptet werden kann. Man kann das sehen, wenn man beispielsweise die Kriegsschilderungen über den Dreißigjährigen Krieg mit Brechts„Mutter Courage“vergleicht oder Anti-Kriegs-Texte mit Abrüstungsaufrufen in der Gegenwart, oder Kants Argumentationen zum„Ewigen Frieden“mit engagierten Unterrichtsbeispielen der jüngsten Zeit.„Krieg“ist für uns – oder doch wohl für viele von uns – nicht nur ein empfindliches Übel, das der Unvernunft und dem schlechten Zustand von Gemeinwesen und internationalen Systemen geschuldet ist, sondern er macht uns Angst. Nicht erst seit Hiroshima und Nagasaki, sondern schon seit den Erfahrungen des„konventionellen“Massenmordes der zwei Weltkriege klingt diese Angst anders als bei , oder . Eine vernunftmäßige Abwägung der Frage, ob das Leben„der Güter höchstes“sei oder nicht, hat für uns leicht einen akademischen„Grauschleier“(wir fühlen uns weniger in der Position von Friedensmärtyrern oder Freiheitskämpfern – , , – sondern eher in der Position der stummen in Brechts„Mutter Courage“: der einzelne Schuß dort gegen das Leben symbolisiert die von visionär phantasierte Super-Mine, die einen Krieg auf einen Schlag zu Ende bringt, symbolisiert die„Endlösung“, die für uns der Fall einer Atombombe wäre. Ein solcher Fall läßt – anscheinend – keine Freiheit-versus-Leben-Argumentationen, keine konkrete güter-abwägende Entscheidung des einzelnen sittlichen Subjekts mehr zu. Die Entscheidung wird im politisch-administrativen Apparat gefällt – wie in Kafkas„Prozeß“. Die Alternative ist für die sogenannte Masse der Bevölkerung Leben versus Tod oder – im Sinne von Becketts„Endspiel“– Sinn versus Sinnlosigkeit. Das aber ist eine andere Angst als die, die , oder vor dem Tode gehabt haben mögen. Sie ist schwerer zu fassen und schwerer zu formulieren. Diese Irrationalität drückt sich in der demonstrativen Geste eines Friedenskämpfers ebenso aus wie in den rituellen Rüstungsbeschwörungen unseres Verteidigungsministers. Aber was soll – das ist hier die Frage – ein Pädagoge tun, wenn Angst und Engagement seine Vernunftkräfte zu überwältigen drohen?
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3.[089:5] Damit hängt unmittelbar eine dritte Schwierigkeit zusammen: Studiert man beispielsweise Autobiographien vergangener Jahrhunderte im Hinblick auf Probleme von Krieg und Gewalt, dann fällt auf, daß es jenen Autoren offenbar fern lag, kriegerische Auseinandersetzungen und Phänomene der Gewaltausübung im Alltag der Menschen, zumal im Umgang mit Kindern, in irgendeinem sachlichen Zusammenhang zu denken. Das ist heute aus vielerlei Gründen, die ich hier nicht erörtern kann, anders: wir unterstellen, daß es eine Kontinuität der Gewalt gibt, die vom Kinderzimmer über Medienprobleme, Armut in der Welt, Feindbilder, Illiberalität, selbstgerechten Fanatismus bis zum organisierten Krieg mit mörderischen Waffen reicht und von dort wiederum zurück zu dem Verhältnis weist, das wir zu unseren eigenen, persönlichen Gewaltphantasien haben. Sowohl die Friedensforschung als auch vor allem die curricularen Vorschläge zur Friedenserziehung haben sich vor dem Hintergrund dieser Kontinuitätsannahme entfaltet. Sie weist auf zwei Unterstellungen hin, die holzschnittartig die pädagogische Problematik veranschaulichen:
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–die Unterstellung, ein„gewaltloser“Umgang mit Kindern oder gar eine Disziplinierung von Kindern in der Weise, daß ihnen das Spiel mit (die Phantasie von) Gewalt nicht gestattet wird, sei ein signifikanter Beitrag zur Verhinderung von Krieg, und
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–die Unterstellung, gleichsam am anderen Ende der Skala, die Einübung in oder die Vorbereitung auf Formen gewaltlosen Widerstandes gegen aktuelle politische Entscheidungen sei, eben wegen jener Kontinuität, auch pädagogisch legitim.
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2. Sackgassen
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–[089:12] Den Schulhof mit Friedenssymbolen bemalen, ...
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–[089:13] Wurfbude basteln; Blechbüchsen mit Waffen, Raketen bemalen. Ziel: Büchse herunterwerfen; dahinter wird ein Friedenssymbol sichtbar,
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–[089:14] Fahrradkorso: Fahrräder mit Plakaten, Spruchbändern, Tauben usw. schmücken. Korso durch den Stadtteil;
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–[089:15] Raketen zum Aufessen: Raketen backen, Form aus dünnem Blech selber machen. Zum Aufessen verkaufen,
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–[089:16] Kinderspiele (für Unterstufe): Eintritt ein Kinderspielzeug, Pistole usw., ...
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–[089:17] Menschenteppich: auf Pfiff oder Sirenengeheul werfen sich alle flach auf den Boden. Durch Gigaphon erläutert jemand, daß eine Atombombe explodiert sei. Gesichter weiß anmalen!
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–[089:18] Friedensbaum im Schulgarten/Schulhof pflanzen, ...
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–[089:19] Kerzenziehen für den Frieden, damit uns ein Licht aufgeht (einfache Kerzen selber ziehen), ...
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–[089:20] Buttons mit Motto der Friedenswoche herstellen und verkaufen,
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–[089:21] Kriegsspielzeug-Umtauschaktion vorbereiten und durchführen: Kriegsspielzeug in der Schule einsammeln und gegen gutes, gebrauchtes Spielzeug eintauschen, das Schüler, Geschäftsleute usw. gespendet haben."
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1.[089:24] Die Friedenspädagogik in Erziehung und Unterricht ist überfordert, wenn von ihr ein direkter Beitrag zur historischen Sicherung des Friedens und politischer Beteiligung erwartet wird.
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2.[089:25] Auch wer sich mit einem indirekten Beitrag zufrieden gibt, muß das mögliche Lernfeld strukturieren. Die, wenn auch phantasievollen Assoziationen beim Finden von Lernzielen und Aktivitäten sind erst der Anfang des pädagogischen Nachdenkens. Der Pädagoge darf, aus pädagogischer Verantwortung, nicht bei ihnen stehenbleiben. Jedes Projekt bedarf einer Begründung. Erbauliche Umschreibungen leisten das nicht.
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3.[089:26] Für eine pädagogische Begründung ist die eigene politische Option prinzipiell nicht ausreichend. Öffentliche Erziehung liegt in der Hand des Staates und nicht der Regierungspartei. Das hat nicht nur politische, sondern auch pädagogische Vernunft: es widerstreitet der Sittlichkeit im pädagogischen Feld, Kindern als wahr zu präsentieren, was nur den Status einer Vermutung hat. Das gilt freilich auch für die Seite der Friedensbewegung. Es gilt erfreulicherweise nicht für die Entscheidung des Hamburger Senators, die verschiedenen Positionen den Schulen zugänglich zu machen. Verantwortliche Pädagogik beginnt genau an diesem Punkt.
3. Klippen
4. Orientierungspunkte
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1.[089:38] Seit gehören Allmachtsphantasien im Hinblick auf den überschaubar |a 186|gesellschafts- oder kulturverändernden Beitrag der Pädagogik zur Geschichte zum möglichen Repertoire von Pädagogen. Derartige Annahmen aber sind nicht nur empirische Illusionen, sondern enthalten schon eine begriffliche Verkennung. Da Erziehung dort endet, wo die Selbständigkeit des heranwachsenden Menschen erreicht ist, ist alle Erziehung auch nur Vorbereitung auf diesen Status des selbständigen und selbstverantwortlichen Bürgers. Nicht Kinder machen die Geschichte, sondern Erwachsene. Sollte diese Behauptung konsensfähig sein, folgt aus ihr: Die Instrumentalisierung von Kindern für politische Zwecke von erwachsenen Bürgern, und seien es Pädagogen, ist unstatthaft, weil dabei nicht das Interesse an der allmählichen Bildung von Selbsttätigkeit und Selbstverantwortlichkeit vorwalten würde, sondern eine bestimmte empirisch-politische Auslegung des Gebrauchs von Selbsttätigkeit, ihre historisch mögliche Gestalt bereits suggestiv vorwegnehmend. Derartiges geschieht, wenn 8jährige überredet werden, Pappraketen zu zersägen, oder wenn Kultusminister Friedenserziehung zu einer„staatlichen Aktion zur Vereinheitlichung der Schülerauffassungen über Bundeswehr und Verteidigungspolitik“(R. Wolff 1983, S. 174)
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2.[089:39] Es ist sofort einsichtig, daß damit dem Pädagogen ein überdurchschnittliches Maß an Selbstbeherrschung und Bildung abverlangt wird. Er wird sich, mit den ihm anvertrauten Kindern, weder auf das Niveau des vormaligen Bundesministers für Familie, Jugend und Gesundheit begeben dürfen noch auf das der Demonstranten, die den Austausch von Argumenten (beispielsweise in ) gewalthaft verhindern, denn er hat nicht seine eigene, vielleicht riskante Position zu vertreten, sondern die Möglichkeit seiner Schüler, überhaupt erst zu einer selbst zu verantwortenden Position zu finden. Aus diesem Grunde ist pädagogisch nicht erst die Instrumentalisierung von Kindern zu politischen Zwecken unstatthaft, sondern bereits das unkritische Geltendmachen von geschichtlich-empirischen Prognosen, die zur Sicherung der eigenen (politischen) Positionen verwendet werden. Jede Art der politischen Beteiligung des Bürgers an zukunftsrelevanten Entscheidungen beruht u. a. auf derartigen und prinzipiell empirisch nicht zu sichernden Prognosen. (Im übrigen dient der Aufbau von Feindbildern dazu, diese Argumentationslücke zu schließen.) Das„überdurchschnittliche Maß an Selbstbeherrschung und Bildung“betrifft also sowohl die intellektuelle Fähigkeit, mit den Beständen unserer politischen Diskurse skeptisch umzugehen, wie auch die emotionale Fähigkeit, uns Feindbild-Verführungen zu versagen. Es wäre in solcher Situation hilfreich, wenn Kultusministerien den Lehrern bei dieser weiß Gott schwierigen Aufgabe behilflich wären; wenn schon die Erwartung, sie möchten ein Beispiel geben, gelegentlich zu hoch gegriffen scheint, sollten sie doch wenigstens vermeiden, pädagogische Unvernunft zu verordnen.
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3.[089:40]Wenn politische Meinungen, wenn Vorwegentscheidungen über den Inhalt, den für die nachwachsende Generation der Gebrauch ihrer Selbsttätigkeit haben wird, wenn historische Prognosen über den mutmaßlichen Erfolg dieser oder jener politischen Strategie zur Friedenssicherung riskant sind: worauf dann kann sich friedenspädagogisches Handeln gründen? Meine Antwort: sie kann sich nicht auf politisch-empirisches Kalkül, sondern nur auf Prinzipien des pädagogischen Handelns gründen. Derartige Prinzipien sind freilich nicht zeitlos, sondern sind konsensfähige Regulative, die nur insofern gelten, als die Kultur, der sie entstammen, existieren will. Das bedeutet für unsere historische Situation folgendes:
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–Das pädagogische Feld, in dem Friedensfähigkeit vermittelt werden soll, muß diese selbst repräsentieren – und sei es als Insel in einem friedlosen Umfeld.
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–Die Widerstände, die die menschliche Natur dem sittlichen Willen zur Friedfertigkeit entgegensetzt, dürfen nicht geleugnet, sondern müssen zum Thema werden.
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–Die Sphäre des Rechts, deren Geschichte ein wesentlicher Teil des Zivilisationsprozesses ist, ist eine unverzichtbare Komponente der Sicherung von Friedfertigkeit. Die Bildung zur Rechtlichkeit ist deshalb auch ein wesentlicher Schritt im Rahmen der Friedenserziehung.
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–Indessen kann der sittliche Wille mit dem historischen Zustand des Rechts übereinstimmen, er muß es aber nicht. Die moralische Freiheit kann – folgt man – den Rechtsbruch gebieten. Hinter der Legalität steht die Frage nach Legitimität des Rechts. Insofern, so sagte , sei es„Pflicht, den Zustand des öffentlichen Rechts, obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung wirklich zu machen“„der ewige Friede ... keine leere Idee, sondern eine Aufgabe“„Die Verfassung (und darüber hinaus das positive Recht überhaupt) muß aus Prinzipien gerechtfertigt werden können, deren Gültigkeit nicht davon abhängig sein darf, ob das positive Recht mit ihnen übereinstimmt oder nicht“(Habermas, a.a.O.)
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4.[089:41] Beziehen wir derartige Prinzipien auf die Praxis der Bildung, dann sind wir zu einer altersgemäßen Differenzierung genötigt. Ich möchte als erste und wichtigste Differenzierung vorschlagen, zwischen drei Stadien des Bildungsprozesses zu unterscheiden. Für das erste Stadium soll gelten, daß das Handlungs- und Lernfeld eine Struktur hat, die dem Kinde eine zwanglose Balance zwischen seinen gewalthaften Antrieben und Phantasien, den Regeln des zwischenmenschlichen Verkehrs und dem symbolisierenden Spiel mit Dingen erlaubt. Für das zweite Stadium soll gelten, daß hier die Aufgabe entsteht, die Handlungsorientierungen über primäre Bezugspersonen hinaus auszuweiten, soziale Rollen und Interessen nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch, im Sinne der Anerkennung von verallgemeinerungsfähigen Regeln, an Gesetze zu binden. Es handelt sich mithin um jene Stufe im Prozeß der Zivilisation, auf der die Wahrnehmung eigener Interessen durch legalisierte Einschränkung aggressiver Handlungen kontrollierbar gemacht wird. Im dritten Stadium schließlich kann bei den Kindern/Jugendlichen ein kognitives Repertoire unterstellt werden, das eine Urteilsbildung in der Abwägung von Legalität und Legitimität, von Völkerrecht und Sittlichkeit, von Geschichte und System erlaubt. Erst hier ist die Erziehung zur Friedensfähigkeit politische Bildung im engeren Sinne. Ein Unterricht, der die politische Problematik des Friedens in der geschichtlichen Welt zum Gegenstand hat, wäre erst auf dieser Stufe anzusiedeln.