Die Dinge und die Bildung [Textfassung a]
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Die Dinge und die Bildung

[092:1]
Die Lust zum Wissen wird bei dem Menschen zuerst dadurch angeregt, daß er bedeutender Phänomene gewahr wird, die seine Aufmerksamkeit an sich ziehen
(Goethe 1949, S. 19)
. Was
Phänomene
, Erscheinungen also, mit den Dingen zu tun haben mögen, die aus solchem Anlaß für uns erscheinen, bleibt fraglich:
Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr
(a.a.O., S. 9)
. Derartige Zitate aus Goethes
Farbenlehre
deuten an, daß er in der Frage, ob überhaupt und wie sich Zuverlässiges über
Dinge
ausmachen läßt, zurückhaltend ist. Wer, in gleichsam direktem Zugriff, das Wesen der Dinge ergründen möchte, gerät in Schwierigkeiten. Die Frage nach der
Dingheit des Dings
(Heidegger 1984) trennt nicht nur das philosophische Fragen von den scheinbaren Zuverlässigkeiten alltäglichen Handelns; sie läßt auch – wenigstens auf Anhieb – nicht erkennen, auf welche Weise sie mit bildungstheoretischen Problemstellungen verbunden werden könnte. Etwas über Dinge ausmachen zu wollen – würde Goethe sagen –, ohne die sinnlichen Gegebenheitsweisen sorgfältig zu analysieren, verspricht wenig Erfolg, sofern man das Interesse an der Bedeutung der Dinge für den heranwachsenden Menschen hat. Der englische analytische Philosoph Anthony M. Quinton springt, wenigstens in dieser Hinsicht, Goethe bei. Die ganze Schwierigkeit des Redens über Dinge bestehe darin, daß es so schwer auszumachen ist, ob überhaupt und wenn ja in welcher Weise dieses Reden zuverlässig genannt werden kann (Quinton 1973). Jedenfalls, so Quinton, erbringt der Weg über das
Gewahr-werden
vielleicht einige Einsichten. Dieser Ausdruck Goethes enthält ja schon zweierlei: die Existenz von Sinnes-Daten und deren Repräsentation im Bewußtsein. Quinton aber ist mit guten Gründen vorsichtig; es ist ja immerhin neben vielen anderen Fragen auch noch diese |a 33|Frage, ob unsere Wahrnehmung, die Weise, in der uns Dinge und ihre Eigenschaften erscheinen, uns etwas über die Dinge mitteilt oder ob sie nicht lediglich uns mitteilt, was der Inhalt unserer Sinneswahrnehmungen ist. So ohne weiteres das eine für das andere zu nehmen, oder auch nur vom einen auf das andere zu schließen, ist leichtsinnig. Ebenso aber scheint unbestreitbar, daß in dieser ganzen Frage unsere sensu-motorische Ausstattung, unsere Fähigkeit,
bedeutender Phänomene gewahr zu werden
, ein unerläßliches Zwischenglied ist.
[092:2] Ich werde im Folgenden mich sehr rasch auf eine Position einstellen, die derartige Fragen auf sich beruhen läßt; d.h. ich werde mich naiv verhalten. Ich denke aber, daß es nützlich ist, dies im Bewußtsein zu haben. Deshalb möchte ich weder über eine
Dingwelt
(gibt es das?) reden, noch gar über
Dingheit
oder
Gegenständlichkeit
, sondern die These Goethes für die Dauer dieses Vortrages naiv mir zu eigen machen.
Die Lust zum Wissen wird bei dem Menschen zuerst dadurch angeregt, daß er bedeutender Phänomene gewahr wird, die seine Aufmerksamkeit an sich ziehen.

1.
Bedeutende Phänomene

[092:3] Was sind
bedeutende Phänomene
? Offenbar solche, die uns als Sinnes-Daten zugänglich sind, uns also in irgendeiner Weise
erscheinen
und zugleich
Bedeutung
haben. Goethe, wenn er von
Bedeutung
spricht, meint das freilich nicht nur so, daß jedes Sinnesdatum, wenn es uns zum Bewußtsein kommt, schon allein darum Bedeutung hätte, sondern so, daß dieses Datum sich in einen Zusammenhang anderer Daten einfügt, wenigstens in die Daten einer Erfahrungs- oder Erinnerungsreihe. Anders wäre ja auch der Ausdruck
bedeutend
leer. Ein bedeutendes Phänomen – und in diesem Ausdruck ist ein doppelter Verweis enthalten: auf das, was erscheint und auf den, für den es erscheint; Heidegger nannte das vorläufig und unbestimmt
das Zwischen
(Heidegger 1984, S. 244 f.)
– ist also ein solches, das, der Möglichkeit nach, in einer Ordnung steht. Nicht nur der Möglichkeit nach: Kinder und Jugendliche, die hier oder dort heranwachsen, sind immer schon solchen Ordnungen konfrontiert.
[092:4] Zum Beispiel: die Ordnung der Differenz von Hunden und Schweinen. In Kulturen unserer Art verspeist man Schweine, aber |a 34|keine Hunde, Mit der physiologischen Güte der Nahrung hat das gar nichts zu tun; man ißt ja auch Frösche und Schnecken. Warum also essen wir kein Hundefleisch? Die gleiche Frage ergibt sich im Hinblick auf Textil-Dinge, z.B. Wolle, Baumwolle, Drillich, Seide. Der Ethnologe Sahlins (1981) Dingen regulieren:
Die Eßbarkeit steht in einem umgekehrten Verhältnis zur Humanität
(S. 148)
: Je näher das Tier kulturell an den Menschen heranrückt – ein Indikator dafür ist, wie weit es auch in die private Lebensweise integriert wird, ein anderer, ob wir es mit einem Namen anreden – um so weniger gilt es als eßbar. Diese Grundregel läßt sich auch auf die Merkwürdigkeit anwenden, daß
Innereien
, oder gar Hoden, für weniger essenswert gehalten werden als die äußeren Muskelpartien: alles
Innere
ist unserem Humanitäts-Konzept näher als das
Äußere
. Eine solche Ordnung des Eßbaren ist zugleich ein Operator zur sozialen Stratifizierung. Gerade dieses tritt bei Textilien, besonders in der Mode, noch deutlicher hervor. Als eine kulturelle Objektivation, die hervorragend geeignet ist, sowohl Zugehörigkeiten als auch Unterscheidungen zur Geltung zu bringen (Simmel 1983, S. 131 ff.), repräsentieren Textilien einen Ausschnitt der Sozialstruktur: Seide gehört (idealtypisch vereinfacht) zur weiblichen Seite und zur Oberklasse, Drillich zur männlichen und Unterklasse, Baumwolle ist weiblich/unten, Wolle männlich/oben (Sahlins 1981, S. 259). Daß es nicht das
Ding selbst
, seine Objektqualitäten, gar sein Wesen ist, das dies bewirkt, zeigt sich an den Wechselfällen der Mode: Gerade gegenwärtig erleben wir – so scheint es – eine Diffusion in der kulturellen Ordnung der Mode: Drillich, in der Form der
Jeans
, bedeutet nicht mehr männliche Handarbeit, Feministinnen, die
Grünen
-Fraktionen und Punks scheinen das System überhaupt durcheinanderzubringen – aber sie operieren noch durchaus mit den überlieferten Objektbedeutungen; nur vor dem Hintergrund eingespielter Bedeutungen können sie ja überhaupt etwas durcheinander bringen.
[092:5] In dieser Perspektive tauchen die Dinge nur als Zeichen innerhalb eines Systems kultureller, allgemein geteilter Bedeutungen auf. Nicht nur Nahrungsmittel und Kleidung, auch Werkzeuge und Spielwaren, Landschaften und Architekturen, Sitzmöbel und Fahrzeuge lassen sich nach diesem Muster interpretieren. Man kann die darin vorgenommene Abstraktion noch einen Schritt weiter treiben und, wie Piaget, Dinge nur noch als Mittel zur Bildung kognitiver |a 35|Entwicklungsschritte berücksichtigen – oder, wie manche Theoretiker der
Waren-Ästhetik
, nur noch unter dem Gesichtspunkt ihres Tauschwertes und der damit gesetzten Sozialisationsfunktion. Was durch derartige Sichtweisen an Einsicht gewonnen wird, will ich nicht bestreiten. Aber es bleibt ein Rest. Marcel Proust tastet sich, in einem frühen Text, vorsichtig an diesen
Rest
heran. Er beschreibt die Lage, in der man sich befindet, wenn man ein fremdes Hotelzimmer betritt,
wo man abends, wenn man die Tür zu seinem Zimmer öffnet, das Gefühl hat, das ganze darin verstreut zurückgebliebene Leben zu vergewaltigen, es kühn in die Hand zu nehmen, wenn man, nachdem die Tür geschlossen ist, weiter bis zum Tisch oder bis zum Fenster vorwärtsgeht, sich in einer Art freier Promiskuität mit ihm auf das Kanapee zu setzen, das der Polsterer der Kreisstadt nach dem, was er für Pariser Geschmack hielt, hergestellt hat, überall an die Nacktheit dieses Lebens zu rühren, in der Absicht, sich selbst durch die eigene Vertraulichkeit zu verwirren, indem man seine Sachen hierhin und dorthin legt, indem man den Herrn in diesem von dem Wesen der andern bis zum Rand erfüllten Zimmer spielt, das bis in die Form des Feuerbocks und die Muster der Vorhänge den Abdruck ihrer Träume bewahrt hat, und mit bloßen Füßen über seinen unbekannten Teppich geht
(Proust 1963, S. 21)
.
[092:6] Der bildungstheoretische Sinn dieser Passage wird noch deutlicher durch einen ironischen Satz, der bei Proust eine Seite zuvor steht:
Ich überlasse es den Leuten mit Geschmack, aus ihrem Zimmer das genaue Abbild ihres Geschmacks zu machen... Was mich angeht, so fühle ich mich in einem Zimmer nur leben und denken, in dem ich nichts von meinem bewußten Denken wiederfinde, in dem meine Vorstellungskraft sich begeistert, während sie sich in den Schoß des Nicht-Ichs versenkt fühlt
(a.a.O., S. 20)
. Es wird hier eine durchaus andere als die eingangs zitierte Sichtweise vorgeschlagen; dem Sich-Einrichten nach dem
Geschmack
, nach den Bedeutungsmustern, zu denen die Dinge in der kulturellen Ordnung arrangiert sind, entspricht, wie mir scheint, die theoretische Attitüde, die nur an der Rekonstruktion derartiger Ordnungen interessiert ist. Demgegenüber macht Proust eine Einstellung geltend, die er metaphorisch andeutet als Sich-Versenken
in den Schoß des Nicht-Ichs
. Ich werde diese Metapher später diskutieren; hier kommt es zunächst darauf an, auf die beiden verschiedenen Einstellungen hinzuweisen und sie mit einer kulturtheoretischen Problemstellung zu verknüpfen:
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[092:7] Wenige Jahre ehe Proust den Text konzipierte, dem die Zitate entstammen, umriß Georg Simmel eine Kulturtheorie der Moderne, in der jene Alternative eine wesentliche Rolle spielt (Simmel 1900). Simmels These ist, grob zusammengefaßt, diese: Der modernen Universalität des Geldverkehrs und der mit ihm einhergehenden Arbeitsteilung entspricht in der Einstellung des Menschen zu den Dingen ein Habitus, der dadurch ausgezeichnet ist, daß die Vielheit und Kurzlebigkeit der Dinge, als im Prinzip beständig tauschbare, eine nur noch partielle Beziehung zwischen beiden stiftet; Mensch und Ding sind einerseits immer weniger dauerhaft miteinander verknüpft, andererseits sind die Dinge dem Ganzen der Seele immer schwerer
assimilierbar
. Dadurch entsteht, so Simmel, eine Situation, in der die Welt der tauschbaren Kultur-Dinge immer raffinierter wird, das Mangelgefühl auf der Seite der Subjekte aber immer stärker:
[092:8]
Die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst – sind unsäglich kultiviert, aber die Kultur der Individuen ... ist keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielleicht sogar zurückgegangen
(Simmel 1900, S. 477)
.
[092:9] Man muß die darin ausgesprochene Bewertung der Kulturentwicklung nicht teilen, um anzuerkennen, daß es sich dabei um eine ziemlich plausible Prognose handelt. Heute, 86 Jahre später, haben wir einerseits das deutlich ausgeprägte Interesse an
Kulturreihen
(Simmel), an der strukturalen Rekonstruktion des
Geschmacks
(Proust), der modischen Unterschiede (Bourdieu), an der Erforschung der Bildungsrelevanz von Dingen nur als Medien der kognitiven Entwicklung (Piaget) bis hin zu Versuchen, Ding-Zeichen-Welten unter dem Gesichtspunkt der Integration in moderne
Mythen
zu analysieren (Barthes 1964, Lenzen 1985). Andererseits sind
holistische
,
ganzheitliche
Neigungen nicht zu übersehen, das Interesse für
Selbsterfahrung
, die erneuerten Traditionen der Gestaltpsychologie, die Heidegger-Renaissance, die
Phänomenologische Pädagogik
. Da beide Vorlieben sowohl in den praktischen Lebensformen als auch in den akademischen Theorien sich finden, dürfen wir annehmen, daß Simmels Diagnose einen für unser Jahrhundert wichtigen Punkt getroffen hat:
Geschmack
oder
Kulturreihe
versus Sich-Versenken
in den Schoß des Nicht-Ichs
, von dem die Hoffnung besteht, es könne noch jene ganzheitliche Erfah|a 37|rungen ermöglichen, die im geldvermittelten Tauschverkehr der Dinge nicht mehr möglich sei. Das Bildungsproblem liegt dazwischen: Gibt es einen Weg zu den Dingen, der den kulturell eingespielten Bedeutungen gegenüber ursprünglicher ist? Gibt es ein Verhältnis zu den kulturell lokalisierten Dingbedeutungen, in dem die gegenständlichen Leiberfahrungen aufgehoben bleiben? Die in diesen beiden Fragen verwendeten Ausdrücke sind ziemlich dunkel. Ich will sehen, ob ich sie im Folgenden etwas klarer machen kann.
[092:10] Eine bildungstheoretische Problemstellung hat sich noch nicht recht konturiert. Ich will versuchen, wenigstens etwas Ordnung zu schaffen, und dafür mag ein Beispiel nützlich sein. Der Pädiater Alfred Nitzschke (1968) erzählt die folgende Geschichte eines verhaltensgestörten Kindes:
[092:11] Zweieinhalb Jahre alt, erlebt der Junge, wie die Wohnung der Familie vollständig niederbrennt. Die Familie bezieht eine Notwohnung; das Kind aber wird schreckhaft, schreit des Nachts, ißt nichts mehr, bekommt Fieber, bricht seine sozialen Kontakte mehr und mehr ab, eilt tagsüber zu der Brandstelle, sagt
ich will heim
. Die Symptome verstärken sich, bis eine Klinikeinweisung unerläßlich scheint. Scheinbar wieder gesund, kehrt das Kind nach Hause zurück, und kehren auch die Symptome wieder. Das wiederholt sich zwei oder drei Mal, bis jemand einen, wie sich später herausstellt, genialen Einfall hat: Der Arzt (oder jemand anders) schenkt dem Kind in der Klinik einen hölzernen Kinderstuhl. Bald werden beide unzertrennlich. Schließlich kehrt das Kind mit seinem Stuhl in die Familie zurück und die Symptome verschwinden endgültig.
[092:12] In Erzählung und Deutung dieser Geschichte hebt Alfred Nitschke alle jene Momente hervor, die ich einleitend andeutete und die ich nun etwas systematischer erörtern will:
  • [092:13] Das Kind hat, nach der vollständigen Zerstörung der ihm vertrauten Dingwelt, erst wieder Tritt gefaßt, als ihm ein
    Ding
    zugeeignet wurde. Ich vermute, es war von Bedeutung, daß dieses
    Ding
    , ein aus Holz von einem Tischler gefertigter Stuhl, die wahrnehmbare Ding-Qualität also nicht gleichgültig war.
  • [092:14] Der Stuhl war nicht einfach nur ein Ding, sondern ein Werkzeug. Das Kind konnte ihn als Mittel verwenden, es trug ihn in der Klinik häufig mit sich herum, um mal hier, mal dort sitzen zu können. Es |a 38|war zudem nicht irgendein Stuhl, sondern sein eigener. Das Werkzeug also bekam durch den Gebrauch und dadurch, daß es ein eigenes war, für das Kind eine Bedeutungstönung, die es, von Situation und Handlung relativ unabhängig – in irgendeinem Sinne dieses Ausdrucks – wertvoll machte. Wertvoll war vielleicht auch schon das Ding als Ding aus Holz im Unterschied zu Dingen aus Kunststoff (gelegentlich mag es umgekehrt sein), jedenfalls auf Grund irgendwelcher
    Qualitäten
    des Dings oder seines Materials. Nun aber hat es auch einen
    Gebrauchswert
    , wie man sagt.
  • [092:15] Der Gebrauch des Stuhls steht in Zusammenhang mit dem Gebrauch von anderen Dingen. Der Stuhl ist, in dieser Geschichte, das erste Glied einer Kette bedeutender Ding-Figurationen, einer
    Struktur
    : Ist der Anfang vertraut, darf man sich weiter wagen: Stuhl, Tisch, Bank, Schrank, Sessel, Kissen, Spielzeug usw. Nun darf der Stuhl
    abstrakt
    werden, ohne Angst zu erzeugen: Element einer vertrauten Geschichte oder – in diesem Fall – Anfangspunkt einer möglichen Geschichte vertrauter Gegenstände.
[092:16] Jede dieser Hinsichten auf die Dinge enthält eine eigentümliche Bildungsaufgabe. Das will ich im Folgenden erläutern, und ich beginne mit der dritten Hinsicht:

2. Dinge als Zeichen innerhalb von Kulturreihen

[092:17] Dinge als Zeichen innerhalb eines semiologischen Systems von Verweisungen zu betrachten, ist eine charakteristisch moderne Sichtweise. Die sozialwissenschaftliche Diskussion hat inzwischen viele Varianten dieser Sichtweise hervorgebracht, deren Gemeinsamkeit – trotz der nicht unbedeutenden Unterschiede z.B. zwischen der
Habitus
-Theorie (Bourdieu 1982), der modernen Mythen-Analyse (Barthes 1968), der Beschreibung dinglich vermittelter Symbolwelten von
Rockern
,
Punks
u.a. (Willis 1981), oder auch der eine zeitlang Mode gewesenen Theorie der
Waren
-Ästhetik – sich, etwas schlicht und grob gesprochen, ungefähr so beschreiben läßt: Während wir uns in unserem Alltagsleben, in unserer uns Tag für Tag gegebenen
Lebenswelt
auf die Dinge um uns herum lebenspraktisch beziehen, das Menu essen, weil es uns schmeckt, das Auto |a 39|fahren, weil es uns nützlich scheint, dem Kind einen Lego-Baukasten schenken, weil er ihm Spaß und Spiel einbringt, auf der Bank eines schönen Platzes uns niederlassen, weil wir diese Stimmung genießen, in Mutlangen demonstrieren, weil wir die Raketen-Dinge bedrohlich finden – während wir also derart mit den Dingen leben, in Vertrautheit oder Beklommenheit, mutet uns diese Sichtweise eine Distanz zu, einen gleichsam ethnologischen Blick von außen, eine
exzentrische
Einstellung (Plessner), durch welche die praktisch eingespielten Sinn-Kontinuitäten verfremdet werden. Die Frage, warum wir kein Hundefleisch essen, stellt sich uns erst in dieser Einstellung. Diese Einstellung ist freilich
künstlich
; wir müssen uns zu dem Punkt, von dem aus wir die Dinge betrachten, ausdrücklich hin – und also aus den primär vertrauten, unsere Alltagspraxis leitenden Betrachtungsweisen herausbegeben.
[092:18] Die Wahl einer Automarke erscheint dann, von diesem Punkt der Betrachtung aus, nicht mehr nur als ein nützlich-monetäres Kalkül, sondern als eine symbolische Status-Wahl. Die Tischdecke beim Essen, die Serviette, das Design von Besteck und Service erscheint als Zeichen der Differenzierung zwischen Situationen, Haltungen und Gruppen. Die Textilien am Körper werden lesbar als Indikatoren für Zugehörigkeit und Trennung, als phantasierte Selbst-Entwürfe, als
Bricollage
aus Kulturresten, die nichts anderes bedeuten als ein Spiel mit Bedeutungen, eine Merkzeichen-Variation, wie ein Stilleben (
Nature morte
). Und der Baukasten, den wir unseren Kindern geben, fügt sich dieser Lesart von Dingen zwanglos ein: Zwar hantiert das Kind mit den Elementen, den einzelnen Steinen, auf eine vielleicht lustvolle Weise. Aber was eignet es sich dabei an, beim Baukasten der Firma Bestelmeier um 1800 (Bestelmeier 1803), dem etwas späteren Fröbel-Baukasten, dem
Anker-Steinbaukasten
, schließlich dem Lego-Baukasten (vgl. Uhlendorff 1986)? Jeder dieser Baukästen repräsentiert einen Zusammenhang von Zeichen, die mindestens auf die motorischen Operationen des Kindes, auf die physiognomischen Zeichen des je historisch-architektonischen Habitus, auf die Idee seiner elementaren Einheiten, auf die gedachten praktischen Verwendungssituationen verweisen. Was also heißt es, einen Lego-Baukasten, eine bäuerliche Mahlzeit, einen Citroen, die Gestalt eines Platzes in irgendeiner City, eine Hausfassade, die Stahlkonstruktion einer Lok-Halle oder die zum reinen Kunst-Ding präparierte Punk-Frisur lesen zu können?
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[092:19] Es ist ähnlich, wie es früher schon im Prozeß der europäischen Alphabetisierungen war. Man muß sich die Anstrengung vorstellen, die – sagen wir: für einen Bürger der Stadt Nürnberg um 1500 – nötig war, um die mühsam erlernten Schriftzeichen auf die Bedeutungssysteme zu beziehen, die seinen Alltag ausmachten. Entgegen einer zwar verbreiteten, aber irrigen Meinung ist es nämlich nicht so, daß, in der europäischen Geschichte der Neuzeit, die Menschen in der Lage waren, Bilder oder gar dingliche Ensembles zu
lesen
, ehe sie alphabetisiert waren; das gilt für Bilder (Schenda 1986), aber noch mehr wohl für die Fähigkeit, aus den Spuren der Ding-Ensembles unserer Umwelt die kulturellen Bedeutungen herauszulesen.
[092:20] In diesem Sinne haben die Arrangements von Museen eine Bildungsfunktion, die der des Buches in der frühen Neuzeit entspricht. Sie besorgen gleichsam eine
ikonische Alphabetisierung
. Die Glas-Vitrine symbolisiert diese Funktion: Sie verhindert, daß der
Lesewillige
in den Strom irgendeines Alltagshandelns gleichsam eintaucht; sie bremst dadurch, daß sie Distanz setzt, die sentimentalen Motive zur Teilhabe und Teilnahme; sie fordert zu intellektueller Tätigkeit auf, zur Anstrengung, aus den einzelnen Ding-Zeichen oder Zeichen-Dingen – seien sie nun Zeichen von Vergangenem, Fremdem oder einfach nur Anderem – den bedeutungsvollen Zusammenhang zu konstruieren. Es ist wie beim Lesen von Büchern: Nur wer auch einen geschriebenen oder gedruckten komplexen Satz versteht, ist alphabetisiert.

3. Dinge als Werkzeuge

[092:21] Unter den vielen Hinsichten, in denen Dinge etwas signifizieren können, tritt eine als besonders plausibel hervor. Was ein Lego-Baustein, eine Tonscherbe, ein auf einem Grabstein des Prager Judenfriedhof abgelegter Kiesel, ein Mauerrest, ein im Herbstwald herabgefallenes Blatt signifizieren, ist nicht ganz leicht auszumachen. Immer dann aber, wenn es sich um Dinge handelt, die wir, unserer Erfahrung nach, in irgendeinem vertrauten Handlungszusammenhang lokalisieren können, haben wir naturgemäß den Eindruck, es fiele uns leicht zu ermitteln, was der Gegenstand
bedeutet
. Das gilt ganz besonders für Werkzeuge.
[092:22] Es ist überraschend, wie wenig sich die Pädagogik bisher mit Werkzeugen befaßt hat, besonders mit solchen der gegenständlichen |a 41|Naturbearbeitung. In den vorbürgerlichen Phasen der europäischen Bildungsgeschichte waren die werkzeugvermittelten Lernvorgänge noch ein ganz wesentlicher Teil der Bildung des Kindes. Sie gaben – metaphorisch gesprochen – der symbolischen Kommunikation einen gegenständlichen Halt und symbolisierten selbst die Perspektiven des Überlebens. Mit dem Beginn der systematischen Entfaltung von Erziehungs- und Bildungstheorie wuchs die Distanz zum Werkzeug-Ding. Bei Comenius schon, im 17. Jahrhundert, taucht es nur als Abbildung im
Orbis Pictus
auf; hundertfünfzig Jahre später präsentieren die Spielzeug-Kataloge der Nürnberger Firma Bestelmeier (1803) die Welt der Tätigkeiten und Dinge als Spielwelt. Was das Kind sich durch das zum Spielzeug verunstalteten
Werkzeug
nun noch aneignet, ist nicht mehr die
Wirklichkeit
der Natur-Bearbeitung, sondern die symbolische Operation; die kompletten Spielwelten unserer Warenhäuser sind das vorläufige Ende dieser Entwicklung. Da ist dann nicht mehr so überraschend, wenn auch die Theorie sich nur noch zum Thema macht, was in diesen pädagogischen Menagerien geschieht. Im Ganzen scheint es, als habe sich das Urteil Diderots im ersten Band der
Enzyklopädie
(1751) durchgesetzt, wo es unter dem Stichwort
Handwerker
(
Artisan
) heißt:
So nennt man die Arbeiter, die jene mechanischen Künste ausüben, die am wenigsten Intelligenz voraussetzen
(Diderot/D’Alembert 1984, S. 85)
. Freilich gab es immer auch Widerspruch gegen diese Entwicklungstendenz, z.B. von den Philantropinisten im Anschluß an Rousseau, von Goethe in den
Wanderjahren
, von der Arbeitsschulbewegung zu Beginn unseres Jahrhunderts, zumal von Freinet; ein Widerspruch, in dem eine anthropologische These enthalten ist, die sich bildungs-theoretisch etwa so formulieren ließe: Indem der Mensch sich aufrichtet und nun auf zwei statt auf vier Beinen steht (paläontologisch beim Übergang von den Anthropoiden, ontogenetisch beim Gehen-Lernen des Kleinkindes), geht der Blick auf das Ferne zu, erweitert sich die Reichweite der Sinne und entsteht das
Auge-Hand-Feld
; die Hand vermittelt zwischen meinem Leib und den fernen Dingen und kann so zum ersten
Werkzeug
werden, eine Art Zwischen-Ding, das dank seiner anatomischen Beschaffenheit weitere Werkzeuge herstellen und solche Werkzeuge als Verlängerung der Hand handhaben kann. Es scheint gute Gründe für die Hypothese zu geben, daß diese Vorgänge in der Evolution unserer Gattung wesentlich an der Art und Weise beteiligt sind, wie unsere |a 42|Intelligenz gebildet wird (Leroi-Gourhan 1980). Diejenige Klasse von Dingen, die ich hier
Werkzeuge
nenne, scheint also hervorragend geeignet, sowohl die Geschichte der Gattung und ihre Differenzierungen als auch die Bildungsprobleme zu studieren, die sich immer wieder beim Heranwachsen des Kindes einstellen. Die mit äußerster Sorgfalt aus einem Stein geschnitzte Pfeilspitze, die Zange eines Nürnberger Silberschmieds von 1510, die in biegsamen Kunststoff-Material nachgebildete Spielzeugzange (damit das Kind um Gottes willen nichts beschädigen, in Gegenständliches also nicht eingreifen kann), diese Werkzeug-Dinge
erzählen
also, wenn wir sie nur recht
befragen
, spannendste Geschichten über unsere Gattung, über die Prozesse kultureller Differenzierungen, über die Grundprobleme der Bildung des Kindes. Es wäre deshalb wohl angebracht, wenn, wie in der Ethnologie schon lange selbstverständlich, auch in der Erziehungswissenschaft so etwas wie eine
ergonomische
Forschung in bildungstheoretischer Absicht entstünde.

4. Dinge als Wahrnehmungsinhalte

[092:23] Obwohl das Werkzeug-Ding schon an die sinnlich bestimmte Tätigkeit des Menschen, zumal an das, was das Kind mit ihnen tut, heranführt, bleibt doch das Werkzeug ein
Mittel
-Ding. An ihm interessiert uns die Funktion, die es im Hinblick auf die Bearbeitung von
etwas
, nämlich anderen Dingen, hat. Es ist zwar leibnah, steht aber, nach Maßgabe des Auge-Hand-Feldes, das ja auch andere tätige Personen mit umgreift, ein
Wir
also, als Element in einem System kultureller Bedeutungen. Treiben wir die Frage nach der möglichen
Leibnähe
von Dingen noch einen Schritt weiter, müßten wir fragen, ob es nicht gleichsam
hinter
diesen evolutionären, kulturell-historischen, bildungs-prozeßhaften Bedeutungen so etwas geben könnte, wie eine
ursprüngliche
Ding-Erfahrung und könnte dies für Pädagogen irgendwie von Interesse sein? Die
Zeughaftigkeit des Zeugs
, um in Heideggers Terminologie zu sprechen, ist als pädagogische Problemstellung ja wohl gerade noch einleuchtend. Aber ist auch noch die Frage nach der
Dinghaftigkeit des Dings
für derartige Interessen plausibel?
[092:24] Derartige Fragen lassen sich, wenn wir Goethes eingangs zitierte Bemerkung und Prousts Metapher vom
Schoß des Nicht-Ich
|a 43|irgendwie ernst zu nehmen versuchen, wohl zunächst nur auf einem Weg über unsere Sinne sicher nicht beantworten, aber doch vielleicht genauer stellen oder gar diskutieren. Da nun dies ein sehr weites Feld ist – wie ja auch schon die zeichentheoretische und die ergonomische Sichtweise – muß ich mich stark beschränken. Von den vielen Sinnen, in oder mit denen uns die Dinge gegeben sind, wähle ich hier nur den Gesichtssinn aus. Die Sache ist kompliziert genug, und die Rhetorik der
neuen Sinnlichkeit
in derart allgemeiner Redeweise verdunkelt die Sachverhalte eher, als daß sie sie aufklärt. Ob über
alle Sinne in ihrer Integralität
(Pazzini 1983, S. 68)
zu reden eine Bereicherung unseres Erkenntnisvorrats ist, weiß ich nicht; der Philosoph N. Goodmann (1984) ist da ganz entschieden skeptisch. Auch zu den möglichen Differenzen zwischen Empfinden und Wahrnehmen (Straus 1978, S. 332ff.), Wahrnehmung und Sinnlichkeit, Sinnlichkeit und Begreifen, Begreifen und Erkennen will ich mich nicht äußern. Ich bleibe beim Augen-Sinn und zunächst beim relativ
naiven
Goethe:
Die Menschen empfinden im allgemeinen eine große Freude an der Farbe. Das Auge bedarf ihrer, wie es des Lichtes bedarf. Man erinnre sich der Erquickung, wenn an einem trüben Tage die Sonne auf einen einzelnen Teil der Gegend scheint und die Farben daselbst sichtbar macht. Daß man den farbigen Edelsteinen Heilkräfte zuschrieb, mag aus dem tiefen Gefühl dieses unaussprechlichen Behagens entstanden sein.
[092:25]
Die Farben, die wir an den Körpern erblicken, sind nicht etwa dem Auge ein völlig Fremdes, wodurch es erst zu dieser Empfindung gleichsam gestempelt würde. Nein, dieses Organ ist immer in der Disposition, selbst Farben hervorzubringen, und genießt einer angenehmen Empfindung, wenn etwas der eigenen Natur Gemäßes ihm von außen gebracht wird, wenn seine Bestimmbarkeit nach einer gewissen Seite hin bedeutend bestimmt wird.
(Goethe 1949, S. 618)
[092:26] Diese in der Ding-Empfindung gegebene Qualität, hier die Farbe – ein rotes Tuch, eine graue Mauer, eine blaue Tapete, ein gelbes Sofa, das Orange der Apfelsine, das Grün der Polizei-Fahrzeuge – bringt, so Goethes Meinung,
spezifische Zustände in dem lebendigen Organ“
, dem Auge, hervor, aber
eben auch so in dem Gemüt
(a.a.O., S. 619)
. Er hält offenbar den Zusammenhang zwischen empfundener Ding-Qualität und einer entsprechenden Gemütsstimmung für eine Universalie.
Man identifiziert sich alsdann mit der Farbe; sie stimmt Auge und Geist mit sich unisono
(ebd.)
.
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[092:27] Dem Leser unserer Jahrzehnte, zumal wenn er sich für wissenschaftlich aufgeklärt hält, kommt sogleich ein naheliegender Einwand: Ist das nicht erlernte kulturelle Bedeutung, wenn wir die Töne zwischen Rot und Gelb als eher warm, die zwischen Blau und Grün als eher kalt empfinden (oder so bezeichnen)? Sind das nicht lediglich Metaphern, in denen wir Verschiedenes (
Auge und Geist
) zusammenfügen, aber eben in einer kulturspezifischen Fügung? Nicht nur Goethe, sondern auch die Maler Ph.O. Runge, W. Kandinsky, J. Albers oder J. Itten haben ein gewichtiges Argument parat: Die Komplementärfarben. Ist die komplementäre Hervorbringung von Grün zu Rot oder von Blau zu Orange auf der Netzhaut des Auges ein Kulturprodukt, eine erworbene Eigenschaft unseres Organismus oder eine
innate capacity
?
[092:28] Unser Auge nimmt nicht nur Farben, sondern – peinlich trivial zu sagen – auch Formen wahr. Beim anschauenden
Abtasten
einer Figur, z.B. der Fassade eines Schulhauses (vergl. Rittelmeyer 1986) oder der Form eines Wohnraumes, vollzieht unsere Pupille ruckartig ungefähr 4 Bewegungen innerhalb einer Sekunde. Das heißt: Die Form-Eigenart des Dings wird in Sekundenschnelle in eine Körperbewegung unseres Organismus übertragen. Was geschieht – so darf man fragen – mit unserem Körper, mit dem unserer Kinder, oder überhaupt dem Körper des Menschen, wenn er tagtäglich beispielsweise einen griechischen Tempel, die Piazza Navona in Rom, das Märkische Viertel in Berlin sieht? Was muten wir den Kindern zu, nur durch die gebaute Dingwelt, in der wir sie zu leben zwingen?
[092:29] Die Augenbewegung in Sekundenbruchteilen, und das ist den Komplementärfarben und ihrer
sinnlich-sittlichen Bedeutung
(Goethe) ähnlich, ist eine innere, wenngleich unwillkürliche, Bewegung des Organismus. Da aber die Augenbewegung, weil sie unwillkürlich ist, der Form der Dinge folgt, darf man also sagen, daß – in gewisser Weise – die Dinge, ihre Farbe und ihre Form, eine Spur im Organismus hinterlassen; und sofern diese Spur im Organismus (die wirkliche Augenbewegung) auch im Zentralnervensystem verarbeitet wird, darf man wohl auch sagen, daß
Auge und Geist unisono
gestimmt werden. Sollte das zutreffen, dann hätten wir hier ein schlechterdings fundamentales pädagogisches Problem vor uns. Nur mit Bezug auf den Augensinn – für die anderen Sinne wären sicher ähnliche, mindestens aber die ihnen angemessenen Fragen zu stellen – können wir fragen: Welche inneren Bewegungen muten wir den |a 45|Kindern zu, wenn wir sie unserer Welt der Dinge konfrontieren? Und: Wie müßte der bildende Umgang mit Dingen beschaffen sein, daß Kinder oder Erwachsene der inneren, aber zumeist unwillkürlichen Bewegungen
gewahr werden
(Goethe), die ihre Organe und ihr Gemüt bei deren Anblick vollziehen? Und: Gibt es eine Art (Gestalt) von Dingen, von der sich sagen läßt, sie sei – aus derartigen Gründen – der Bildung des Kindes wenig förderlich?

5. Was tun?

[092:30] Ich bin nicht sicher, ob man die von mir vorgenommene Klassifikation – Dinge als Zeichen, als Werkzeuge, als Wahrnehmungsinhalte – in irgendeine logisch plausible Hierarchie bringen kann. Das war auch nicht meine Absicht. Ich wollte nur drei mögliche Aspekte skizzieren, die bildungstheoretisch von Interesse sein könnten. Ich glaube nicht, daß sich
Bildungsziele
oder gar praktische Anweisungen aus meinen Erörterungen direkt gewinnen lassen; aber vielleicht weitere Fragen. Das genauere Fragen ist vielleicht gegenwärtig ohnehin zukunftswürdiger als das Geben von Antworten, zumal praktischer. Angesichts der Ding-Schwemme, zumal der vielen dekorativ verkleideten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, plädierten zunächst William Morris, dann später A. Loos und andere für das, was in der Kunstgeschichte
Funktionalismus
heißt. In diesen Theorien, gegen das Proust noch, in die bürgerliche Dingwelt des späten 19. Jahrhunderts eingesponnen, anschrieb, sollen die Dinge nur noch als das erscheinen, was sie
sind
oder als die Funktion, die sie
haben
. Was ist dann – am Ende meines Textes darf ich vielleicht so fragen – ein
funktionales Sterbezimmer
? Welche Art der Augenbewegung, denken wir, ist für den Sterbenden die rechte? Welche Dinge sollten anwesend sein und welche sind entbehrlich? Es ist ähnlich wie beim Lebensanfang: Von welcher Art sind die Dinge, mit denen Kinder sich auseinandersetzen sollten?
[092:31] Joseph Beuys gibt eine Art Zwischenantwort, für die Zeit zwischen Kindheit und Alter. Sein Environment
Das Kapital Raum
ist wie eine große Metapher zu unserem Thema. Von Adam (die Axt neben dem Piano) bis zur Elektronik zeigt es unsere Sinne und ihre instrumentellen Verlängerungen, samt deren Deutungen,
Auge und Geist
. Ein Schild gebietet im Museum in Schaffhausen, den Raum |a 46|des Ensembles nicht zu betreten noch die Dinge zu berühren. Gebremste Sinnlichkeit, möchte ich sagen, zum Nachdenken auffordernd!

Literatur

    [092:32] Barthes, R.: Mythen des Alltags, Frankfurt/M 1964.
    [092:33] Bourdien, P.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982.
    [092:34] Diderot, D./d’Alembert, J.d.R.: Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, Leipzig 1984.
    [092:35] Goethe, J. W.: Entwurf einer Farbenlehre. Didaktischer Teil, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, 16. Band, Zürich 1949.
    [092:36] Goodman, N.: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M 1984.
    [092:37] Gombrich, E.H./Hochberg, I./Black, M.: Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit, Frankfurt/M 1977.
    [092:38] Heidegger, M.: Die Frage nach dem Ding; Gesamtausgabe, Bd. 41, Frankfurt/M 1984.
    [092:39] Jeggle, U./Korff, G./Scharfe, M./Warneken, B. J. (Hg.)): Volkskultur in der Moderne, Reinbek 1986.
    [092:40] Lenzen, D.: Mythologie der Kindheit, Reinbek 1985.
    [092:41] Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen, Berlin 1971.
    [092:42] Lichtblau, K.: Die Seele und das Geld. Kulturtheoretische Implikationen in Georg Simmels
    Philosophie des Geldes
    , in: F. Neidhard/M. R. Lepsins/I.Weiss (Hg.): Kultur und Gesellschaft, Sonderheft 27 der KZfSS, Opladen 1986.
    [092:43] Nitschke, A.: Das verwaiste Kind der Natur, Tübingen 1968.
    [092:44] Proust, M.: Tage des Lesens, Frankfurt/M 1963.
    [092:45] Quinton, A.: The Nature of Things, London/Boston 1973.
    [092:46] Rittelmeyer, Chr.: Zur pädagogischen Beurteilung der Schulbauarchitektur, in: Baumeister 1986/2.
    [092:47] Sahlins, M.: Kultur und praktische Vernunft, Frankfurt/M 1981.
    [092:48] Schenda, R.: Bilder vom Lesen – Lesen von Bildern, Manuskript Zürich 1986.
    [092:49] Simmel, G.: Philosophie des Geldes, Leipzig 1900.
    [092:50] Simmel, G.: Schriften zur Soziologie, Frankfurt/M 1983.
    [092:51] Straus, E.: Vom Sinn der Sinne, 2. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York 1978.
    [092:52] Willis, P.: Profane culture. Rocker, Hippies: Subversive Stile der Jugendkulturen, Frankfurt/M 1981.