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Der Leib, die Dinge und die Beziehungen
[096:1] Im Einladungsschreiben zu dieser Tagung wird die Erwartung
ausgedrückt, daß die Referenten
“weiterführende
Antworten”
für die Heilpädagogik der Gegenwart geben. In dieser
Erwartung ist – wenn ich recht verstanden habe – die vorsichtige Vermutung
enthalten, daß die materiellen Komponenten unserer Zivilisation und das, was
der Entwicklung des Kindes dienlich ist, nicht mehr recht zueinander passen
könnten.
“Weiterführen”
könnte eine Antwort, in diesem
Sinne, dann, wenn in ihr die Differenzbehauptung überprüft, ihr historischer
Ort bestimmt, eine neues Niveau kultureller Balance angezielt würde. Das
ist, im Einladungstext, in den Ausdrücken
“Menschenbild”
,
“Kindeswohl”
, Übereinstimmung des Redens mit dem Handeln" angedeutet. Ich fürchte, daß ich derartigen Erwartungen nicht
entsprechen kann.
[096:2] Mein Beitrag zu der aufgeworfenen Frage nach dem Zustand und der
Zukunftsfähigkeit unserer pädagogischen Kultur wird also eher indirekt sein:
Ich möchte mir – und hoffentlich auch Ihnen – ein wenig mehr Klarheit
schaffen über ein fundamentales Problem jedes Erziehungs- und
Bildungsvorgangs: Wie sind die Verhältnisse zwischen dem Leib, den
Gegenständen seiner Tätigkeit und den persönlichen Beziehungen, den
“Interaktionen”
, zu denken? Das ist freilich eine alte
Frage, die Platon und Augustinus, Montaigne und Comenius, Pestalozzi und Schleiermacher, Georg Simmel und Sigmund Freud, usw. beschäftigt
hat. Sie in direktem Zugriff anzugehen, scheint vermessen oder naiv. Da
indessen die Antworten, je nach historischem Plateau, anders ausfielen, ist
vielleicht eine derartige Naivität, für die Dauer eines Vortrags,
erlaubt.
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1. Die Problemstellung
[096:3] Die Routinen der praktisch-pädagogischen Arbeitsteilung in der
Spezialisierung nach Fächern und Jahrgängen, nach Graden von
Lernschwierigkeiten, nach prognostizierten Begabungen oder Berufsaussichten,
nach Arten von Therapien, usw. sind den Routinen unseres Denkens über
pädagogische Sachverhalte homolog. Wir haben nicht nur Grundschul-,
Hauptschul-, Gymnasial- und Sonderschultheorien, nicht nur verschiedenerlei
Lerntheorien, Theorien über Spiel-, Arbeits-, Beschäftigungs-,
Gesprächs-Therapien, sondern auch solche Theorien, die sich jeweils nur mit dem
“Kopf”
, nur mit den Antrieben, nur mit
Interaktionen befassen. Diese Spezialisierung hat innerhalb der Forschung
einen guten Sinn. Interessiert uns indessen das pädagogische Handeln, dann müssen wir nach Formen der Reflexion
suchen, die den Sinn der Praxis nicht analytisch auflösen in mannigfache
theoretische Einzelprobleme, sondern ihn, obwohl nun reflektiert, bewahren.
Ich will das am Beispiel der Bedeutung von Leib, Ding und Beziehung für die
Bildung des Kindes erläutern.
[096:4] Der Pädiater Alfred Nitzschke erzählt den folgenden Fall aus seiner klinischen
Praxis:
[096:5] Zweieinhalb Jahre alt, erlebt ein Junge, wie die Wohnung der
Familie vollständig niederbrennt. Die Familie bezieht eine Notwohnung; das
Kind aber wird schreckhaft, schreit des Nachts, ißt nicht mehr, bekommt
Fieber, bricht seine sozialen Kontakte mehr und mehr ab, eilt tagsüber zu
der Brandstelle, sagt:
“ich will heim”
. Die Symptome verstärken sich, bis eine Klinikeinweisung unerläßlich scheint. Scheinbar wieder gesund, kehrt das Kind nach Hause zurück und kehren auch die Symptome wieder. Das wiederholt sich zwei oder drei Mal, bis jemand einen, wie sich später herausstellt, genialen Einfall hat: Der Arzt (oder jemand anders) schenkt dem Kind in der Klinik einen hölzernen Kinderstuhl. Bald werden beide unzertrennlich. Schließlich kehrt das Kind mit seinem Stuhl in die Familie zurück, und die Symptome verschwinden endgültig.
[096:6] Das Brand-Unglück traf das Kind in einem Alter, in dem es sich noch
mitten in den elementaren
“Abgrenzungsleistungen”
befand.
Diese Leistun|a 10|gen bestehen – wenn ich das hier kurz in
Erinnerung rufen darf – vor allem darin, daß das Kind, jedes Kind, den seelischen Selbststand nur dadurch erwirbt, daß es
sich aus den ursprünglich symbiotischen
“Verschmelzungen”
löst. Das geschieht vor allem nach drei Richtungen hin: es lernt, seinen
Leib gegen den anderen abzugrenzen; es lernt, den Dingen gegenüberzutreten
und deren eigentümliche Qualität von den eigenen Phantasien und
symbolisierenden Projektionen zu trennen; und es lernt – vor allem über die
Sprache – sein individuelles
“Ich”
von dem
gemeinschaftlichen
“Wir”
und d.h. die Seele vom Geist zu
unterscheiden. Jede Kultur muß, auf die eine oder andere Weise, dieses
Menschheitsproblem lösen, das in jedem kleinen Kinde sich immer wieder neu
stellt.
[096:7] Mitten in dieser labilen Phase der Menschwerdung bricht nun also,
in dem referierten Fall, jener Brand in das Leben des kleinen Jungen ein. Er
wird verstört und
“therapiebedürftig”
, obwohl an den
familialen Beziehungen nicht das Mindeste auszusetzen war. Man kann es sich
kaum anders erklären, als so, daß der totale Verlust der gerade vertraut
werdenden Dingwelt aus dem Insgeamt der Ich-Abgrenzungen einen Teil herausbrach, der nicht, etwa im
Vergleich zu den Mutter-Kind-Beziehungen, zweitrangig ist, sondern
gleichgewichtig. Veränderungen an einer Stelle bringen
das Ganze durcheinander. Was für die Störung gilt,
gilt auch für die Heilung. Der Kinderarzt, ohne daß er sein Beispiel mit
einer entsprechenden Theorie kommentierte, hat es geahnt, als der dem Kind
einen Stuhl schenkte. Der Stuhl nämlich repräsentierte ziemlich genau jene
drei Abgrenzungsleistungen: Er ist ein Mittel zur Abgrenzung gegen den Leib
der anderen; er ist ein Ding, das durch seinen
“Werkzeug”
-Charakter nützlicher, von Phantasien relativ unabhängiger
Gegenstand ist, aber auch spielerische Verwendung erlaubt; als
“nützlicher”
Gegenstand erlaubte er dem Kind – er trug
ihn in der Klinik dauernd mit sich herum, um sich immer zu der Gruppe setzen zu können, bei der er gerade sein wollte – sich
dem
“Wir”
zuzuordnen und dabei zugleich
“bei sich”
zu bleiben. Der Leib, die Dinge und die Beziehungen
(Interaktionen) stehen offenbar in einem Sinn-Kontinuum.
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Die Hand
[096:8] Im Unterschied zu dem, was in der gegenwärtigen Diskussion
Konjunktur hat, nämlich Körpererfahrungen einerseits und Kommunikations- und
Beziehungsprobleme andererseits in den Vordergrund der Aufmerksamkeit zu
rücken, möchte ich, in dem Dreieck von Leib, Ding und Beziehung, das
“Dingliche”
im menschlichen Bildungsprozeß stärker
hervorheben, als es üblich ist. Ich versuche das zunächst auf dem
anthropologischen Weg über die Bedeutung der Hand.
[096:9] Wenn in der Pädagogik von der
“Hand”
die Rede
war oder ist, dann ist das in der Regel entweder eine Metapher (wie in Pestalozzi’s Trinität von
“Kopf, Herz und Hand”
)
für die sinnlich bestimmten Bildungsvorgänge, oder es
drückt sich darin ein Antiintellektualismus aus, der das
“Praktische”
gegenüber dem
“Theoretischen”
favorisieren möchte, oder es zielt auf die
historischen Resultate der Arbeitsteilung (sei es affirmativ, sei es
kritisch). Man kann nun aber hinter dieser Art pragmatischer
Problemstellungen gleichsam noch einen Schritt zurückgehen und fragen, ob
nicht vielleicht der Hand im Bildungsprozeß des Menschen überhaupt eine fundamentale Bedeutung zugesprochen werden muß.
[096:10] Was geschah oder geschieht beim paläontologischen Übergang von der
Anthropoiden zum Menschen oder in jenen Wochen beim Kind, wenn beide sich
aufrichten und beginnen, auf zwei Beinen zu stehen und zu gehen? (Der
Vorgang ist trivial, jeder kennt ihn, ich geniere mich fast, ihn zu
zitieren, aber er ist folgenreich, und es ist vielleicht nicht überflüssig,
daran zu erinnern). Der Oberkörper streckt sich, der Blick geht in die
Horizontale, ergreift auch das Fernliegende,
“staffelt”
also den Raum, und der Gesichtssinn übernimmt fortan die Führung. Vor allem
aber entsteht nun, in der klassischen Formulierung des Anthropologen H. Pleßner, das
“Auge-Hand-Feld”
: die Hand
“vermittelt”
zwischen den vom Blick erfaßten Dingen im Raum und dem
eigenen Leib. Wenn vorher noch, etwa im Säuglingsalter, die Hand in der
Bewegung des Greifens und zum-Munde-Führens der Dinge nichts als eine
“Verlängerung”
des egozentrischen Leibes war, wird sie
nun zum
“Werkzeug”
dezentriert: sie führt Dinge nicht nur
heran, sondern schiebt sie auch weg, beginnt, Gegenstände zu bear|a 12|beiten, kann, vom Auge geleitet, die Dinge im Raum
arrangieren. Im Zusammenspiel von Auge und Hand bildet sich
Erkenntnisvermögen. Die beiden Metaphern, die unsere Sprache für Erkenntnis
hat, treffen den Sachverhalt ziemlich gut:
“Einsehen”
und
“Begreifen”
. Das Auge richtet den Leib auf das Fernste, der
Tastsinn auf das Nächste. Die Hand vermittelt zwischen beiden.
[096:11] Die anthropologische oder Bildungsbedeutung der Hand bleibt aber
nicht nur auf den Leib und die Dinge beschränkt. Die Hand ist nicht nur
“Werkzeug”
oder
“Arbeitshand”
, nicht
nur Organ des gegenständlichen
“Begreifens”
. Die
besondere Organisation der differenziert beweglichen Fingerglieder, vor
allem die Anordnung der Muskeln, der weit abspreizbare Daumen, machen sie
zwar zu einem hervorragenden Werkzeug, das in der Lage ist, wiederum weitere
Werkzeuge zu erzeugen. Aber die Hand ist ebenso
“Gesprächshand”
, ein Organ, das zu den intimsten Formen der Empathie
und des Verstehens taugt. Die Gesten der Begrüßung, des Segnens, des
Streichseins, Handkuß und Händedruck, die in kommunikativ schwierigen
Situationen verborgenen Hände, die Scheu kleiner Kinder, einem Fremden
spontan die Hand zum Gruß zu reichen, machen diesen Sachverhalt alltäglich
erfahrbar. Im Hinblick sowohl auf Naturbearbeitung als auch auf Regulierung
der menschlichen Beziehungen hat die Hand eine Schlüsselrolle inne. Sie
vermittelt zwischen Augensinn und Tastsinn, Ferne und Nähe, Gegenständen und
Beziehungen, Einsehen und Begreifen, Außen und Innen.
[096:12] Es gibt die physiologische Hypothese, daß die Art, in der sich
unser Zentralnervensystem im Laufe der Evolution verändert hat, an die
Tätigkeiten der Hand gebunden ist. Naturgemäß gilt das nicht nur für die
Geschichte der Gattung, sondern auch für jeden einzelnen Fall. Man mag sich
deshalb, wie der französische Anthropologe Leroi-Gourhan, die Frage stellen, was aus der
menschlichen Intelligenz werden könnte, wenn die Hand nur noch dazu
verwendet wird, auf Knöpfe zu drücken. Stellen wir überdies in Rechnung, daß
– wie ich knapp zu erläutern versuchte – die Hand als ein eigentümliches
Zwischenorgan beständig zwischen unserem Leib, den Dingen und unseren
persönlichen Beziehungen vermittelt, dann |a 13|ist es
überraschend, daß wir zwar mit der pädagogischen Literatur über Affekte,
Kognitionen und Interaktionen ganze Bibliotheken füllen können,
pädagogisch-systematische Studien über die Bildungsbedeutung der Hand aber
in eine Aktentasche passen.
3. Dinge
[096:13] Der Vernachlässigung der Hand – das gilt allerdings vornehmlich
nur für die im engsten Sinne theoretische Literatur; in Berichten aus der
Praxis, besonders über kindertherapeutische Erfahrungen, sieht das anders
aus – korrespondiert die Vernachlässigung der Dinge in der Bildungstheorie.
Es scheint, als hätte zunächst die Anstrengung der Alphabetisierung in den
Schulen über die Jahrhunderte hinweg, als hätte unsere Schriftkultur die
ganze pädagogische Aufmerksamkeit auf sich gezogen und als wäre dann,
gleichsam im Gegenzug, mit den offensichtlich werdenden Defiziten in den
affektiv-motivationalen und kommunikativen Komponenten der
Erziehungseinrichtungen das Gleiche geschehen. Für die Dinge blieb
jedenfalls kaum Platz. Das läßt sich freilich in einem kleinen Vortrag nicht
korrigieren. Aber vielleicht sind einige Hinweise nützlich.
[096:14] In der Philosophie des Hochmittelalters, besonders von Mystikern,
wurde das Verhältnise zwischen dem Leib des Menschen, den Dingen und den sozialen
Beziehungen als analoge Entsprechung gedacht. Jedes Ding war ein Spiegel des
Kosmos und hatte teil am Geist Gottes.
“Bildung”
hieß
denn auch bei Meister Ekkehard beispielsweise: Sich dieses
“Wesen”
von Dingen durch eine gleichsam meditative Betrachtung
“einzubilden”
. Der Bedeutungswandel des Wortes
“Einbildung”
macht schlagartig deutlich, was in den folgenden
Jahrhunderten der Neuzeit geschah: Der Glaube daran, daß im Vorgang des
Sich-etwas-Einbildens ein inneres wahres Bild erzeugt würde, verschwand; nun
konnte man sich
“alles Mögliche einbilden”
. Damit verschand aber auch die Gewißheit des Sinn-Zusammenhanges zwischen Leib,
Ding und Interaktion. Die Dinge wurden, wie es heute heißt,
“beliebig verfügbar”
; für das je Individuell-Seelische konnte in der
Welt der Dinge keine Entsprechung mehr gefunden werden.
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[096:15] Mit diesem Umschlag im Bildungsdenken gehen zwei folgenreiche
Vorgänge einher: die Entstehung der modernen Wissenschaft, vor allem
Naturwissenschaft (die ich hier nur erwähne) und die
Entstehung der kapitalistischen Geldwirtschaft. Besonders die
Geldzirkulation ist für die Pädagogik wichtiger, als es zunächst scheinen
mag. Das zeigt sich an einer wie ich meine – aufschlußreichen Pointe aus der
Geschichte des Spielzeugs: Während durch viele Jahrhunderte hindurch der
Gesamtbestand an Objekttypen kaum 20–30 überstieg (Puppe, Ball, Reifen,
Windmühle, Würfel, Steckenpferd, Stock, usw.), und zwar bis ins 18.
Jahrhundert hinein, explodiert innerhalb weniger Jahrzehnte, mit dem
inzwischen auf alle Bevölkerungsgruppen ausgebreiteten
Geldverkehr, die Spielzeugherstellung zur Industrie, so daß der Nürnberger
Hersteller Bestelmeier gegen Ende des Jahrhunderts in seinen Katalogen bereits über 1000 Objekte anbieten kann. Aus
einer Welt von Dingen wurde eine Welt von tauschbaren Zeichen! So wie das
Geld als abstrakter Wert beliebigen Gebrauch erlaubt, gegen beliebige
Bedeutung getauscht werden kann, so präsentiert auch der moderne
Spielzeugmarkt ein gegen die
“Natur”
der Dinge
gleichgültiges, beliebiges Zeichenrepertoire. In diesen Arsenalen, im
Warenhaus wie in den Heimen und Kinderzimmern, lernen die Kinder – diese zugespitze Formulierung will ich hier einmal riskieren – nicht den bildenden
Umgang mit den Dingen, sondern den Gebrauch von Zeichen. Das ist der Weg von
Meister Ekkehards Theorie der Einbildungskraft zu Piagets Theorie der kognitiven
Entwicklung des Kindes, besorgt oder unterstützt durch die Ökonomie der
bürgerlichen Gesellschaft; kurz: das, was seit dem 18. Jahrhundert
“Fortschritt”
heißt.
[096:16] Allerdings gab es immer auch Zweifel an diesem Weg, wo die Dinge –
um im Bild zu sprechen – in den Straßengräben und auf den Abfallkippen
liegen blieben und der Zivilisationsmüll in unseren Wohnungen sich häuft.
Ich möchte, als letzten Schritt in meinem Gedankengang, zwei derartige
Zweifel hervorheben. Der eine bezieht sich auf das Verhältnis zwischen den
Dingen und dem Seelischen, der andere auf ihr Verhältnis zu unserem Körper
als Organismus.
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[096:17] Der für pädagogische Probleme vielleicht sensibelste
Psychoanalytiker der Gegenwart, Donald Winnicott, hat das Reden über Kindheit um zwei
wesentliche Begriffe bereichert:
“Übergangsobjekte”
und
“Objektverwendung”
. Damit ist, knapp gesagt, folgendes
gemeint: Damit die eingangs von mir erwähnten Abgrenzungsleistungen des
Kindes gelingen, bedarf es einer Art von Dingen, die einerseits eine
hinreichende
“Ähnlichkeit”
mit der symbiotischen
Beziehung zur Mutter haben, andererseits aber gerade erste Distanzierungen
aus dieser
“Verschmelzung”
, die in der Mutterbrust am
anschaulichsten symbolisiert ist, erlauben. Dieses
“Übergangsobjekt”
ist indessen noch ganz und gar eine seelische
Funktion; es ist ein vom Kind von seinen leiblich-seelischen Antrieben (oder
auch
“Bedürfnissen”
) erzeugter
Gegenstand. Damit nun dieser
“Gegenstand”
in ein
“Ding”
transformiert werden, damit er schlechterdings
als
“Nicht-Ich”
in Erscheinung treten kann, ist eine
weitere psychische Leistung erforderlich: er muß als Triebobjekt zerstört
werden, um gleichsam als das, was er
“für sich”
ist, die
verschiedenen seelischen Zustände überdauern zu können. Erst wenn dies
geschehen ist, wenn also das Kind gelernt hat, den seelischen Gehalt der
Beziehung zu einem Objekt von dem zu trennen, was das Objekt als Dingliches
ist – unabhängig davon, daß es auch Repräsentanz für
Seelisches sein kann – erst dann kann es nicht nur
“Objektbeziehung”
, sondern auch
“Objektverwendung”
geben. Erst
dann entsteht ein Begriff von
“Werkzeug”
, sowohl im
Hinblick auf Dingliches, als auch im Hinblick auf persönliche Beziehungen
(Begriffe von Rollen und Konventionen, von Interaktionsregeln, ihrer
Situations- und Zweckangemessenheit werden möglich). Rekonstruiert man die
Logik der Argumentation Winnicotts, dann zeigt sich, daß sie dem neuzeitlichen Typus der Differenzierung folgt: aus dem Insgesamt von
zunächst mythisch-mystischen Beziehungsganzheiten (das Individuum als Moment
eines geistig-kosmischen Sinnzusammenhanges, analogisch gedacht) gliedert
sich die Verschiedenheit der Objektwelten aus. Man kann diesen
Argumentationsgang, ohne das Prinzip zu verletzen, auch umkehren und die
erfolgten Ausgrenzungen wieder zu integrieren versuchen. Zur selben Zeit,
als Freud die theoretischen
Grundlagen für Winnicotts
Konzept von
“Übergangsobjekten”
und
“Objektverwendungen”
formulierte, erfanden die Maler jenen Typus von
Materialbildern (Kurt
Schwitters), in denen nutzlos gewordener Objektabfall zu neuem
kommuni|a 16|kativem Sinn arrangiert wurde und damit
Seelisches wieder repräsentieren konnte.
[096:18] Ein zweiter Typus von Zweifeln entstammt der phänomenologischen
Tradition und versucht weniger, die Dinge im Netzwerk menschlicher
Beziehungen zu lokalisieren, als vielmehr die an den Leib unmittelbar
gebundene Weise der Dingerfahrung zu ermitteln. Ich möchte diese
Problemstellung am Beispiel des Gesichtssinnes erläutern und greife zu
diesem Zweck auf Goethes
“Farbenlehre”
zurück. Dort heißt es:
[096:19]
“Die Farben, die wir an den Körpern erblicken, sind
nicht etwa dem Auge ein völlig Fremdes, wodurch es erst zu dieser
Empfindung gleichsam gestempelt würde. Nein, dieses Organ ist immer
in der Disposition, selbst Farben hervorzubringen und genießt eine
angenehme Empfindung, wenn etwas der eignen Natur Gemäßes ihm von
außen gebracht wird, wenn seine Bestimmbarkeit nach einer gewissen
Seite hin bedeutend bestimmt wird.”
[096:20] Diese in der Ding-Empfindung gegebene Qualität, hier die Farbe –
ein rotes Tuch, eine graue Mauer, eine blaue Tapete, ein gelbes Sofa, das
Orange der Apfelsine, das Grün der Polizei-Fahrzeuge – bringt, so Goethes
Meinung,
“spezifische Zustände in dem lebendigen
Organ”
, dem Auge hervor, aber
“eben auch so in dem Gemüt”
. Er hält offenbar den Zusammenhang zwischen empfundener Ding-Qualität
und einer entsprechenden Gemütsstimmung für eine Universalie.
“Man identifiziert sich alsdann mit
der Farbe; sie stimmt Auge und Geist mit sich unisono”
.
[096:21] Dem Leser unserer Jahrzehnte, zumal wenn er sich für
wissenschaftlich aufgeklärt hält, kommt sogleich ein naheliegender Einwand:
Ist das nicht erlernte kulturelle Tradition, wenn wir die Töne zwischen Rot
und Gelb als eher warm, die zwischen Blau und Grün als eher kalt empfinden
(oder so bezeichnen)? Sind das nicht lediglich Metaphern, in denen wir
Verschiedenes (
“Auge und
Geist”
) zusammenfügen, aber eben in einer kulturspezifischen
Fügung?
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[096:22] Nicht nur Goethe, sondern auch die Maler Ph.O.
Runge, W. Kandinsky, J. Albers oder J. Itten
haben ein gewichtiges Argument parat: Die Komplementärfarben. Ist die
komplementäre Hervorbringung von Grün zu Rot oder von Blau zu Orange auf der
Netzhaut des Auges ein Kulturprodukt oder eine Eigenschaft unseres
Organismus?
[096:23] Noch einen Schritt weiter im Frage-Stellen: Unser Auge nimmt nicht
nur Farben, sondern – peinlich trivial zu sagen – auch Formen wahr. Beim
anschauenden
“Abtasten”
einer Figur, z.B. der Fassade
eines Schulhauses oder der Form eines Wohnraumes, vollzieht unsere Pupille
ruckartig ungefähr 4 Bewegungen innerhalb einer Sekunde. Das heißt: Die
Form-Eigenart des Dinges wird in Sekundenschnelle in eine Körperbewegung
unseres Organismus übertragen.
[096:24] Die Augenbewegung in Sekundenbruchteilen, und das ist den
Komplementärfarben und ihrer
“sinnlich-sittlichen
Bedeutung”
(Goethe) ähnlich, ist eine innere, wenngleich
unwillkürliche, Bewegung des Organismus. Da aber die Augenbewegung, weil sie unwillkürlich ist, der Form der Dinge folgt,
darf man also sagen, daß – in gewisser Weise – die Dinge, ihre Farbe und
ihre Form, eine Spur im Organismus hinterlassen; und sofern diese Spur im
Organismus (die wirkliche Augenbewegung) auch im Zentralnervensystem
verarbeitet wird, darf man wohl auch sagen, daß
“Auge und
Geist unisono”
gestimmt werden. Sollte das zutreffen, dann hätten wir
hier ein schlechterdings fundamentales pädagogisches Problem vor uns. Nur
mit Bezug auf den Augensinn – für die anderen Sinne wären sicher ähnliche,
mindestens aber die ihnen angemessenen Fragen zu stellen – können wir
fragen: Welche inneren Bewegungen muten wir den Kindern zu, wenn wir sie mit
unserer Welt der Dinge konfrontieren?
Schluß
[096:25] Ich komme endlich zu dem von Ihnen nun schon dringend erwarteten
Schluß – ohne indessen das Thema erschöpft oder gar erziehungspraktische
Folgerungen gezogen zu haben. Ich hoffe trotzdem, daß es mir gelungen |a 18|ist, wenigstens zu zeigen, worauf man sich einläßt,
wenn man ernsthaft über den Zusammenhang von Leib, Ding und Beziehung
nachdenken möchte und daß es sich dabei um eine Thematik handelt, die nicht
nur pädagogisch fundamental, sondern dicht mit dem gegenwärtigen Zustand
unserer Kultur verknüpft ist.
[096:26] Statt lang und breit die verschiedenartigen Argumente vorzutragen,
hätte ich mich auch darauf beschränken können, eine Text-Passage aus Marcel Prousts
“Tage des Lesens”
zu zitieren und zu
interpretieren. Er beschreibt die Lage, in der man sich befindet, wenn man
ein fremdes Hotelzimmer betritt,
[096:27]
“wo man abends, wenn man die Tür zu seinem Zimmer
öffnet, das Gefühl hat, das ganze darin verstreut zurückgebliebene
Leben zu vergewaltigen, es kühn in die Hand zu nehmen, wenn man,
nachdem die Tür geschlossen ist, weiter bis zum Tisch oder bis zum
Fenster vorwärtsgeht, sich in einer Art freier Promiskuität mit ihm
auf das Kanapee zu setzen, das der Polsterer der Kreisstadt nach
dem, was er für Pariser Geschmack hielt, hergestellt hat, überall an
die Nacktheit dieses Lebens zu rühren, in der Absicht, sich selbst
durch die eigene Vertraulichkeit zu verwirren, indem man seine
Sachen hierhin und dorthin legt, indem man den Herrn in diesem von
dem Wesen der andern bis zum Rand erfüllten Zimmer spielt, das bis
in die Form des Feuerbocks und die Muster der Vorhänge den Abdruck
ihrer Träume bewahrt hat, und mit bloßen Füßen über seinen
unbekannten Teppich geht.”
In solcher Situation begeistert sich die
,
“während sie sich in den Schoß des Nicht-Ichs
versenkt fühlt”
.