Anmerkungen zur Möglichkeit von Friedenserziehung [Textfassung a]
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Anmerkungen zur Möglichkeit von Friedenserziehung*
*Text eines Vortrages, den ich im Herbst 1983 bei verschiedenen Gelegenheiten hielt. Der Titel
Anmerkungen zur Möglichkeit...
ist keine übertriebene Bescheidenheit, sondern entspricht dem, was – angesichts der umfangreichen Diskussion und der Komponentenvielfalt des Themas – auf wenigen Seiten möglich ist. Das wird in dem zwei Jahre nach diesem Vortrag erschienenen Themenheft
Friedenspädagogik
der Zeitschrift
psychosozial
(Nr. 26, 8. Jg., Reinbek 1985) mit einer ausgezeichneten knappen Problemskizze von Chr. Wulf (S. 8ff.) recht deutlich.

1. Einleitung: Schwierigkeiten mit dem Thema

[089:1]
Der Abstand zwischen dem, was die Schule zur Vorbereitung auf die Politik tun (oder an Politik enthalten) kann, und der Politik, die den
Krieg verhindern
soll, ist durch keine Didaktik zu überwinden
; das schrieb
1973 Hartmut von Hentig (in Wulf 1973,S. 38)
. In den seither 10 Jahren haben Theoretiker und Praktiker der Erziehung und des Unterrichts versucht, diese Behauptung zu widerlegen, wenigstens aber die Differenz durch Materialien anzufüllen, durch Meinungen und Erfahrungen, Theorien und Projekte, Lernziele und Unterrichtseinheiten. Ist dadurch die Überbrückung von Politik und Erziehung leichter geworden? Ich will versuchen, diese Frage zu diskutieren.
[089:2] Das ist leichter gesagt als getan. Es gibt offenbar einige für das Thema charakteristische Schwierigkeiten, die einer rationalen pädagogisch-didaktischen Bearbeitung Widerstand entgegensetzen. Ich hebe die drei, die mir am wichtigsten erscheinen, hervor:
  1. 1.
    [089:3] Unter den Bedingungen einer republikanischen Verfassung, der Gewährleistung von öffentlichem Unterricht durch den Staat und der Professionalisierung des Erzieher- und Lehrerstandes operieren Pädagogen entlang einer prekären Grenze, besonders dann, wenn es sich um politische Gehalte handelt: Einerseits ist der professionelle Pädagoge Bürger der Republik mit politischen Optionen; er ist, der Möglichkeit nach, kein politisches Neutrum. Andererseits ist er mit der Erziehung bzw. Unterrichtung von Kindern betraut, denen er dabei behilflich sein soll, die Kompetenz politisch-republikanischer Urteilsbildung allererst hervorzubringen. Dem Pädagogen wird damit ein distanziertes Verhältnis zu seinen eigenen geschichtspraktischen (politischen, weltanschaulichen) Präferenzen abgefordert. Diese Balance zwischen Bürger- und Pädagogenrolle ist immer dann besonders gefährdet, wenn der Druck zu politischem Handeln groß wird und infolgedessen die Bereitschaft wächst, die eigene politische Handlungsperspektive in das pädagogische Feld hineinzutragen. Nicht nur Pädagogen sind dieser Schwierigkeit ausgesetzt, sondern auch Schulverwaltungen – wie man gut an den von den CDU-Kultusministern vorgelegten Texten zur
    Friedenssicherung
    studieren kann. Unterricht kann dann leicht zu einer unkritischen Verlängerung politischen Handelns mit anderen Mitteln werden. Eine pädagogische Reflexion derartiger Schwierigkeiten hätte das Problem aufzuklären, und zwar so, daß sowohl die Kontinuitäten zwischen Politik und Pädagogik als auch die Grenzen zwischen beiden einsehbar werden.
  2. 2.
    [089:4] Im Falle der Friedenserziehung kommt gegenwärtig eine weitere Schwierigkeit hinzu: Die Thematik ist vermutlich in uns allen stark emotional verankert, und zwar in anderer |a 178|Weise, als dies auch schon für vergangene Jahrhunderte behauptet werden kann. Man kann das sehen, wenn man beispielsweise die Kriegsschilderungen Grimmelshausens über den Dreißigjährigen Krieg mit Brechts
    Mutter Courage
    vergleicht oder Jean Pauls Anti-Kriegs-Texte mit Abrüstungsaufrufen in der Gegenwart, oder Kants Argumentationen zum
    Ewigen Frieden
    mit engagierten Unterrichtsbeispielen der jüngsten Zeit.
    Krieg
    ist für uns – oder doch wohl für viele von uns – nicht nur ein empfindliches Übel, das der Unvernunft und dem schlechten Zustand von Gemeinwesen und internationalen Systemen geschuldet ist, sondern er macht uns Angst. Nicht erst seit Hiroshima und Nagasaki, sondern schon seit den Erfahrungen des
    konventionellen
    Massenmordes der zwei Weltkriege klingt diese Angst anders als bei Grimmelshausen, Lessing oder Jean Paul. Eine vernunftmäßige Abwägung der Frage, ob das Leben
    der Güter höchstes
    sei oder nicht, hat für uns leicht einen akademischen
    Grauschleier
    (wir fühlen uns weniger in der Position von Friedensmärtyrern oder Freiheitskämpfern – Antigone, Posa, Che Guevara – sondern eher in der Position der stummen Katrin in Brechts
    Mutter Courage
    : der einzelne Schuß dort gegen das Leben symbolisiert die von Jean Paul visionär phantasierte Super-Mine, die einen Krieg auf einen Schlag zu Ende bringt, symbolisiert die
    Endlösung
    , die für uns der Fall einer Atombombe wäre. Ein solcher Fall läßt – anscheinend – keine Freiheit-versus-Leben-Argumentationen, keine konkrete güter-abwägende Entscheidung des einzelnen sittlichen Subjekts mehr zu. Die Entscheidung wird im politisch-administrativen Apparat gefällt – wie in Kafkas
    Prozeß
    . Die Alternative ist für die sogenannte Masse der Bevölkerung Leben versus Tod oder – im Sinne von Becketts
    Endspiel
    – Sinn versus Sinnlosigkeit. Das aber ist eine andere Angst als die, die Antigone, Posa oder Che Guevara vor dem Tode gehabt haben mögen. Sie ist schwerer zu fassen und schwerer zu formulieren. Diese Irrationalität drückt sich in der demonstrativen Geste eines Friedenskämpfers ebenso aus wie in den rituellen Rüstungsbeschwörungen unseres Verteidigungsministers. Aber was soll – das ist hier die Frage – ein Pädagoge tun, wenn Angst und Engagement seine Vernunftkräfte zu überwältigen drohen?
  3. 3.
    [089:5] Damit hängt unmittelbar eine dritte Schwierigkeit zusammen: Studiert man beispielsweise Autobiographien vergangener Jahrhunderte im Hinblick auf Probleme von Krieg und Gewalt, dann fällt auf, daß es jenen Autoren offenbar fern lag, kriegerische Auseinandersetzungen und Phänomene der Gewaltausübung im Alltag der Menschen, zumal im Umgang mit Kindern, in irgendeinem sachlichen Zusammenhang zu denken. Das ist heute aus vielerlei Gründen, die ich hier nicht erörtern kann, anders: wir unterstellen, daß es eine Kontinuität der Gewalt gibt, die vom Kinderzimmer über Medienprobleme, Armut in der Welt, Feindbilder, Illiberalität, selbstgerechten Fanatismus bis zum organisierten Krieg mit mörderischen Waffen reicht und von dort wiederum zurück zu dem Verhältnis weist, das wir zu unseren eigenen, persönlichen Gewaltphantasien haben. Sowohl die Friedensforschung als auch vor allem die curricularen Vorschläge zur Friedenserziehung haben sich vor dem Hintergrund dieser Kontinuitätsannahme entfaltet. Sie weist auf zwei Unterstellungen hin, die holzschnittartig die pädagogische Problematik veranschaulichen:
    • die Unterstellung, ein
      gewaltloser
      Umgang mit Kindern oder gar eine Disziplinierung von Kindern in der Weise, daß ihnen das Spiel mit (die Phantasie von) Gewalt nicht gestattet wird, sei ein signifikanter Beitrag zur Verhinderung von Krieg, und
    • die Unterstellung, gleichsam am anderen Ende der Skala, die Einübung in oder die Vorbereitung auf Formen gewaltlosen Widerstandes gegen aktuelle politische Entscheidungen sei, eben wegen jener Kontinuität, auch pädagogisch legitim.
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[089:6] Haben die ersten beiden Schwierigkeiten – die pädagogisch-republikanische und die psychologische – etwas mit der Intensität unseres politischen Engagements zu tun, also auch mit unseren Affekten und ihrer rationalen Kontrolle, so die dritte mit einem Problem pädagogischer Argumentation: Sind jene beiden in der Kontinuitätsannahme enthaltenen Unterstellungen richtig? Viele Pädagogen nehmen das an. Die Beantwortung der Frage aber ist schwieriger, als es vielleicht scheint, denn die Kontinuitätsannahme folgt einer Art Nötigung neuzeitlich-pädagogischen Denkens, nämlich: daß es ein zeitlich dem Kinde weit voraus liegendes Ziel geben müsse, auf das hin jede Erziehungshandlung erst ihren zweckrationalen Sinn erhalte; daß mit der Vorbereitung auf das, was dem Erwachsenen wichtig ist, nicht früh genug begonnen werden könne; und schließlich: daß das Bildungsfeld des Kindes nichts als ein reduziertes Abbild dessen sei oder gar zu sein habe, was die gesellschaftliche Wirklichkeit der Erwachsenen ausmacht. Diese drei Annahmen halte ich für nicht rechtfertigungsfähig. Sie gehören in der Dialektik der Aufklärung eher deren dunkler Seite zu.
[089:7] Im folgenden will ich nicht diese Position begründen – das würde hier zu weit führen –, sondern erläutern, was im Umkreis der jeden Pädagogen überfordernden Kontinuitätsannahme zu konstatieren oder zu bereinigen wäre.

2. Sackgassen

[089:8] Wie in einem Wölbspiegel erscheinen die skizzierten Schwierigkeiten in der didaktischen Diskussion, dort allerdings naturgemäß in anderer Gestalt. Es gibt nun offenbar verschiedene Möglichkeiten, den Barrieren, die das Thema bereithält, aus dem Wege zu gehen. Drei Beispiele:
[089:9] Jemand stellt eine Liste von Lernzielen zusammen und ordnet sie in 8 Gruppen, nämlich: Gesellschaft, Interessen, Emanzipation, strukturelle Gewalt und Herrschaft, Konflikt, Aggression, Vorurteil, Internationales System und Krieg. Insgesamt sind es 69 (!) Lernziele. Manchmal soll der Schüler
lernen, daß ...
, manchmal
erkennen, daß ...
, manchmal
fähig werden ...
(Nicklas/Ostermann, in: Benden 1977, S. 167 ff.)
. Über die Hälfte der Lernziele (nämlich 40) besteht aus
Erkenntnissen
. Ist unser friedenstheoretisches Wissen so zuverlässig? Und sind 69 Lernziele nicht eher absurdes pädagogisches Theater?
[089:10] Da kann man dann leicht – zweites Beispiel – ins andere Extrem fallen. Die CDU-Kultusminister reduzierten vor knapp 5 Jahren den thematischen Komplex energisch, um die Schüler weniges, aber das gründlich lernen zu lassen: Wer sich den pädagogisch gebotenen Zweifel an der Wahrheitsfähigkeit der eigenen politischen Prognosen glaubt ersparen zu können, hat vielleicht ein gutes Gewissen, wenn er versucht, den Nachwuchs auf seine ideologische Linie festzulegen. Die Schritte, in denen die Reduktion der Thematik vorgenommen wird, sind die folgenden (ich folge hier dem Entwurf der Minister Mayer-Vorfelder und Gölter vom September 1981 in Lutz (Hg.) 1984): 1. Einschränkung des Themas auf die politischen Probleme der Friedenssicherung (S. 99 ff.); 2. weitere Präzisierung im Hinblick auf militärische Sicherung bzw. die Rolle der Bundeswehr (ebd.); 3. Aufbau eines Feindbildes:
Angesichts der Tatsache, daß die Sowjetunion trotz aller Entspannungsgespräche ihr militärisches Potential erhöht ...
, ist
Wehrdienst in der Bundeswehr ... unmittelbar ein Dienst für die Erhaltung des Friedens
(S. 100)
. Das mag richtig sein; der Verdacht, daß hier ein Feindbild aufgebaut wird, entsteht jedoch dadurch, daß eine ähnliche Überlegung für die andere Seite gar nicht erwogen wird (ebd.); allerdings heißt es an späterer Stelle
(S. 103)
: |a 180|
Diese Würdigung (der Bundeswehr, K. M.) soll nicht vor dem Hintergrund eines Feindbildes erfolgen
; diese Beteuerung wird indessen durch andere Textpassagen entkräftet; gegen Ende des Textes
(S. 109)
heißt es dann, daß im Unterricht
die Grundwerte und Prinzipien der freiheitlichen und sozialen Ordnung und die Ideologie des Kommunismus
zu behandeln seien, so als gäbe es Ideologien nur beim Gegner (womit er natürlich, was die Wahrheitsliebe betrifft, prinzipiell schlechter dastünde); 4. Abdrängung der ethischen Problematik in den Hintergrund. Die Schwierigkeit eines
rechten
, also auch eines mißbräuchlichen Umgangs mit den Normen des Grundgesetzes gibt es offenbar nur bei der Verweigerung des Wehrdienstes, nicht bei der Bundeswehr (S. 100); 5. Instrumentierung der so gewonnenen Perspektive für Friedenserziehung durch Grundgesetz und Völkerrecht (S. 101); 6. Didaktische Festlegung des Lernziels auf parteigebundene empirische Einschätzungen (Vermutungen) der politischen Lage:
... nach aller Erfahrung der Geschichte
(S. 104)
;
Entspannungspolitik hat ... nur auf der Grundlage der Erhaltung des militärischen Gleichgewichts Aussicht auf Erfolg
(S. 105)
;
Verschiedene Konzepte der Friedenssicherung
hätten
utopischen Charakter
(ebd.)
;
Die NATO ... bewährt sich ... in der Abrüstungs- und Entspannungspolitik
(S. 106)
; 7. Organisation des Unterrichts derart, daß das so reduzierte Lernziel in keine Irritation gerät:
Truppenbesuche
, wenngleich
vorurteilsfrei
, sollen erfolgen
(S. 109)
;
Jugendoffiziere können ... eingeladen werden
, aber
solche Begegnungen sollen nicht Ausnahmecharakter haben
, allerdings:
Die Aufgaben der Bundeswehr sind sachlich und ohne Werbung darzustellen
(S. 110)
. Geht das überhaupt noch, wenn man bis zu diesem Punkt alle Reduktionsschritte mitvollzogen hat? – Alles in allem: ein exzellentes Dokument (gesamt-)deutscher Didaktik, auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts; der Gegenstand ist, durch Schrumpfung auf handliches Format, nun derart bestimmt, daß man ihn – sagen wir: in einer Unterrichtseinheit von 30 Stunden auf der Sekundarstufe II bewältigen könnte.
[089:11] Eine derartige Vereinfachung der friedenspädagogischen Aufgabe mag manch einem zuviel sein (drittes Beispiel). Unter der Devise (wie mir scheint)
Alles ist recht, wenn es einem nur einfällt
wurde vor einigen Jahren eine Art friedenspädagogischer Flohmarkt eröffnet (H. Bethge, Wir planen eine Friedenswoche, WPB 1982, S. 116 ff.): Da gibt es beispielsweise – damit nicht nur die Sekundarstufe mit Friedenserziehung traktiert wird –
Projektvorschläge für die Klassen 5 und 6; z. T. auch für die Klassen 3 und 4
. Das sieht so aus:
  • [089:12] Den Schulhof mit Friedenssymbolen bemalen, ...
  • [089:13] Wurfbude basteln; Blechbüchsen mit Waffen, Raketen bemalen. Ziel: Büchse herunterwerfen; dahinter wird ein Friedenssymbol sichtbar,
  • [089:14] Fahrradkorso: Fahrräder mit Plakaten, Spruchbändern, Tauben usw. schmücken. Korso durch den Stadtteil;
  • [089:15] Raketen zum Aufessen: Raketen backen, Form aus dünnem Blech selber machen. Zum Aufessen verkaufen,
  • [089:16] Kinderspiele (für Unterstufe): Eintritt ein Kinderspielzeug, Pistole usw., ...
  • [089:17] Menschenteppich: auf Pfiff oder Sirenengeheul werfen sich alle flach auf den Boden. Durch Gigaphon erläutert jemand, daß eine Atombombe explodiert sei. Gesichter weiß anmalen!
  • [089:18] Friedensbaum im Schulgarten/Schulhof pflanzen, ...
  • [089:19] Kerzenziehen für den Frieden, damit uns ein Licht aufgeht (einfache Kerzen selber ziehen), ...
  • [089:20] Buttons mit Motto der Friedenswoche herstellen und verkaufen,
  • [089:21] Kriegsspielzeug-Umtauschaktion vorbereiten und durchführen: Kriegsspielzeug in der Schule einsammeln und gegen gutes, gebrauchtes Spielzeug eintauschen, das Schüler, Geschäftsleute usw. gespendet haben."
[089:22] Die pädagogischen Vorschläge für die jüngeren Altersgruppen sind aufschlußreich. Die |a 181|beiden CDU-Kultusminister wußten mit ihnen nichts Rechtes anzufangen, aber dieser Autor weiß es. Aber öffnet er wirklich die von den Ministern vorgenommene Reduktion wieder auf größere Komplexität hin? Mir scheint, er reduziert ebenso, wenngleich in anderer Richtung. Der Indoktrination, die den Ministern vorzuhalten wäre, setzt er eine andere Indoktrination entgegen. Der Katalog von Projektvorschlägen für 8–11jährige Kinder ist nur scheinbar komplex; er folgt – gewiß absichtlich und vermutlich mit Gründen – einer schlichten Maxime, den Ministern der Form nach nicht unähnlich: Man muß nur recht früh eine recht tief emotional verwurzelte Abneigung gegen Krieg den Kindern einpflanzen und sie an entsprechende Handlungen gewöhnen, dann werden auch Kriege weniger wahrscheinlich. Aber das sind empirisch-prognostische Annahmen; die Minister könnten recht haben, dieser Autor auch. Wir können das empirisch nicht zuverlässig entscheiden. Was soll der nachdenkliche Pädagoge tun?
[089:23] Gibt es Wege, die aus derartigen Sackgassen herausführen? Die Beispiele sind nicht nur entmutigend. Wir können aus ihnen lernen, und zwar:
  1. 1.
    [089:24] Die Friedenspädagogik in Erziehung und Unterricht ist überfordert, wenn von ihr ein direkter Beitrag zur historischen Sicherung des Friedens und politischer Beteiligung erwartet wird.
  2. 2.
    [089:25] Auch wer sich mit einem indirekten Beitrag zufrieden gibt, muß das mögliche Lernfeld strukturieren. Die, wenn auch phantasievollen Assoziationen beim Finden von Lernzielen und Aktivitäten sind erst der Anfang des pädagogischen Nachdenkens. Der Pädagoge darf, aus pädagogischer Verantwortung, nicht bei ihnen stehenbleiben. Jedes Projekt bedarf einer Begründung. Erbauliche Umschreibungen leisten das nicht.
  3. 3.
    [089:26] Für eine pädagogische Begründung ist die eigene politische Option prinzipiell nicht ausreichend. Öffentliche Erziehung liegt in der Hand des Staates und nicht der Regierungspartei. Das hat nicht nur politische, sondern auch pädagogische Vernunft: es widerstreitet der Sittlichkeit im pädagogischen Feld, Kindern als wahr zu präsentieren, was nur den Status einer Vermutung hat. Das gilt freilich auch für die Seite der Friedensbewegung. Es gilt erfreulicherweise nicht für die Entscheidung des Hamburger Senators, die verschiedenen Positionen den Schulen zugänglich zu machen. Verantwortliche Pädagogik beginnt genau an diesem Punkt.

3. Klippen

[089:27] Die friedensthematische Diskussion unter Pädagogen ist also wie ein Schiff auf stürmischer See. Die Wellen des Engagements und der Emotionen, besonders auch die der tatsächlichen politischen Vorgänge, schlagen hoch. Starrköpfige Steuerleute, die das Ruder in der gleichen Position halten, sind ebenso gefährlich wie tollkühne oder überängstliche; jedenfalls sind alle drei Eigenschaften keine pädagogischen Tugenden, sofern man mit Klippen rechnen muß – und die gibt es in pädagogischen Gewässern. Ich mache vier solche Klippen aus, zwischen denen wir hindurchsteuern müssen: Falsche Politisierung (1), falsche Intellektualisierung (2), Geschichte (3) und
strukturelle
pädagogische Gewalt (4)
.
[089:28] 1. Falsche Politisierung. Daß der
Frieden
ein politisches Thema ist, bedarf keiner Erläuterung. Erläuterungsbedürftig ist indessen, was dieses Thema bedeutet, wenn es Gegenstand von Bildungsbemühungen wird. Wie schwierig eine derart positive Bestimmung ist, kann man an den Anfängen eines ernsthaften Nachdenkens über die Didaktik der politi|a 182|schen Bildung gegen Ende der sechziger Jahre studieren (vgl. dazu Giesecke 1965, Becker u.a. 1967, März 1970, Lüers u.a. 1971). Unter dem Druck eines historischen Nachholbedarfs im Hinblick auf die Präzisierung der politischen Gehalte auch im nichtstaatlichen Bereich des gesellschaftlichen Lebens ging es damals darum einzusehen, wie Politisches das ganze soziale Dasein durchdringt, als Interesse, Ideologie, ökonomische Lebensgrundlage, als Bereitschaft, Konflikte mit diesen oder jenen Mitteln auszutragen. Ich werte es als einen Prozeß der
politischen Selbsterziehung des deutschen Volkes
(Th. Litt 1954)
, daß heute, mindestens unter professionellen Pädagogen, diese Erweiterung des Begriffs nicht mehr strittig ist (vgl. dazu die Kritik W. Klafkis an Th. Litt in Klafki 1982, S. 370 ff.). Strittig scheint indessen immer noch zu sein, was Theodor Litt schon 1954 anmahnte: Die Aushöhlung des demokratischen Politikbegriffes beginne dort, wo man die verschiedenen politischen Überzeugungen nicht mehr
mit vollem Bewußtsein und planmäßig als Momente seines eigenen Lebensprozesses zum Einsatz bringt
(in März 1970, S. 112)
, sich also wenigstens virtuell in die je andere Perspektive hineinversetzt.
Gestehen wir uns doch ein
, schrieb Litt,
daß, wo immer sich politische Bekenntnisse im Kampfe messen, die Versuchung, den Andersdenkenden dadurch mattzusetzen, daß man ihn zum Dummkopf oder zum Schurken stempelt, ständig im Hintergrund lauert
(ebd., S. 115)
. Die positive Konsequenz ist nicht etwa Verzicht auf politischen Kampf,
keine Angleichung an die Formen sozialer Kooperation
, sondern gerade die Anerkennung der Verschiedenheit von Überzeugungen, Interessen, geschichtlichen Prognosen, und zwar
ohne Vorbehalte
.
[089:29] Dieser Gedankengang Theodor Litts ist nicht nur politiktheoretisch von Interesse, er ist eminent pädagogisch, denn er bezeichnet genau die Grenze hin zu dem, was ich eine pädagogisch nicht mehr zu legitimierende Politisierung nenne. Sie ist immer dann zu konstatieren, wenn in der Lebensperspektive des Erwachsenen die Form des politischen Kampfes gering geachtet und dagegen die inhaltliche (wenngleich prinzipiell nie zu sichernde) Überzeugung zum alleinigen Orientierungsdatum wird. Das ist deshalb ein pädagogisch wesentliches Kriterium, weil es zuallererst die Form unseres Lebens ist, die den Kindern zum Modell wird und ihre eigene Bildung herausfordert.
[089:30] Eine solche Behauptung ist riskant, denn sie könnte denjenigen zur Rechtfertigung dienen, die die Entpolitisierung der Friedenserziehung betreiben. Niemand wird mit Gründen bestreiten, jedenfalls innerhalb unseres Kulturkreises, daß die Erziehung zu Vorurteilslosigkeit und zur Bereitschaft, personelle Konflikte möglichst ohne den Einsatz physischer Gewalt auszutragen, zu den wesentlichen pädagogischen Aufgaben gehört – freilich oft verletzt, bis hin zu den als
Rückfall in die Barbarei
bezeichneten Formen der Erziehung zu rassistischer Arroganz, Erziehung zum Haß, Verachtung gegenüber dem Schwachen. All dies fällt unter das Niveau erreichter pädagogischer Sittlichkeit zurück. Aber das ist pädagogischer Alltag, betrifft einen humanen Umgang der Generationen, der Kinder und Jugendlichen miteinander. Dieser Friede des persönlichen Verkehrs ist vorpolitisch. Wenn Friedenserziehung sich mit ihm begründen wollte, würde man ihr mit Recht vorwerfen können, daß sie sich entpolitisiert hätte. Entpolitisierung kann aber auch heißen, daß der politische Gehalt dessen, was in diesem
vorpolitischen Raum
geschieht, vergessen wird. So begrifflich falsch es wäre, jede Unterstützung bei der friedlichen Schlichtung eines Streits zwischen Kindern schon als pädagogischen Beitrag zur Lösung des politischen Problems der Friedenssicherung zwischen Völkern zu nehmen, so falsch wäre es auch, diesem Raum jedwede politische Bedeutsamkeit abzusprechen. Freilich aber gibt es intellektuelle Strategien, mit denen das versucht wird. Wer die gewalthafte Lösung eines Konfliktes im Erziehungsfeld |a 183|für verwerflich und nur die kommunikative für legitim hält, ist vielleicht zugleich der Meinung, daß es im politischen Rahmen
gerechte Kriege
und
falschen Frieden
gebe, etwa so, wie ein möglicher Krieg gegen den
kommunistischen
oder gegen den
kapitalistischen
Herrschaftsbereich jeweils gerechtfertigt erscheinen mag; oder so, wie der Verzicht auf Bürgerkrieg als
falscher Friede
empfunden werden könnte. Da gibt es Probleme für den Pädagogen, die so rasch nicht zu beantworten sind. Seit Lessings
Nathan der Weise
jedenfalls sind
falsche Frieden
und
gerechte Kriege
zunächst einmal historisch verbrauchte Vokabeln. Wer auf ihnen besteht, ist dafür rechenschaftspflichtig. Das pädagogisch-politische Dilemma könnte ich auch in den folgenden beiden Fragen ausdrücken: Wie kann ich die Friedlichkeit in der Lösung von Konflikten fördern, ohne dabei zugleich Zufriedenheit mit allem und jedem zu propagieren? Wie kann ich Gewalt, Friedlosigkeit, Unterdrückung, Armut, Ungerechtigkeit bekämpfen, ohne damit zugleich Unfrieden zu stiften? Pädagogen – wollen sie zum Frieden erziehen – müßten Antworten auf diese Fragen haben.
[089:31] 2.Intellektualisierung. Die Auszählung von Unterrichtsempfehlungen und -materialien zur Friedenserziehung in einer Matrix mit zwei Dimensionen – sozialer Nahraum versus Politik und Sachbezug versus Ichbezug – erbrachte, daß in 81 % der analysierten Texte die Thematik sich auf
Politik
im
Sachbezug
erstreckte (Nolting 1983, S. 119). Man darf das so lesen: 81 % der pädagogisch-praktischen Beiträge zur Friedenserziehung konzentrieren sich auf (oder favorisieren gar) intellektuelle Auseinandersetzung mit den Problemen, die in der politischen Öffentlichkeit entstehen (Der Autor nennt: Rüstung, Atomwaffen, Dritte Welt, Abschreckung, Gewaltfreie Aktionen, Widerstand, Bundeswehr, Kriegsdienstverweigerung, Feindbilder, Folter, soziale Ungerechtigkeit usw.): Probleme eines intellektuellen Unterrichts auf der Sekundarstufe II also, informierend und argumentierend. Das geht sehr in die Richtung dessen, was die zitierten CDU-Kultusminister wünschen, wenngleich ohne das dort verordnete ideologische Korsett.
[089:32] Nicht nur Kriege, sondern alle Arten gewalthaften Umgangs von Menschen miteinander machen Angst. Friedenserziehung didaktisch so organisieren zu wollen wie die Information über beliebige andere historische Gegenstände oder gar die Einführung einer neuen Rechnungsart, erscheint uns der Sache nicht angemessen. Wenigstens seit der Zeit und in denjenigen Kulturen, wo Zweifel an der Legitimität von Begriffen wie
falscher Friede
und
gerechter Krieg
auftauchten und gleichzeitig der
Prozeß der Zivilisation
(Elias) Platz griff, eine Modellierung der Affekte, wodurch aggressive Antriebe zunehmend stärker zurückgehalten wurden und unter Sanktionen gerieten, seitdem gibt es wenigstens die Frage, ob zwischen der Bereitschaft zu Kriegshandlungen und alltäglicher Aggressivität nicht ein Zusammenhang besteht. Dieser Gedanke ist insofern plausibel, als jener Zivilisationsprozeß einerseits die Ausübung alltäglicher (körperlicher) Gewalt unter Sanktionsdrohung stellt, andererseits die öffentliche Gewaltausübung staatlich monopolisiert hat. Der Delegation der Gewaltausübung an den Staat entspricht die Verdrängung des Gewaltthemas im Alltag. Das aber fördert dessen Intellektualisierung bzw. den rationalen Schein. Ein anschauliches Symptom dafür ist die pädagogisch wohlmeinende Verdammung von Spielzeug, in dem aggressive Handlungen symbolisiert sind, oder – etwa vor einem guten Jahrzehnt – die Versuche, Märchen mit aggressiver Thematik von Kindern möglichst fernzuhalten. Der Intellektualismus dieser pädagogischen Attitüde entspricht der Kultusminister-Meinung, Friedenserziehung auf Informationen über das Grundgesetz, internationale Verträge und die friedenssichernde Funktion der Bundeswehr zu beschränken: Beide Kon|a 184|zepte, so verschieden auch ihre inhaltlichen Interessen sein mögen, vertrauen darauf, daß eine Erziehung für den Frieden dann hinreichend sei, wenn die von den Erwachsenen vermuteten Regeln zur Herstellung eines friedlichen Verkehrs unter den Menschen den Kindern eingeprägt werden. Beide machen die Emotionalität aller Gewaltphänomene nicht zum Thema, sondern verleugnen sie.
[089:33] 3.Geschichte. Beide Komponenten, Intellekt und Emotion, verweisen auf Geschichte. Das gilt für die Geschichte der inneren und äußeren Kriege wie für die Geschichte des Umgangs der Menschen mit alltäglicher Gewalt und Gewaltphantasie. Eine schönfärberische Anthropologie, nach der die Bereitschaft zur Gewalttätigkeit nur von außen in den Menschen hineingebracht würde, würde zu einem schlechten pädagogischen Idealismus führen. Pädagogisch kann es deshalb nicht darum gehen, die Gewalt schlechterdings in den Kinderzimmern und Schulstuben zum Verschwinden zu bringen oder sie den Kindern auszutreiben, sondern darum, sie zum Thema zu machen. Das ist, wie wir von Norbert Elias und anderen wissen, ein langer und mühseliger geschichtlicher Prozeß – und es ist vor allem ein Problem der Bildung des Pädagogen selbst, seine Auseinandersetzung mit der eigenen Gewalthaftigkeit.
[089:34] Gewiß kann man mit derartigen Hinweisen heute Beifall finden. Aber sie können auch zu falschen Konsequenzen führen: eine pessimistische Anthropologie kann zur Rechtfertigung von Kriegen und Feindbildern, von innerstaatlicher Gewaltausübung auf ihrem gegenwärtigen Stand, von gewalthaften Formen des Umgangs mit Kindern dienen. Dieser Perversion können wir entgehen, wenn wir - nicht-pessimistisch – den Prozeß der Zivilisation für fortsetzbar halten. – Das mag diejenigen Pädagogen nicht befriedigen, die, von den aktuellen politischen Rüstungsentscheidungen fasziniert, partout das Problem, das sie als erwachsene Bürger dieses Staates haben, auch in ihre pädagogische Berufstätigkeit hineintragen wollen. Demgegenüber möchte ich geltend machen: die friedenspädagogische Geschäftigkeit beispielsweise in manchen Projekteinheiten und Friedenswochen dient weniger der Bildung der Kinder und Jugendlichen, sondern der politischen Stabilisierung der Bürger (Pädagogen), die so etwas veranstalten. Gerade damit aber leisten sie einen Beitrag zur Enthistorisierung der Problematik. Friedenserziehung wird es geben müssen, auch wenn die gegenwärtigen politisch-dramatischen Auseinandersetzungen längst vorbei sind, ganz unabhängig davon, wie die politischen Entscheidungen und Übereinkünfte aussehen mögen, d. h.: sie braucht eine lange Perspektive. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die Zukunft, sondern auch und zunächst im Hinblick auf unsere historische Selbstaufklärung. Sowohl die Steigerung der Angst vor dem Krieg auf eine vermutlich noch nie dagewesene Höhe als auch die Systeme öffentlichen und internationalen Rechts, die die Gefahr zu bannen versuchen, als auch unsere persönlichen Formen des alltäglichen Umgangs mit Gewaltphänomenen haben eine Geschichte. Deren pädagogisch wesentlicher Teil ist jener von Norbert Elias beschriebene
Prozeß der Zivilisation
, d. h. der Gewaltmonopolisierung und -kontrolle, und ist die psycho-soziale Geschichte des Verhältnisses von Erwachsenen zu Kindern, die es den Pädagogen auferlegt, die Perspektive des Kindes in das eigene Handeln aufzunehmen. Eben diese Geschichte der Naturbeherrschung am Menschen aber hat auch – das ist die
Dialektik der Aufklärung
– ihre Schattenseite hervorgebracht: das historische Dilemma, von dem wir nicht zuverlässig wissen, wie wir mit ihm fertig werden sollen.
[089:35] 4. Dieser Sachverhalt ist symbolisiert in dem Terminus, der in friedenspädagogischen Traktaten selten fehlt:
strukturelle Gewalt
. Daß es sie, so wie Galtung die Verwendung des Ausdrucks vorgeschlagen hat, gebe, will ich nicht bezweifeln. Wir finden sie überall |a 185|dort, wo – im Schatten des positiven Rechts und ohne unmittelbare Zerstörung physischer Unversehrtheit – Menschen
Gewalt angetan wird
, wie wir sagen; und wir meinen damit vor allem: Ausbeutung des Menschen, Armut, Indoktrination – kurz: Verhältnisse, in denen Menschen nur oder vorwiegend als Mittel Vorkommen, nicht als Zwecke. Allein: Was bedeutet dieses Anerkenntnis pädagogisch? Es bedeutet zuallererst anzuerkennen, daß es zunächst der erziehende Erwachsene selbst ist, von dem jene strukturelle Gewalt ausgeht, und zwar notwendigerweise. Es ist der Irrtum der sogenannten
Antipädagogik
, daß sich dieser Sachverhalt umgehen ließe. Die Komponenten dieser
Gewalt
sind mindestens (in den ersten Lebensjahren) die ungeheure körperliche Überlegenheit, die Nötigung, sich eines festgelegten Systems von Kommunikationsmitteln zu bedienen, und die Zumutung, sich auf eine strukturierte Dingwelt einzulassen. Darin ist der Zwang enthalten, die eigenen Antriebe in diesen drei Dimensionen zu regulieren. Pädagogen - sei es als Eltern, Erzieher, Lehrer oder einfach nur als Erwachsene - sind die Repräsentanten dieser pädagogisch-
strukturellen
Gewalt. Sie haben nicht die Wahl, sie abzuschaffen, jedenfalls solange nicht, als sie nicht auch Kultur abschaffen wollen. Sie haben indessen eine andere Wahlmöglichkeit: nämlich mit diesem Problem auf verschiedenen
moralischen Niveaus
umzugehen. Da also Versagungen, Verletzungen, Kränkungen notwendigerweise zum Prozeß des
Großwerdens
von Kindern gehören, formuliert Schmidbauer als erste friedenspädagogische Aufgabe,
die Verletzlichkeit des Menschen durch Versagung seiner Bedürfnisse ... und die daraus stammende Neigung zu narzißtischer Kränkung und zerstörerischer Wut anzunehmen und zu versuchen, Gegenkräfte zu wecken
(Schmidbauer 1982, S. 97)
; Schleiermacher nannte das
Unterstützen
statt
Gegenwirken
.
[089:36] Das sieht nun so aus, als sei von Friedenserziehung schon nicht mehr die Rede. Manche Autoren bevorzugen deshalb auch den Ausdruck
Friedfertigkeit
. Es ist aber die Frage, ob diese Thematik nicht doch den pädagogisch-originären Beitrag zur Friedenssicherung enthält. Ich möchte, nach dieser Sammlung von Problemkomponenten, in einer abschließenden Argumentation versuchen, einige Orientierungspunkte zu benennen, die mir für die Entscheidung jener Frage wesentlich scheinen.

4. Orientierungspunkte

[089:37]
Der Gegner soll nicht besiegt, vernichtet, unterworfen, gedemütigt werden; es gilt vielmehr, den Gegner für eine gemeinsame Rechtsauffassung und Konfliktlösung auf der Stufe der Gleichheit zu gewinnen
(E. Jahn 1983, S. 7)
. Diese Formel, so knapp sie ist und so abstrakt sie scheint, bezeichnet m. E. genau die Problemstellung, die – auf dem gegenwärtigen Stand historischer Entwicklung – für die Friedenserziehung das entscheidende Orientierungsdatum sein sollte. Die Formel hat überdies den Vorteil, daß sie sich nicht nur durch die Ergebnisse der Friedensforschung stützen läßt und auf politische Konfliktlösung zielt, sondern selbst schon Pädagogisches enthält: Sie läßt sich auch für
Gegner
und
Konfliktlösungen
im zwischenmenschlichen, besonders pädagogischen Alltag geltend machen, und sie enthält den Hinweis auf ein kognitives Schema, das als begriffliche Möglichkeitsbedingung, als Kompetenzbedingung in jedem republikanischen Bildungsgang eine Rolle spielen sollte. Dies und einige Randbedingungen für die pädagogisch-didaktische Realisierung möchte ich in der Form von Thesen erläutern:
  1. 1.
    [089:38] Seit Comenius gehören Allmachtsphantasien im Hinblick auf den überschaubar |a 186|gesellschafts- oder kulturverändernden Beitrag der Pädagogik zur Geschichte zum möglichen Repertoire von Pädagogen. Derartige Annahmen aber sind nicht nur empirische Illusionen, sondern enthalten schon eine begriffliche Verkennung. Da Erziehung dort endet, wo die Selbständigkeit des heranwachsenden Menschen erreicht ist, ist alle Erziehung auch nur Vorbereitung auf diesen Status des selbständigen und selbstverantwortlichen Bürgers. Nicht Kinder machen die Geschichte, sondern Erwachsene. Sollte diese Behauptung konsensfähig sein, folgt aus ihr: Die Instrumentalisierung von Kindern für politische Zwecke von erwachsenen Bürgern, und seien es Pädagogen, ist unstatthaft, weil dabei nicht das Interesse an der allmählichen Bildung von Selbsttätigkeit und Selbstverantwortlichkeit vorwalten würde, sondern eine bestimmte empirisch-politische Auslegung des Gebrauchs von Selbsttätigkeit, ihre historisch mögliche Gestalt bereits suggestiv vorwegnehmend. Derartiges geschieht, wenn 8jährige überredet werden, Pappraketen zu zersägen, oder wenn Kultusminister Friedenserziehung zu einer
    staatlichen Aktion zur Vereinheitlichung der Schülerauffassungen über Bundeswehr und Verteidigungspolitik
    (R. Wolff 1983, S. 174)
    stilisieren. Durch Erziehung und Unterricht darf also nur die Voraussetzung für friedenspolitisches Handeln gebildet werden.
  2. 2.
    [089:39] Es ist sofort einsichtig, daß damit dem Pädagogen ein überdurchschnittliches Maß an Selbstbeherrschung und Bildung abverlangt wird. Er wird sich, mit den ihm anvertrauten Kindern, weder auf das Niveau des vormaligen Bundesministers für Familie, Jugend und Gesundheit begeben dürfen noch auf das der Demonstranten, die den Austausch von Argumenten (beispielsweise in Loccum) gewalthaft verhindern, denn er hat nicht seine eigene, vielleicht riskante Position zu vertreten, sondern die Möglichkeit seiner Schüler, überhaupt erst zu einer selbst zu verantwortenden Position zu finden. Aus diesem Grunde ist pädagogisch nicht erst die Instrumentalisierung von Kindern zu politischen Zwecken unstatthaft, sondern bereits das unkritische Geltendmachen von geschichtlich-empirischen Prognosen, die zur Sicherung der eigenen (politischen) Positionen verwendet werden. Jede Art der politischen Beteiligung des Bürgers an zukunftsrelevanten Entscheidungen beruht u. a. auf derartigen und prinzipiell empirisch nicht zu sichernden Prognosen. (Im übrigen dient der Aufbau von Feindbildern dazu, diese Argumentationslücke zu schließen.) Das
    überdurchschnittliche Maß an Selbstbeherrschung und Bildung
    betrifft also sowohl die intellektuelle Fähigkeit, mit den Beständen unserer politischen Diskurse skeptisch umzugehen, wie auch die emotionale Fähigkeit, uns Feindbild-Verführungen zu versagen. Es wäre in solcher Situation hilfreich, wenn Kultusministerien den Lehrern bei dieser weiß Gott schwierigen Aufgabe behilflich wären; wenn schon die Erwartung, sie möchten ein Beispiel geben, gelegentlich zu hoch gegriffen scheint, sollten sie doch wenigstens vermeiden, pädagogische Unvernunft zu verordnen.
  3. 3.
    [089:40]
    Wenn politische Meinungen, wenn Vorwegentscheidungen über den Inhalt, den für die nachwachsende Generation der Gebrauch ihrer Selbsttätigkeit haben wird, wenn historische Prognosen über den mutmaßlichen Erfolg dieser oder jener politischen Strategie zur Friedenssicherung riskant sind: worauf dann kann sich friedenspädagogisches Handeln gründen? Meine Antwort: sie kann sich nicht auf politisch-empirisches Kalkül, sondern nur auf Prinzipien des pädagogischen Handelns gründen. Derartige Prinzipien sind freilich nicht zeitlos, sondern sind konsensfähige Regulative, die nur insofern gelten, als die Kultur, der sie entstammen, existieren will. Das bedeutet für unsere historische Situation folgendes:
    • Das pädagogische Feld, in dem Friedensfähigkeit vermittelt werden soll, muß diese selbst repräsentieren – und sei es als Insel in einem friedlosen Umfeld.
    • |a 187|
    • Die Widerstände, die die menschliche Natur dem sittlichen Willen zur Friedfertigkeit entgegensetzt, dürfen nicht geleugnet, sondern müssen zum Thema werden.
    • Die Sphäre des Rechts, deren Geschichte ein wesentlicher Teil des Zivilisationsprozesses ist, ist eine unverzichtbare Komponente der Sicherung von Friedfertigkeit. Die Bildung zur Rechtlichkeit ist deshalb auch ein wesentlicher Schritt im Rahmen der Friedenserziehung.
    • Indessen kann der sittliche Wille mit dem historischen Zustand des Rechts übereinstimmen, er muß es aber nicht. Die moralische Freiheit kann – folgt man Kant – den Rechtsbruch gebieten. Hinter der Legalität steht die Frage nach Legitimität des Rechts. Insofern, so sagte Kant, sei es
      Pflicht, den Zustand des öffentlichen Rechts, obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung wirklich zu machen
      , und sei
      der ewige Friede ... keine leere Idee, sondern eine Aufgabe
      , (vgl. dazu J. Habermas 1983 und H. Blankertz 1984).
      Die Verfassung (und darüber hinaus das positive Recht überhaupt) muß aus Prinzipien gerechtfertigt werden können, deren Gültigkeit nicht davon abhängig sein darf, ob das positive Recht mit ihnen übereinstimmt oder nicht
      (Habermas, a.a.O.)
      . Unter der historischen Bedingung unserer Demokratie ist ein reifes politisches Urteil eines, das die Differenz zwischen Recht und Sittlichkeit in sich aufnehmen kann. Die Bildung dazu schulden wir der jungen Generation.
  4. 4.
    [089:41] Beziehen wir derartige Prinzipien auf die Praxis der Bildung, dann sind wir zu einer altersgemäßen Differenzierung genötigt. Ich möchte als erste und wichtigste Differenzierung vorschlagen, zwischen drei Stadien des Bildungsprozesses zu unterscheiden. Für das erste Stadium soll gelten, daß das Handlungs- und Lernfeld eine Struktur hat, die dem Kinde eine zwanglose Balance zwischen seinen gewalthaften Antrieben und Phantasien, den Regeln des zwischenmenschlichen Verkehrs und dem symbolisierenden Spiel mit Dingen erlaubt. Für das zweite Stadium soll gelten, daß hier die Aufgabe entsteht, die Handlungsorientierungen über primäre Bezugspersonen hinaus auszuweiten, soziale Rollen und Interessen nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch, im Sinne der Anerkennung von verallgemeinerungsfähigen Regeln, an Gesetze zu binden. Es handelt sich mithin um jene Stufe im Prozeß der Zivilisation, auf der die Wahrnehmung eigener Interessen durch legalisierte Einschränkung aggressiver Handlungen kontrollierbar gemacht wird. Im dritten Stadium schließlich kann bei den Kindern/Jugendlichen ein kognitives Repertoire unterstellt werden, das eine Urteilsbildung in der Abwägung von Legalität und Legitimität, von Völkerrecht und Sittlichkeit, von Geschichte und System erlaubt. Erst hier ist die Erziehung zur Friedensfähigkeit politische Bildung im engeren Sinne. Ein Unterricht, der die politische Problematik des Friedens in der geschichtlichen Welt zum Gegenstand hat, wäre erst auf dieser Stufe anzusiedeln.
[089:42] Erziehung und Unterricht – das ist in diesem an der kognitivistischen Entwicklungstheorie orientierten Stufenmodell enthalten – bedeuten notwendig, damit überhaupt etwas gelernt, etwas Neues in Erfahrung gebracht werden kann, Verfrühungen, Vorwegnahmen dessen, was das Kind noch nicht kann, aber im nächsten Schritt sich wird aneignen können. Friedenserziehung wird deshalb immer dann zu verantworten sein, wenn der pädagogisch dargebotene Erfahrungsschritt ein Stück näher an die komplexe Friedensproblematik unserer Tage heranreicht. Günter Schreiner hat kürzlich die kognitivistische Theorie moralischer Entwicklung durch eine gestufte Abfolge sozialer Erfahrungsräume ergänzt und korrigiert (Schreiner 1983), und zwar so, daß die Sozialräume, die das Kind im Regelfall nacheinander durchläuft, ihm immer komplexere Interaktionsleistungen abverlangen. Moralische Auto|a 188|nomie gibt es in diesem Modell nicht erst am Ende des Bildungsprozesses, sondern – in je besonderer Form – in jedem der durchlaufenen Räume. Auf ein friedenspädagogisches Curriculum übertragen bedeutet dies, daß auch friedensrelevantes Verhalten und Urteilen auf allen Stufen, in allen Sozialräumen möglich ist, wenngleich auf verschiedenen Stufen von Komplexität. Jeder neue soziale Raum stellt für das Kind eine Herausforderung dar, auf die es mit einer selbsttätigen Leistung antworten muß.
Damit werden viele Pädagogen von der Zumutung befreit, die Adressaten ihrer erzieherischen Bemühungen als moralisch (oder im Hinblick auf die Probleme eines Lebens in Frieden) Unterentwickelte betrachten zu müssen, denen vielleicht nicht einmal eine Ahnung von ... Selbstbestimmung vermittelt werden kann. Vielmehr können sie sich ... als ... Entwicklungshelfer betrachten, die die ihnen an vertrauten Heranwachsenden dabei unterstützen, immer neue soziale Räume moralisch (und politisch) zu erobern
(ebd., S. 238)
.
[089:43] Das bedeutet in einer handlichen Alternative und vorsichtig formuliert: Das Verhalten des pädagogischen Aktivisten, der die ihm anvertrauten Kinder so früh wie möglich zu öffentlich-politischen Handlungen zu stimulieren versucht, ist pädagogisch schwer, wenn überhaupt, zu rechtfertigen, ebenso wie eine pädagogische Haltung, die die politische Herstellung des Friedens am liebsten ganz aus der Schule verbannen möchte. Eher rechtfertigungsfähig ist dagegen ein politisches Konzept, das sich an der jeweiligen Erlebnis- und Verständnisfähigkeit des Kindes orientiert und sich einen sorgfältigen Begriff von den vielen Bildungsschritten zu machen sucht, die zur Friedensfähigkeit hinführen können. Das ist vielleicht eine triviale Pointe – aber sie ist folgenreich.

Literatur

    [089:44] Becker, E. u. a.: Erziehung zur Anpassung? Schwalbach 1967
    [089:45] Bethge, H.: Wir planen eine Friedenswoche, in: WPB Jg. 1982, S. 102 ff.
    [089:46] Blankertz, H.: Kants Idee des ewigen Friedens und andere Vorträge, Wetzlar 1984
    [089:47] van Dick, L.:
    Haben wir heute etwa schon wieder Frieden?
    , in: WPB Jg. 1982, S. 98 ff.
    [089:48] Elias, N.: Der Prozeß der Zivilisation, Basel 1939
    [089:49] Giesecke, H : Didaktik der politischen Bildung, München 1965
    [089:50] Grewer, U.: Planung und Durchführung einer Projektwoche in der Gesamtschule Leverkusen, in: WPB Jg. 1982, S. 308 ff.
    [089:51] Habermas, J.: Ungehorsam mit Augenmaß, in: DIE ZEIT Nr. 39, 23. 9. 1983
    [089:52] Huschke-Rhein, R. B.: Das Problem einer wissenschaftstheoretischen Begründung der Friedenspädagogik, in: Pädagogische Rundschau, Jg. 1981, S. 307 ff.
    [089:53] Jahn, E.: Gewaltfreier Widerstand im Nachrüstungsherbst, Ms. 1983
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    [089:55] Litt, Th.: Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes, Bonn 1954
    [089:56] Lüers, U. u. a.: Selbsterfahrung und Klassenlage, München 1971
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    [089:58] März, F. (Hg.): Soziale und politische Erziehung, Bad Heilbrunn 1970
    [089:59] Nicklas, H./Ostermann, Ä.: Überlegungen zur Ableitung friedensrelevanter Lernziele, in: Zur Zielproblematik in der Pädagogik, hg. von M. Benden, Bad Heilbrunn 1977
    [089:60] Nolting, H.-P.: Friedenserziehung ist mehr als Friedenskunde, in: Die Deutsche Schule, Jg. 1983, S. 113 ff.
    [089:61] Popp, W.: Ansätze zu einem Curriculum der Friedenserziehung, in: WPB Jg. 1982, S. 102 ff.
    [089:62] Röhrs, H. (Hg.): Friedenspädagogik, Frankfurt/M. 1970
    [089:63] Schmidbauer, W.: Faszination der Gewalt und die Erziehung zur Friedfertigkeit, in: WPB Jg. 1982, S. 94 ff.
    [089:64] Schreiner, G.: Moralische Entwicklung als dialektische Bewegung, in: Bildung und Erziehung, Jg. 1983, S. 227 ff.
    [089:65] Wolff, R.: 7 Thesen über die Erziehung zur Friedfertigkeit. Hilflose Gewaltkritik, in: Anregungen für den Ernstfall, 1983, S. 172 ff.
    [089:66] Wulf, Chr. (Hg.): Friedenserziehung in der Diskussion, München 1973