„The Joy of Art“ : Vergnügen als Bildung? [Textfassung a]
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The Joy of Art
: Vergnügen als Bildung?

[V62:1] Man sagt, daß die Auseinandersetzung mit Kunst, oder auch nur das Vernügen an ihr, eine Komponente bourgeoiser Lebensformen, ein Attribut des
Bildungsbürgertums
, ein Privilegierungsprodukt sei. Dem steht neuerdings entgegen, daß auch
linke
Verlage und Autoren Argumentationen lieben, die sich des ästhetischen Diskurses bedienen, sei es nur als Illustration, sei es als Quelle für die Deutung von Vergangenheit und Gegenwart.
[V62:2] Das hat eine bedenkliche und eine erfreuliche Seite: bedenklich ist diese neue Kunstliebe, sofern sie sich – wie bei vielen Ausstellungen des letzten Jahrzehnts zu beobachten – in einer Variante des bürgerlichen Massentourismus niederschlägt, der eher eine Flucht aus den Problemen der Gegenwart anzeigt, Nostalgie, Beschaulichkeit. Beschaulichkeit ist etwas anderes als Anschauung; jene verfestigt nur die Barrieren zwischen den Klassen, diese könnte sie durchbrechen. Das ist die eher erfreuliche Seite der neuen Mode – besonders pädagogisch: eine neue Sensibilisierung des Auges, das nicht nur
gefräßig
(Mattenklott), sondern auch anschauend ist und darin der Bildung des Ich, gleich welchen Standes, dienlich sein könnte. Aber was – aus der ganzen Szenerie der bildenden Kunst – soll man Schülerinnen und Schülern präsentieren, in welcher Auswahl, in welcher Absicht, in welchen curricularen Zusammenhängen?
[V62:3] Kunsthistoriker lassen sich in der Regel durch derart didaktische Fragen nicht beirren. Aber sie können uns, gerade durch die Sturheit ihrer fachwissenschaftlichen Attitüde, auch belehren. Beides ist der Fall in einem neuen Buch von David Piper (1)
(1)David Piper: Faszination Malerei. Kunstwerke sehen und verstehen, Braunschweig 1985
. Der Originaltitel (
The Joy of Art
) trifft die Sache besser als der deutsche (
Faszination Malerei
). Das Buch ist wirklich nur zum Vergnügen des Laien geschrieben; nicht aber für die, die die Bildinterpretationen fachlich zu beurteilen vermögen (das wäre ohnehin nur eine verschwindend kleine Minderheit). Das Buch will also ein Bildungsbuch sein, für ein – im Sinne der Massenmedien durchaus funktional – diffus angenommenes Publikum. Was also trägt es bei zur Bildung der Kinder und Jugendlichen, was trägt es bei zur Bildung der Lehrer und Erzieher? Nun: Auf den ersten Blick scheinbar ziemlich viel! Auf knapp 150 Seiten wird man, ohne großen theoretischen Aufwand, aber mit reichhaltigem historisch-vergleichenden Bildmaterial, in die wesentlichen Themen, in die formalen Gestaltungsprobleme und in die verschiedenen Maltechniken eingeführt. Die knappen und immer konkreten Skizzen – thematisch beispielsweise über die
menschliche Gestalt
,
Arbeit
,
Muße
,
Die Erzählung
,
Allegorie, Mythos, Phantasie
; im Hinblick auf Gestaltungsprobleme beispielsweise
Maß und Raum
,
Perspektive
,
Bewegung
,
Licht und Schatten
,
Eigenschaften der Farbe
; im Hinblick auf Techniken beispielsweise
Temperamalerei
,
Wandmalerei
,
Pastell und Guasch
,
die Zeichnung
– lesen sich wie Miniaturskizzen für Unterrichtsvorbereitungen, wenngleich auf einem eher bescheidenen Niveau und ausschließlich in Rücksicht auf die Sach- oder Inhalts-Komponente didaktischer Bemühungen. Für den Kunstunterricht ist das wohl zu wenig; für den aber, der im Rahmen anderer Fächer oder Projekte hin und wieder auch Produkte der europäischen Malerei zu Rate ziehen will, mag es als Anregung dienen.
[V62:4] Die zweite Hälfte des Buches enthält 47 kurze Bildinterpretationen von Werken des 12. bis 20. Jahrhunderts. Hier ist nun doch die Perspektive, die fast ausschließlich vom Vergnügen des Autors an den von ihm ausgewählten Bildern bestimmt ist, allzu eng. Vor dieser Art |a 459|von Kunstbetrachtung wäre in bildungstheoretischem Interesse eher zu warnen. Wenn die ästhetische Erfahrung nicht nur auf ein Unterrichtsfach beschränkt bleiben, sondern als eine Dimension des Bildungsbegriffs begriffen werden soll – wie es wohl Schiller und Humboldt, Benjamin und Adorno vorschwebte dann müßten doch wohl Wege gefunden werden, die die ästhetischen Produkte dichter in die Geschichte der neuzeitlichen Gesellschaft einfügen, als das hier geschah. Diese Wege sind seit ca. 15 Jahren halbwegs gebahnt: Trotz Ginzburgs (2)
(2)Carlo Ginzburg: Erkundungen über Piero, Berlin 1981
minutiöser ikonographischer Rekonstruktion des Bildes entgeht Piper der politische Sinn von Piero della Francescas
Geißelung
; von den sozialgeschichtlichen Studien zur Renaissancemalerei etwa Baxandalls (3)
(3)Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder, Frankfurt/M. 1977
oder Burkes (4)
(4)Peter Burke: Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung, Berlin 1984
macht er keinen Gebrauch; daß Giorgione in dem Bild
Gewitter
(wie auch in anderen) einen humanistischen Säkularisierungs-, ja Emanzipationsschritt aus dem christlichen Mythos gelingt – Settis (5)
(5)Salvatore Settis: Giorgiones Gewitter. Auftraggeber und verborgenes Sujet eines Bildes in der Renaissance, Berlin 1982
, hat das überzeugend gezeigt –, entging ihm; daß Goya an der Dialektik der Aufklärung litt, erfährt man nicht; Max Beckmann scheint in seinen Bildern nur individuelle Erlebnisse zu verarbeiten; daß Piet Mondrian und die Künstlergruppe
De Stijl
, darin dem Bauhaus verwandt, Sozialrevolutionäre Intentionen verfolgten, scheint ihm unwichtig; immerhin aber nötigen die schreckenerregenden Bilder Francis Bacons ihn zu einer Erwähnung der
Gaskammern
. Alles in allem also: eine Präsentation ästhetischer Objekte im Sinne
affirmativer
Kultur (Marcuse); das Gute und Schöne soll man genießen; die Wahrheit des Schrecklichen oder der Schrecken der Wahrheit verblaßt zu persönlichen Eindrücken der Maler. Kaum eine Spur davon, daß die meisten der vorgestellten 47 Maler dem Weg der neuzeitlichen Zivilisation/Kultur harte Argumente, wenngleich in Bildern, entgegensetzten!
[V62:5] Adorno nannte das
Halbbildung
(6)
(6)Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt/M. 1980
. Die affirmativen Formen des Umgangs mit Kunst, die im elitären Milieu der Colleges in Oxford, wo Piper lehrt, noch ihren Ort haben mögen, treten, popularisiert, aus diesem Ort heraus und in das Medium der Massenkommunikationen hinein:
100 Meisterwerke
als Fernsehserie (Piper war daran prominent beteiligt), je 10 Minuten für ein
Meisterwerk
. Das Buch Pipers hält exakt diese Zeitnorm ein. Und in diesem Rahmen (ein Buch ist ja wohl, immer noch, etwas anderes als ein Fenseh-Feature!) geht dann natürlich manches verloren – oder auch: die Buchform macht peinlich offenbar, wie dürftig, die Argumentation betreffend, das
Feature
war. Darin wird auch etwas über
Bildung
deutlich, wie Adorno zu Recht annahm. Wenn nämlich Bildung mehr sein soll als eine Einstimmung in den Zeitgeist und in die überlieferten Kulturprojekte, mehr oder anderes als die Transformation curricularer Projekte in das Innenleben des Schülers, sondern eine Verarbeitung der kritischen Gehalte kultureller Überlieferung in eine zukunftsfähige Gestalt der sich bildenden Person, dann müßte gerade an den künstlerischen Objekten gezeigt werden, wie ihre Produzenten aus dem gesellschaftlichen Leiden je eine Utopie hervorbringen, wenngleich gelegentlich – wie bei Goya oder Beckmann – als deren schmerzhaftes Gegenbild. (7)
(7)Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1983; dort vor allem S. 343 ff.
Der ästhetische Diskurs – so denke ich – ist gelegentlich ein, für die je herrschende Kultur, höchst peinlicher Kommentar zu dem, was geschieht, was gesellschaftlich der Fall ist.
[V62:6] Läßt sich daraus pädagogisch irgend etwas folgern? Zwei Irrwege lassen sich leicht ausmachen. Der eine verläuft über die Gewohnheiten des bürgerlichen Kulturbetriebs, über das anschauende bloße Vergnügen, das sich einen Ausweg aus dem
zerrissenen Bewußtsein
(Hegel) sucht; der andere verläuft über die kontrastierende soziologische Meinung, Kunstwerke müßten in den Bildungsprozeß derart eingeordnet werden, daß man sie als Waren auf dem bürgerlichen Markt entschlüsselt, ideologiekritisch, als historisch und ökonomisch relativ, als Attribute der Herrschaft,
Waren-Ästhetik
also. Die einen vergessen |a 460|den gesellschaftlichen Ort, den auch Kunst immer und notwendigerweise hat; die anderen sehen nicht, daß jedes ästhetische Produkt, wie auch immer sein Markt-Wert sein möge, einem geistigen Gütekriterium unterworfen ist, das die Markt-Moden und Börsen-Notierungen überdauert.
[V62:7] Der Pädagogik oder der Bildungstheorie ist also auferlegt, einen dritten Weg zu finden. Der Komponist Anton Webern hat ihn, in einer radikalen Formel, angedeutet:
Das vollendete Kunstgebilde hat keinen Bezug zum Menschen, außer dem, daß es ihn übersteht
(8)
(8)H. Moldenhauer: Weberns letzte Gedanken, in: Melos, Jg. 1971
. Die gelegentlich bis zum Wahnsinn gesteigerte Kraftanstrengung, auf die diese Formel verweist, ist freilich auf den Hersteller von Kunst gemünzt, nicht auf den, der als Rezipient sich bildend mit ihr auseinandersetzt. Aber auch bei diesem wird, so vermute ich, die Bildungsbewegung nur dann ein kritisches Bewußtsein hervorbringen, wenn er sich mit der Güte des ästhetischen Gegenstandes und zugleich mit dessen Bedingungen, gegen die er geltend gemacht wird, auseinandersetzt. Am Ende seines Buches zitiert Piper van Gogh:
Ich kenne noch keine bessere Definition von Kunst als diese: Die Kunst, das ist der Mensch hinzugefügt zur Natur, die er entbindet, die Wirklichkeit, die Wahrheit und doch mit einer Bedeutsamkeit, die der Künstler darin zum Ausdruck bringt; auch wenn er Ziegelsteine, Granit, Eisenbarren oder die Bögen einer Brücke zeichnet, ... die kostbare ans Licht gebrachte Perle, die menschliche Seele.
Das klingt so, als habe van Gogh seine Kunst aufs Erbaulich-Affirmative reduzieren wollen; der Gesamttext der Briefe an seinen Bruder zeigt, daß diese Lesart eine Fälschung wäre. Artaud ist der angemessenen Deutung wesentlich näher, schon durch den Titel seines Essays
Van Gogh – Selbstmörder durch die Gesellschaft
(9)
(9)Antonin Artaud: Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft, München 1979
.
[V62:8] Bildend ist die Auseinandersetzung mit Kunst also nur insofern – wenn wir denn an dem kritischen Gehalt des Bildungsbegriffs von Humboldt bis Adorno festhalten wollen –, als die in einer Bildformel vom Künstler gefundene Opposition zum Gesellschaftlich-Faktischen rekonstruiert wird, ohne deren historische Abhängigkeit zu leugnen. Wie eine solche Rekonstruktion vorgenommen werden könnte, hat Adorno für die Musik, hat beispielsweise Hofmann für ein Bild Manets (10)
(10)Werner Hofmann: Edouard Manet. Das Frühstück im Atelier, Frankfurt/M. 1985
, Asendorf für das 19. Jahrhundert insgesamt (11)
(11)Christoph Asendorf: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen 1984
oder Verspohl für ein Environment von Beuys (12)
(12)Franz-Joachim Verspohl: Joseph Beuys. Das Kapital Raum 1970–77, Frankfurt/M. 1984
gezeigt. Man sieht dann, daß der ikonische Diskurs, wo er den anspruchsvollen Güterkriterien der Kunstproduktion genügt, zeitkritische Diagnosen stellt, die den philosophischen oder soziologischen ebenbürtig sind. Das von Hofmann interpretierte Bild Manets etwa (
Frühstück im Atelier
) ist, drei Generationen vor den Analysen Watzlawicks, eine kritische Präsentation der Kommunikationsdilemmata, in die die moderne Zivilisation hineinsteuert. Das von Verspohl interpretierte Environment
Das Kapital Raum
von Joseph Beuys ist eine Kritik und zugleich ein Projekt der Sinnestätigkeit des Menschen, ein Subjektivitäts-Diskurs.
[V62:9] Man sieht schon (ohne daß ich das hier weiter ausführe): Die bildende Auseinandersetzung mit Kunst ist weit mehr als
Kunsterziehung
. In einem sektionierten
Fach
ist sie nicht unterzubringen; zu Geschichte, Sprache und Gesellschaft gehört sie ebenso. Sie auf sich selbst, als gleichsam rein ästhetische Thematik, auf ein Fach zu beschränken, wäre selbst ein Beitrag zur
affirmativen Kultur
und damit zu jenen
bildungsbürgerlichen
Vorstellungen von Kunst, die vor Marcuse und Adorno schon Nietzsche aufs Korn genommen hatte. Ein Lehrer, der die Stilleben (
Nature morte
) Chardins (15 Jahre vor Rousseau) oder die Schreckensbilder Bacons (am Beginn der
Postmoderne
in den letzten Jahrzehnten) als Zeugnisse der Dialektik bürgerlicher Revolutionen zu deuten verstünde, würde der Realisierung eines kritischen Bildungsbegriffs wohl einen recht guten Dienst erweisen.