Eine Schule des Sehens [Textfassung a]
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0.

[V68:1] Noch die monumentalen Formate, die anspruchsvollen mythischen Bildgesten der Kasseler
Documenta
in frischer Erinnerung – sehe ich nun dies: eine Art optischer Kammermusik mit sparsamster Partitur! Aber synästhetische Metaphern sind nicht unbedingt hilfreich, obschon, in diesem Fall, auch nicht abwegig. Man sagt von der Musik, daß ihr, im Unterschied zur Malerei, die Zeit-Dimension wesentlich sei. Die hier versammelten Bilder präsentieren in der Frage kein neues Argument, sie machen aber darauf aufmerksam, daß zwar nicht das ästhetische Objekt, aber der Vorgang seiner Aneignung in zeitlich gestuften Rhythmen der Tätigkeit des Gesichtssinns organisiert ist. Diese Strukturierung der Wahrnehmungswege des Betrachters wird von den Objeckten vorgebildet, so wie eine treffende Auswahl von Sätzen der gesprochenen Sprache, bei genauem Aufmerken, Hinhören oder Hinsehen, syntaktische Strukturen erkennbar macht. Insofern sind es
Interaktionsbilder
; sie bringen, wenn man sich auf ein Gespräch mit ihnen einläßt, Elemente der
syntaktischen Struktur
unserer optisch-sensuellen Tätigkeit hervor.
I am not very interested in pictorial presentation
, sagt Ian Tyson;
I am trying to reinvent a language of painting
, sagt James Hugonin; ein Blick auf die Arbeiten Julia Farrers zeigt, daß sie, auf einer relativ hohen Stufe von Komplexität, das gleiche im Sinn hat.
[V68:2] Diese Bilder sind didaktisch, in einem guten Sinn der europäischen Moderne. Sie zeigen nicht, wie der Maler die vielen figürlichen Erscheinungen der Welt sehen kann,
pictorial
also; sondern sie zeigen auf die möglichen Regeln, denen unser Sehen folgt. Sie ordnen sich damit einer Tradition ein, die schon in Kandinskys
Punkt und Linie zu Fläche
und Klees
Pädagogischem Skizzenbuch
erste Höhepunkte hatte. Diese Tradition blieb bis heute der Moderne verpflichtet. Statt nach sinnsuchenden Auswegen aus den Lebensengpässen im Figürlich-Bedeutenden, Leibhaft- Archaischen, Mythischen Ausschau zu halten oder die angebliche Realität der sozialen Oberfläche zu zeigen, zeigen diese Bilder die Tiefenstruktur des ästhetisch-optischen Sinnes, darin der Antike und der Frührenaissance näher, als es scheinen mag. Ganz und gar nicht ist also diese Malerei unhistorisch, denn sie erinnert, und zwar an die Geschichtlichkeit des Leibes, hier des Sehvermögens. Alle drei verbindet die Liebe zur Geometrie. Diese aber hatte es immer schon weniger mit den Erscheinungen als mit den Ideen zu tun, mit der Frage also, ob überhaupt und welche Ideen unsere Wahrnehmung des Erscheinenden strukturieren oder ihr zugrunde liegen. Für das Rechteck, den Rhombus oder das graphische Gitternetz hinter den Farbpunkten – ja selbst für die Verteilung von Farbpunkten gibt es kein Vorbild in der wahrgenommenen Natur. Derartige Bildprojekte können nur entstehen in der Konfrontation von Idee, gesehener Welt und den Operationen des Gesichtssinnes. Chardin hatte es wohl schon geahnt, als er seine sensualistischen Bilder malte, die dem bewußten Sehen abverlangen, auf den strukturalen Grund dieses Vermögens zu kommen. Diderot empfahl, beim Betrachten der Bilder Chardins die Distanz zu wechseln. Das gilt auch hier: so nämlich wird das Spiel mit Figuration und Farbe, Oberfläche und Tiefe, Schärfe und Unschärfe als Tätigkeit des Auges erfahrbar. Aus dem Reservoir der möglichen Komponenten einer Grammatik optischer Zeichen heben diese Bilder je eine besonders hervor.

1.

[V68:3] Ian Tyson bleibt – nicht nur in den hier ausgestellten Bildern, sondern fast in seinem ganzen Werk – streng beim Rechteck. Daß es sich zumeist um Reihen von mindestens drei Bildern handelt, hat einen guten Grund: Erst der Vergleich, wie bei konstant gehaltener oder nur rhythmisch variierter Struktur die Verschiedenheit der Farbe
wirkt
, wie sie vor- oder zurücktritt oder, in äußerster Vereinfachung auf Schwarz- und Grautöne, die Oberflächenstruktur des Papiers variiert oder gar nur der Blickwechsel des Betrachters die Erfahrung von Variation erzeugt, bringt den für diese Graphik eigentümlichen ästhetischen Reiz hervor. Es erscheint mir folgerichtig, wenn Ian Tysons Opus zu einem beträchtlichen Teil aus Artist Books besteht: Bildnerische Bedeutung, wenn man so sagen darf, wird von ihm aus Rechteck, Intervall und Farbe bzw. der Oberflächenstruktur des Papiers konstruiert. Der Spielraum, der sich mit diesen einfachen Mitteln entfalten läßt, durch verschiedene Techniken und Materialien hindurch, ist enorm. Wieviel allein entscheidet die Intervall-Varianz für Zufriedenheit oder Irritation des Auges, wieviel der Farbkontrast oder die Wahl des Rahmenwerks! Wann und mit welchen Gründen sind wir berechtigt, von Balance zu sprechen? |a [2]|Ist der "goldene Schnitt' nichts als eine mathematische Formel, oder verbindet sich in ihm Sinn für Rhythmus. Farbabstufung und Flächenanordnung? Kein Wunder, daß Ian Tyson eines seiner Artist Books Morandi widmete – freilich nicht figürlich und nicht in den Erdfarben Morandis gemalt, sondern als Prägungen auf Papier, auf das Einfachste reduziert: ästhetisches Lesen-Lernen!

2.

[V68:4] Auch James Hugonin lehrt uns das ästhetische Lesen, aber ganz anders, jedenfalls im Hinblick auf andere Komponenten bildsyntaktischer Probleme. Er sagt von sich selbst, daß es das Licht sei, das ihn vor allem beschäftigt und dem er auf den Grund kommen möchte. Er zitiert gerne John Donne, der vor gut 250 Jahren meinte, daß niemand wissen könne,
whether light itself be a quality or a substance
; auch die Farbenlehre Goethes könnte er wohl zitieren oder Turners dieser Farbenlehre gewidmetes Bild in der Tate Gallery. Das theoretische Problem ist nicht durch Malerei entscheidbar. Aber das macht nichts. Für den, der ein Quintintervall hört, bringt die Kenntnis der Frequenzen auch keinen Zugewinn an ästhetischer Erfahrung. Derartiges hat, wie die Bilder James Hugonins, nichts mit Theorien zu tun, sondern mit Weisen der sinnenhaften Welterfahrung. Hugonins Gemälde bringen diese Erfahrung, das gleichsam unmittelbar sinnliche Empfinden von Helligkeit, von Lichtabstufungen, zum Bewußtsein; jeder Farbton, sieht man genau hin, folgt dabei einer rhythmischen Figur; die miniaturhaften Helligkeitsvariationen werden überdies dem gezeichneten Struktur-Gitter konfrontiert. Diese Bilder sind
sensualististisch
; sie konfrontieren uns nicht mit einem intellektuellen Konstrukt, sondern mit der Empfindung von Farbe und Helligkeit. James Hugonin sagt:
I am interested in creating something which is
apprehensible by sense
and not necessarily
comprehensible by reason
.Wir können nur dann etwas durch die Sinne begreifen, wenn wir uns selbstreflexiv auf das konzentrieren, was wir spüren. James Hugonins Bilder exemplifizieren dieses Spüren und diese Selbstreflexion; er nennt sie Produkte einer Bemühung um
meditative expression
; sie lehren uns diese Einstellung. Aber wir sollten uns nicht täuschen: Hugonins Farbenspiel liegt nicht nur die je farbspezifische Rhythmus-Figuration, sondern auch jenes Struktur-Gitter zugrunde, ein im Grunde kognitives Konzept also. Er würde das vielleicht bestreiten. Die Meditations-Übung, zu der seine Bilder auffordern, besteht gerade darin, sich auf den Kontrast zwischen Kognition und Affekt zu konzentrieren.

3.

[V68:5] Die Bilder Tysons und Hugonins scheinen auf den ersten Blick eindeutig, leicht faßlich zu sein, einem elementaren Konzept von Pictogramm zu folgen. Erst im Wechselspiel von Eindruck und Reflexion des Eindrucks entfaltet sich allmählich die ästhetische Erfahrung. Bei den Bildern Julia Farrers scheint es umgekehrt zu sein: zunächst eine höchst komplexe Verschränkung von spitzen Winkeln, von dominierenden Geraden, von Schraffuren und leeren Flächen, kontrastiert zu farbiger Tiefe und aufgesetztem Licht. Je länger ich indessen diese Bilder anschaue, um so einfacher werden sie. Das ist ein pythagoreischer Effekt: hinter der sensuellen Unübersichtlichkeit der Welt erscheint die Zahl und das proportionale Verhältnis, Dreieck und Rhombus. Wer will, darf dazu, in historischer Erinnerung, Nicolaus von Cusanus oder die Proportionsstudien seiner Künstler-Zeitgenossen der Frührenaissance, auch das
Bauhaus
, assoziieren. Nach solchen historischen Exkursen wieder zurückgekehrt zur Wirklichkeit der Bilder Julia Farrers sehen wir: der gleichsam objektive Parameter der Meß-Zahlen in der Vertikale; die doppelte Lesart der Rhomben, planimetrisch oder perspektivisch; Licht und Schatten; schließlich auch die nicht prognostizierbare Farbigkeit der Welt. Nun, bei nochmaligem Betrachten, läßt es sich noch einfacher sagen: es ist die Winkelbrechung, in Opposition zur Farbe, die die ganze Malerei Julia Farrers in Bewegung bringt. Der Titel der Serie
Babel
klingt deshalb wie ein ästhetisches Programm, oder doch wie eine fundamentale Frage: Läßt sich, angesichts der Vielfalt der
Sprachen der Kunst
oder der
Weisen der Welterzeugung
(N. Goodman), wenigstens für den Seh-Sinn eine elementare Grundfigur finden? Julia Farrers Antwort ist so vorläufig, wie auch alle Antworten nach ihr bleiben werden, und zwar solange, wie wir nicht wissen, wie die Idee des Dreiecks in unseren Kopf und dann auch in den Augen-Sinn kommt. Hier aber geht es nur um diesen. Ich denke, daß die besondere Aufmerksamkeit, die ihre Bilder auf sich ziehen, darauf beruht, daß sie drei für unsere Gegenwart wichtige Fragen aufeinander bezieht, wenngleich in der Form abstrakter Figurationen: Struktur, Erinnerung und Subjektivität.
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0.

[V68:6] Drei Maler, drei elementare ästhetische Projekte: Das Rechteck und die farbige Fläche (Tyson), die Stufen von Helligkeit und ihre rhythmische Figuration (Hugonin), die Winkelbrechung und ihr Kontrast zur Tiefe des äußeren und inneren Raumes (Farrer). In allen drei Fällen auch eine Opposition von Oberflächen- und Tiefenstruktur, von Erscheinung und Idee. In jedem der Fälle aber gilt, wie mir scheint, daß uns durch das gezeigte Objekt nahegelegt wird – durch eine auf unsere ästhetische Wahrnehmung zurückgelenkte Reflexion –, die Idee oder den Begriff zu finden, der dazu paßt. Durch keinerlei äußere Opportunität oder sonstwie praktische Zweckmäßigkeit, durch keine figurale Anspielung auf sogenannte Wirklichkeit werden wir von dieser Frage abgelenkt. Ich bin mit diesen Bildern ganz
bei mir
, freilich nur bei meinen optischen Empfindungen und ihren kognitiven Korrelaten; bei der Wirklichkeit und Möglichkeit, der generativen Grammatik also, meines Augen-Sinnes. In der europäischen notierten Musik gibt es vier elementare Parameter: Tonhöhe, Dauer, Lautstärke und Klangfarbe. Welche Parameter gelten für die Malerei? Drei Maler, drei Vorschläge.