Frühbürgerliche Jugend – Bildungsgeschichtliche Lesefrüchte [Textfassung a]
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Frühbürgerliche Jugend – Bildungsgeschichtliche Lesefrüchte

[094:1] Geschichtliche Erinnerung hat, ebenso wie beispielsweise die ethnologische Forschung, neben einigen anderen Vorteilen auch diesen: Sie kann den Blick auf unsere eigene Gegenwart verfremden. Eine derartige Distanzerfahrung scheint mir heute im Hinblick auf pädagogische oder bildungstheoretische Problemstellungen nützlich zu sein. Die Dramatik, in der uns die Veränderungen des Jugendalters in unseren Jahrzehnten erscheinen – z.B. Ausbildungs- und Arbeitsplatzprobleme, Schwierigkeiten mit Identitäts- und Sinnproblemen, lebensgeschichtliche Zukunftsleere, ritualisierte Lebensentwürfe, der Griff nach Religionssurrogaten, zwischen Apathie und Gewaltausbrüchen eingespannte Vereinzelung, nebenpolitische Gruppen-Ästhetisierungen – diese Dramatik ist gewiß mehr als ein Anschein. Wir können aber nicht schlechterdings vermeiden, daß uns im Rahmen noch unmittelbarer Lebenserinnerung die beobachteten Erscheinungen übergewichtig werden, die auf nur wenige Jahrzehnte verteilten Varianten uns wie Ereignisse vorkommen, die sonst über Jahrhunderte sich erstreckten. Vielleicht befinden wir uns wirklich in einer
Krise
– aber dieser Meinung waren auch Nietzsche vor 100, Lessing vor 200, Comenius vor 300 Jahren.
[094:2] Indessen: Ich will die Vermutung, daß die gegenwärtige
Krise
des Jugendalters in der neuzeitlichen Geschichte nicht ihresgleichen hat – allzuviel spricht dafür – nicht beiseite schieben. Jugendliche, die heute aufwachsen, denen die Individualitäts- und Selbstverwirklichungs-Konzepte der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam schon in die Wiege gelegt wurden, sind, angesichts der
Markt-Chancen
solcher Konzepte, in einer mindestens ziemlich anderen Schwierigkeit ihrer lebensgeschichtlich-sozialstrukturellen Lage als frühere Generationen. Das setzt einen Umweg über das 16. Jahrhundert in seiner Bedeutung naturgemäß herab. Wir können von einer derartigen geschichtlichen Erinnerung gewiß keine Aufschlüsse |a 147|über gegenwärtig relevante Lösungen erwarten. Wir könnten aber vielleicht theoretische Gelassenheit lernen, wenn wir uns vergewissern, wie alles anfing und welche Problemkonstellationen im gesellschaftlichen Verhältnis der jungen Generation vielleicht eine großräumigere Geschichte haben. Ich versuche im folgenden einen solchen Umweg, und zwar über zwei Paraphrasen von Autobiographien aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und einem kommentierenden Nachtrag.

Thomas

[094:3] Im Alter zwischen 12 oder 13 Jahren zieht Thomas Platter, geboren um 1500, ein Bauernjunge aus dem Wallis, mit einer Gruppe Jungen, die teils gleichaltrig, teils älter sind, durch Deutschland. Die älteren nennen sich
Bacchanten
, die jüngeren
Schützen
. Jeder Bacchant hat einen Schützen, der für ihn den Lebensunterhalt zusammenbetteln muß. Zweck der Reise ist es, die gelehrten Schulen zu besuchen, aber es kommt nicht recht dazu. Thomas schreibt beispielsweise:
Zu Naumburg blieben wir etliche Wochen ... wir besuchten da keine Schule
; als der Schulmeister sie mit Hilfe seiner Schüler zum Schulbesuch einfangen wollte,
warfen wir Buben Steine nach ihnen, daß sie weichen mußten. Wir vernahmen darauf, daß wir von der Obrigkeit gesucht wurden. Wir nahmen des Nachts drei Gänse und zogen in den anderen Teil der Stadt. Dann zogen wir nach Halle in Sachsen und wir gingen in die Schule zu St. Ulrich.
(Platter o.J., S. 37 ff.)
Sie wurden
ungebührlich
behandelt und gingen nach Dresden.
Daselbst war gar keine gute Schule und unsre Schlafkammer voll Läuse, daß wir sie nachts im Stroh unter uns knistern hörten
(S. 39)
. Also zogen sie weiter, nach Breslau. Immerhin bleiben sie dort gut ein halbes Jahr; dann wieder zurück, jetzt nach Nürnberg und München, dann nach Straßburg, nach Schlettstadt, wieder nach München usw., fünf Jahre lang.
[094:4] Thomas und seine Gesellen sind arm. Sie besitzen nur, was sie erbetteln. Häufig haben sie tagelang nichts Rechtes im Magen.
Den Winter schlafen die Schützen auf dem Herde der Schule, die Bacchanten aber in den Zellen ... den Sommer aber ... lagen wir auf dem Kirchhof, trugen Gras zusammen ... lagen darin wie Säue auf der Streu
(S. 42)
. Tagsüber dann ein wenig Schule, die meiste Zeit aber geht beim Betteln und Stehlen drauf: Gänse, Rüben, Zwiebeln, Töpfe, Brot, Salz.
[094:5] Thomas kennt zwar gedruckte Bücher, aber die kommen im Unterricht nicht vor. Er erlernt während dieser Jahre ein wenig Schreiben und Lesen, ein paar lateinische Brocken, aber viel Singen.
[094:6] Thomas macht nahezu alles, was ihm das Überleben ermöglicht: er übernimmt Botengänge, pflegt den Hund einer Bürgersfrau, arbeitet einige |a 148|Wochen in der Werkstatt eines Seifensieders, später bei einem Seiler, einem Drucker – und immer wieder wird er von seinem Bacchanten zum Betteln gezwungen. Nach fünf Jahren wird es den beiden – sie hatten sich schon vorher von der Gruppe getrennt – zuviel;
wir zogen also heim nach Wallis
. Dort hatte er seine späte Kindheit als Ziegenhirte zugebracht, nicht etwa im elterlichen Haus, sondern bei einem fremden Bauern. Aber er ist offenbar nicht gern gesehen und notiert nur lakonisch;
In der Zeit hatte meine Mutter einen anderen genommen ... deshalb hatte ich nicht viel Zuflucht bei ihr
(S. 48)
. Mit Worten, die Gefühle auszudrücken vermögen, ist er sehr sparsam;
nicht viel Zuflucht
ist für seine Verhältnisse schon ein starker Ausdruck. Einmal weint Thomas, als er, allein auf einem Hügel am Bodensee sitzend, seine Schweizer Berge sieht; da ist er 16. Jahre alt. Und
Schmerz
empfand er
(S. 52)
, als er sich von einer Metzgerfamilie in München trennen mußte, die ihn
so freundlich gehalten hatte
. Als er dann aber
über den See nach Konstanz
kam
und etliche Schweizerbäuerlein in weißen Jöpplein sah, ach mein Gott, wie war ich so froh; ich meinte, ich wäre im Himmelreich
(S. 55)
.
[094:7] Als Thomas ungefähr 18 Jahre alt ist, nach dem vergeblichen Versuch, bei seiner Mutter wieder aufgenommen zu werden, erwirbt er bei einem offensichtlich sehr guten Magister Artium an der Gelehrtenschule in Schlettstadt innerhalb eines halben Jahres den Grundstock dessen, was damals (1518) für eine intellektuelle Bildung nötig war: fließend lateinisch lesen und schreiben. Aber nun hat es Thomas plötzlich eilig: Es geniert ihn, mit Zehnjährigen in einer Klasse zu sitzen; er will nicht mit den Sanges- und Meßpflichten in der Kirche
so viel Zeit versäumen
; er ist stolz, daß es ihm gelingt, einem kleinen Jungen das ABC an einem Tage beizubringen; die Ablenkungen durch die Bedenkenlosigkeit von Freunden und die Nötigung, irgendwie sich seinen Lebensunterhalt zu schaffen, werden ihm lästig:
Ich hätte gern studiert; denn ich erkannte, daß es Zeit sei
(S. 62)
.
[094:8] War damit seine Jugend zu Ende? Als Neunzehnjähriger ist er in Zürich, als Schüler eines in der Region – bis nach Basel und Bern hin – angesehenen Lehrers und Predigers am Zürcher Frauenmünster. Der nahm ihn in seinen Haushalt auf und übertrug ihm, als Abzahlung auf den Freitisch, die Aufgabe eines
Kustos
an der Kirche: Er hatte die Meß- und Sängerknaben zu beaufsichtigen. Dieser Lehrer schreibt Thomas,
hörte mich gern erzählen, wie ich durch alle deutschen Lande gelaufen und wie es mir allenthalben ergangen war
(S. 64)
. Und er setzt hinzu:
Das wußte ich damals wohl
, d.h. er war sich der Bedeutung, die jene/wenn auch entbehrungsreichen, Wanderjahre für seinen Bildungsprozeß hatten, sehr wohl bewußt. Aber er wußte mehr als das: Er hatte sich, in den vorangegangenen Jahren, mit dem Gedanken der Reformation auseinandergesetzt. Das teilt er – wie eigentlich alles, was uns heute bedeutend erscheint – eher neben|a 149|bei mit: Jener Lehrer
hatte bereits die rechte Religion
(S. 64)
. Und als er Zwingli über das Evangelium des Johannes predigen hörte, da war es ihm,
daß ich wähnte, es zöge mich einer beim Haar in die Höhe
(S. 68)
. Und als er einmal des frühen Morgens, weil er kein Geld für Feuerholz hatte, aus Kälte nicht studieren konnte, ging er vor der Frühmesse in das Frauenmünster, holte sich eine holzgeschnitzte Heiligenstatue und machte sich damit ein warmes Zimmer (ein Miniatur-Beitrag zur Geschichte des Bildersturms). Und als in Baden (eine kleine Stadt zwischen Zürich und Basel) der berühmte Papist Dr. Eck eine Disputation über die neue Ketzerei veranstaltete, zu der auch Zwingli eingeladen wurde, damit man ihn, außerhalb der schützenden Mauern der Stadt Zürich, wegen Ketzerei verhaften könnte – Zwingli aber auf Anraten seiner Freunde nicht erschien und also die Disputation in Baden ohne ihn stattfand, an seiner Stelle nur einige Sympathisanten, die der päpstlichen Partei weniger wichtig waren –, da war Thomas der Botengänger zwischen Baden und Zürich. Er hörte der Disputation zu, schrieb die Argumente danach im Verborgenen auf, denn es war bei Todesstrafe verboten, während der Disputation mitzuschreiben, brachte die Aufzeichnungen dem Zwingli (25 km Fußmarsch) und dessen Argumente wieder zurück zur Stützung der antipäpstlichen Fraktion in diesem öffentlichen Disput (S. 77 ff.).
[094:9] Dies alles war schon im Jahre 1526. Thomas war 26 oder 27 Jahre alt. Und sein Leben nahm nun eine stetige Richtung. Die Wirren waren vorüber; er machte bald das Magister-Examen, war einige Zeit Hauslehrer, betrieb eine Druckerei, ging an die Gelehrtenschule und wurde schließlich Rektor eines Gymnasiums in Basel.

Felix

[094:10] Die Lebensbeschreibungen des Thomas Platter haben dessen Sohn Felix veranlaßt, desgleichen zu tun. Felix war gründlicher: Er führte ein Tagebuch, um nicht, wie sein Vater, später nur auf Erinnerung und ihre Risiken angewiesen zu sein.
[094:11] Felix begann nicht als Hirtenjunge, sondern als Sohn eines angesehenen Baseler Bürgers aus dem Mittelstand. Mit 12 Jahren kann er lesen und schreiben, aber mit 16 immer noch nicht richtig rechnen (die verschiedenen Rechnungen, die er in seinem Tagebuch aufmacht, stimmen meist nicht). Felix liebt Musik, baut sich selbst ein primitives Saiteninstrument, erhält dann Lautenunterricht bei verschiedenen Lehrern und spielt
den buren und druckeren
im Wirtshaus und in der Werkstatt seines Vaters etwas vor. Stolz notiert er, daß man ihn, als er mit 16 Jahren nach Montpellier geht, dort
l’Alemandt du lut, den teutschen lutenisten, nennet
(Platter 1976, |a 150|S. 72)
. Aber singen mochte er nicht,
da ich gar schamhaft gewest
; er mochte nicht vor den Leuten das Maul so weit aufreißen, daß man die Zähne sieht. Die öffentlichen Theateraufführungen auf den Plätzen der Stadt faszinieren ihn. Es werden fast nur Szenen aus dem christlichen Historienbestand gespielt, nicht von Schauspielern, sondern von den Bürgern der Stadt; auch sein Vater spielt mit. Der Realismus in der Darstellung wurde so weit getrieben, daß in einer Henkerszene der Spieler fast tatsächlich umgekommen wäre. Felix und seine Freunde spielen die Stücke nach und blessieren sich dabei schrecklich. Felix zeichnet gern und viel.
[094:12] Felix ist gierig nach Obst und Süßigkeiten; aus der Apotheke seines Pflegevaters in Montpellier holt er sich heimlich süße Kräuter, besonders gern ein Heilmittel aus Zucker und Rosenblättern; oft ißt er so viel davon, daß er sich erbrechen muß. Bier und Wein mag er nicht; er trinkt fast nur Wasser.
[094:13] Der Tod ist in Felix’ Jugend immer gegenwärtig. Es wird dauernd gestorben, besonders während der Pest, als Felix zwischen 14 und 16 Jahre alt ist: Onkel und Tanten, Vettern und Basen, Geschwister sterben; er ist häufig dabei anwesend. Anwesend ist er aber auch bei einer Geburt: Während der Abendmahlzeit kommt im selben Raum hinter einem Vorhang ein Kind zur Welt. Er ist bei öffentlichen Hinrichtungen anwesend, sieht, wie jemand aufs Rad geflochten, jemand enthauptet, jemandem ein Pfahl durch die Brust geschlagen wird (S. 94 ff.). Das
Verbrechen
gehört für ihn zum normalen Lebensrisiko. In einem Gasthaus in der Südschweiz, auf dem Weg nach Frankreich mit 16 Jahren, werden er und seine Reisegesellen nachts von einer Räuberbande bedroht, so daß sie die Tür ihres Schlafraums verbarrikadieren und das Haus heimlich durch das Fenster verlassen (S. 133 ff.).
[094:14] Felix interessiert sich für die Medizin, besonders für die Anatomie. Er schaut zu, als – des Nachts und außerhalb der Stadt – der Leichnam eines Hingerichteten von anatomisch interessierten Bürgern (Lehrer, Pfarrer, Apotheker) seziert wird, so daß
das corpus stuckweis zerschnitten hin und wider lag
(S. 104)
. Sein Vater, der auch dabei war; aber habe
zenach gedrumt, er habe menschenfleisch geßen, dorab erwacht und sich über diemaßen erbrochen
(S. 104 f.)
. An der Universität von Montpellier, ein Jahr später, ist ihm die Anatomie das Interessanteste. Die anatomischen Vorlesungen, in dafür eigens neu gebauten Hörsälen mit im Geviert ansteigenden Sitzreihen, sind öffentliche Ereignisse; nicht nur Studenten, sondern auch Bürger jeden Alters und Standes, ja sogar Frauen sind anwesend,
ob eß glich ein mans person
(S. 151)
, wie Felix schreibt. Ebenso las er viel in
Kräuterbüchern
, sammelte allerlei Pflanzen (S. 111), schaute beim Metzger zu, um die inneren Organe zu sehen, und dachte beim Anblick lebendiger Tiere:
Waß wunder dregst du in dir und wirt der metzger finden?
(ebd.)
.
|a 151|
[094:15] Felix wuchs im Hause eines Humanisten auf, noch dazu eines reformierten. Er las; deutsch, lateinisch, griechisch; nicht nur Kräuterbücher und das Neue Testament, sondern auch Terenz, die Komödien des Plautus, den Homer; wohl auch Sebastian Brants
Narrenschiff
, das kurz zuvor Albrecht Dürer mit Holzschnitten illustriert hatte. Von seinem Vater wußte er, daß Lesen und Argumentieren gelegentlich gefährlich sein konnte, zwar nicht in Basel, aber beispielsweise in Bayern. Als er 16 Jahre alt ist, erzählen ihm gleichaltrige Freunde, wie sie zugeschaut haben, als in Lyon fünf junge Männer öffentlich verbrannt wurden, die sich durch das Lesen der Schriften des Genfer Reformators Calvin und den öffentlichen Gebrauch seiner Argumente unbeliebt gemacht hatten. Sein Vater druckte damals gerade eines der Werke dieses Autors. In Montpellier (1552) sah er zu, als auf den Straßen Bücherverbrennungen stattfanden, und er notiert das staunend-lakonisch; er hält sich häufig in Buchhandlungen auf und sucht das Gespräch, auch mit
bebstischen Pfaffen
, um seine Urteilskraft auszuprobieren.
[094:16] Felix, von der Andersartigkeit des Klimas, der Landschaft und der Vegetation im Languedoc fasziniert, notiert in einem dafür eigens eingerichteten Büchlein volkswirtschaftlicheEigentümlichkeiten der Gegend
(S. 176 ff.)
:
Wie man die oliven inmacht
,
wie man das Baumöl macht
,
wie man das wagß bleicht, das eß weis wirt
,
wie man das meersaltz macht
,
wie man im meer fischet
. Er schreibt die Rezepte der Speisen auf. Er stürzt sich in die provencalische Geselligkeit, lernt die Galliarde, Branle, Volte während nächtlicher Treffs der Bürgerjugend tanzen (die Volte war, wegen angeblicher Unanständigkeit, von der kirchlichen Obrigkeit verboten). Und als guter Lautenschläger ist er überall gern gesehen.
[094:17] Felix beschreibt, wie sein Vater, den Ablauf der Lebensereignisse in einer einfachen, nüchternen Sprache. Stärkere Gefühle werden nur bei Tod oder Trennung deutlich. Als der Vater ihm in einem Brief den Tod seiner Schwester, die an der Pest verstarb, mitteilt, notiert er:
mein hertz wolt mir zerspalten; auch heute noch ... den brief on thren nit läsen kente
(S. 17
. Auch die tiefe Traurigkeit seines Vaters bewegt ihn sehr, und daß der Vater sich damit zu trösten sucht, daß Felix ihm eines Tages eine Schwiegertochter ins Haus bringen wird. Als er sich zur Reise nach Montpellier – drei Wochen zu Pferde und mit mancherlei Aussicht auf Gefahr – verabschiedet, versagt seinem Vater die Stimme;
Felix vale
wollte er sagen, aber kam nur bis zum
va ...
und ging drurig hinweg, welches mir mein hertz seer bewegt, also daß ich hernoch druriger die reis volbracht, deren ich mich zefor gefreuwet hatt
(S. 131)
. Und in Avignon, unterwegs und unverhofft allein ohne seinen Gefährten, notiert er: Da
fieng mich an ... ein solch verlangen, in mein Vatterlandt wider zerreißen ... daß ich in stal gieng zu meinem rößlin, umfieng es und weinet, wie auch das rößlin, |a 152|daß allein do stundt , nach anderen pferden stets wieherte, als hette es auch ein beduren ob unserer einöde
(S. 142)
. Die Orgelmusik in einer Kirche tröstet ihn dann ein wenig.

Kommentierender Nachtrag

[094:18] Naturgemäß ist meine
Erzählung
bereits ein Stück Kommentar. Ich habe den frühneuhochdeutschen, gelegentlich auch alemannischen Text in modernem Hochdeutsch referiert (dabei gehen Nuancen verloren); ich habe die vielleicht 400 Textseiten (Thomas und Felix zusammengerechnet) auf das konzentriert, was mir wesentlich erscheint; ich habe schließlich die Informationen der Quellentexte nicht in der Chronologie der Quelle mitgeteilt, sondern nach Maßgabe einer eigenen Gliederung. Es würde hier zu weit führen, die methodologischen, besonders die hermeneutischen Probleme derartiger Operationen zu diskutieren. Mein Kommentar bleibt deshalb auf inhaltliche Probleme beschränkt. Und im Hinblick auf diese möchte ich die folgenden Fragen einer Geschichte der Bildung im Jugendalter zur Sprache bringen:
[094:19] Darf man autobiographische Informationen, wie die referierten, so lesen, daß in ihnen jugendalterstypische Bildungsprobleme des 16. Jahrunderts beschrieben werden?
[094:20] Gab es für die ca. 12– bis 18jährigen jenes Jahrhunderts so etwas wie ein
Entwicklungs
- und
Identitäts
- Problem?
[094:21] Welches waren die kulturellen und sozialstrukturellen Besonderheiten, die uns die gesellschaftliche Formierung dieser Bildungsphase verständlich machen könnten?
[094:22] Ich beginne mit der letzten Frage; nicht etwa, weil ihre Beantwortung schon die alles determinierenden Bedingungen anzugeben vermöchte, sondern, weil sie einen unerläßlichen Rahmen von Bedeutungen anzeigt.
[094:23] 1. Auffallend ist die Differenz zwischen dem
Jugendalter
von Thomas, und dem seines Sohnes Felix
. Thomas ist ein Emigrant in doppeltem Sinne: Er wandert nicht nur aus seiner Heimat, dem Wallis, aus, sondern auch aus seiner bäuerlichen Herkunft. Sein Jugendalter ist sozialstrukturell bestimmt durch zwei Übergänge: Er will (will!) den Übergang zur Stadtkultur schaffen und den Übergang in eine intellektuell-literarische Elite. Dazu gehört – wenn man beides will –
Erfahrung
im genauen Wortsinne. Er entflieht der
Tragödie der Gleichförmigkeit
(Borst 1983, S. 533)
und erkundet die Räume, eine dermals schon unter Verdacht geratene, noch aus dem Hochmittelalter stammende Attitüde, mit der man nun, zu Beginn der Neuzeit und unter dem Auge städtischer Armen-Administration (Sachße/Tennstedt 1980, Mollenhauer 1986), riskierte, als
Vagabund
|a 153|und Abweichler klassifiziert zu werden. Es ist deshalb wichtig für ihn, daß sein Lehrer ihm zuhört, wenn er über seine Wanderungen in Deutschland berichtet, denn
der Raum ist so groß wie das eigene Bewußtsein
(Borst 1983, S. 532)
oder, umgekehrt, das Bewußtsein reicht so weit wie der Blick oder wie die Füße tragen. Mit dieser
Erfahrung
, deren Praxis zwar schon suspekt, deren Resultat aber willkommen war, stützt er die neuen städtischen Mittelschichten und wird von ihnen akzeptiert, zumal er nicht nur Magister Artium, sondern auch Drucker wird. Sein Jugendalter ist eingespannt zwischen der bäuerlichen Herkunft als Ziegenhirt und der – in Halle, Breslau, München und Schlettstadt – allmählich gebildeten Vorstellung einer Existenz, die im intellektuellen Diskurs ihr Zentrum hat. Thomas ist an Armut gewöhnt, aber was treibt ihn zu sagen, daß ihm die Zeit mangelt? Kein Bauer würde auf diese Idee kommen, damals. Offenbar hat sich ihm etwas mitgeteilt von dem, was
städtisch
ist, aber nur von der intellektuellen Seite her. Seine Jugend ist ein Aufstieg, aber vorwiegend intellektuell. Mit Geld kann er auch als Erwachsener nicht umgehen.
[094:24] Anders Felix. Er verfügt mit 12 Jahren schon über den intellektuellen Bestand, den sein Vater erst mit 18 Jahren erwarb. Felix wächst als Städter auf, beginnt seine Jugendzeit also auf der Plattform, die sein Vater gerade am Ende derselben erreicht hatte (wir dürfen uns diesen Generationenübergang ziemlich dramatisch denken). Felix hat vielleicht noch nicht in Basel, jedenfalls aber in Montpellier diesen sozialstrukturell dramatischen Übergang erlebt: Das Stadtviertel, in dem er als Austausch-Schüler bei einem Apotheker lebt, entwickelte sich in jenen Jahren zum Wohnort der bürgerlichen Oberschicht; hundert Jahre vorher gab es dort noch 22 gespannbesitzende Ackerbauern, 1550 keinen mehr. Im Nachbarviertel gab es im 15. Jahrhundert ungefähr fünf Textilhandwerker; zu Felix Platters Zeit waren es über zwanzig, zehn Jahre später schon ungefähr sechzig (Mieck 1982). Er erlebt den Höhepunkt der Kornteuerung und die Verarmung besitzloser Bevölkerung ländlicher Abstammung, die an den Stadträndern wohnt. In seinem Text spricht er von
Arbeitern
. Die Handwerker Montpelliers sind bereits zu 75 % alphabetisiert (im europäischen Gesamtdurchschnitt waren es höchstens 10 %); sie neigen mehrheitlich der neuen
Ketzerei
des Calvin zu. Der 16jährige notiert das zwar; viel stärker aber bewegen ihn die Entdeckungen seines Studiums und die ausgelassenen Feste und Tänze seiner Altersgenossen. Dieses Dreieck von Ökonomie, Wissen und Geselligkeit ist gleichsam herumgezeichnet um das strenge Hauswesen seines Pflegevaters, des Apothekers. Sein Vater hatte sich solcher Zucht entziehen können nur durch entbehrungsreiches Vagabundieren. Felix vertauscht die Strenge des Elternhauses gegen die der Pflegefamilie; er wird gehalten wie die Kinder und Dienstboten, schläft in einer Art Abstellkammer – und ist andererseits in der Anatomie dem Fortschritt |a 154|bürgerlicher Wissenschaft, beim Tanz der Volte dem Zwischenfeld jugendlicher
Subkultur
unmittelbar konfrontiert.
[094:25] Freilich gilt dies alles nur für eine statistisch dünne Sozialschicht der städtischen Bevölkerung. Dennoch gebieten derartige Beobachtungen Vorsicht gegenüber Meinungen, die für die Entstehung des Jugendalters den nachständischen Qualifikationsbedarf an Arbeitskräften unter industriellen bzw. kapitalistischen Bedingungen geltend machen wollen (Krafeld 1984, Lessing/Liebel 1974). Richtig scheinen mir derartige Meinungen im Hinblick darauf zu sein, daß die ökonomischen Bedingungen seit dem 19. Jahrhundert eine Art Universalisierung des Jugendalters als Zwischen- und Ausbildungsphase für alle besorgten. Ebenso richtig scheint mir aber, daß das kulturelle Projekt Jugendalter, wenn auch zunächst nur in statistisch kleinen und gesellschaftlich privilegierten Gruppen, in den in Bewegung geratenen frühbürgerlichen Verhältnissen begann, als die Städte eine ökonomische Umgruppierung ergriff, ein neuer Wissenstyp den intellektuellen und ökonomischen Nachwuchs faszinierte und sich mit einer neuartigen Zeitperspektive verband. Hundert Jahre nach den Erfahrungen Felix Platters in Montpellier war diese Problemstellung bereits theoriefähig, in der
Schola juventutis
des Comenius (Comenius 1960, S. 345 ff.), einer didaktischen Theorie des Jugendalters.
[094:26] 2. Dürfen wir also die referierten Lebensberichte so lesen, daß sie charakteristische Bildungsprobleme des Jugendalters zum Thema machen? Felix im Unterschied zu seinem Vater, der es erst mit 18 Jahren eilig hatte, seine intellektuellen Studien, zu vollenden – bildete relativ früh ein starkes Leistungsmotiv aus: Seine Mutter ermahnte ihn, als sie im Sterben lag und er 14 Jahre alt war:
Ich besorg ... du werdest etwan ... ein schlumpe, die kein haushalterin sy, zum weib nehmen, so bist du verdorben und wirt nichts auß dir
; und Felix denkt bei sich:
du wilt dich also halten, daß du auch hoch anhin kommest
(S. 109)
. Seine erste Liebe beginnt dadurch, daß er hört, wie Freunde seines Vaters ein Nachbarmädchen wegen ihres Fleißes, ihrer haushälterischen Fähigkeiten und anderer
allerley Umstenden
rühmen. Und schließlich beeindrucken ihn immer wieder die dauernden Klagen seines Vaters über dessen Schulden, besonders aber ein Brief mit der Mitteilung, daß es in Basel nun schon sehr viele Mediziner gebe und er nur dann in Basel etwas Rechtes werden könne, wenn seine Examina außergewöhnlich gut ausfallen würden. Außerdem: Felix, im Alter zwischen 12 und 18 Jahren, ist durch eine doppelte Status-Passage bestimmt: Er will den Erwachsenenstatus des Stadtbürgers erreichen, und er will nicht nur intellektuell, wie sein Vater, sondern auch ökonomisch in die Stadtelite aufsteigen. Für beides sind Vorübungen nötig, die seine Jugendzeit ausfüllen. Überdies hat er selbst einen deutlichen Begriff von der Eigenart dieser Passage: Bei seinem Vater noch gingen Kindheit und |a 155|Jugend fast bruchlos ineinander über; die Abenteuer, die Thomas im Umkreis Zwinglis als Zwanzigjähriger erlebte, werden in der gleichen Attitüde mitgeteilt wie seine Erlebnisse als Zehnjähriger im Schnee der Schweizer Berge. Felix dagegen setzt sich, als er 14 Jahre alt ist, deutlich und wörtlich gegenüber seiner Kindheit ab, und als er 17 Jahre alt ist, vermerkt er ausdrücklich, noch nicht erwachsen zu sein. Überdies strukturiert er die Erzählung seiner Kindheitserfahrungen unchronologisch, nur als Reihung von Ereignissen, die untereinander gleichgewichtig scheinen. Die Jugendzeit aber wird bereits als Bildungsbewegung in der Zeit dargestellt. Ihn interessiert nicht nur die gleichsam naturwissenschaftliche Attitüde des Metzgers beim Schlachten, er arbeitet sich an die Möglichkeiten und Grenzen dieser Erkenntnisweise allmählich heran, in der doppelten Bewegung von Anatomie- und Kräuter-Studium. Seine Ortsangaben und -beschreibungen sind keine nur punktuellen Impressionen – wie im Lebensbereich seines Vaters –, sondern dokumentieren Raum-Erfahrung, das Erlebnis von Distanzen und fremden Architektur-Physiognomien. Seine Aufmerksamkeit, in dieser nun schon vielleicht alterstypischen Passagen-Situation, registriert das Neue und Fremde, das er als 16jähriger auf der Reise nach Montpellier antrifft.
[094:27] Das alles jedoch gerät in Konflikt mit Gefühlen von Zugehörigkeit oder Verbundenheit. Stimmt es denn wirklich, daß das Verhältnis zwischen den Generationen damals, etwa wegen der hohen Kindersterblichkeit (die Hälfte aller Kinder starb vor dem 16. Lebensjahr), eher kühl war, daß emotionale Probleme deshalb auch für das Jugendalter weniger ins Gewicht fielen (Aries 1975, Beuys 1980, Shorter 1977)? Von äußeren Motiven des Handelns ist allerdings viel, von inneren wenig die Rede; konventionelle Rücksichten scheinen wichtiger als privates Wollen; psychologische Reflexionen gibt es kaum, alles Wichtige wird als gleichsam äußere Geschichte mitgeteilt. Es ist also die (methodische) Frage, wie die wenigen Mitteilungen über Emotionelles, innerlich Bewegendes gewichtet werden dürfen. Das kann nur durch ein sensibles Sich-Einlassen auf die Quellen geprüft werden. Mir scheint, daß in Texten von der Art, wie ich sie hier zugrunde lege, zwei Sätze das gleiche Gewicht haben, wie in irgendeiner modernen Autobiographie, in der wir beispielsweise eine emotionale dramatische Abrechnung mit den Eltern lesen, zehn Seiten. Entscheidend sind, so scheint mir, nicht die Quantitäten, sondern ist die symbolische Organisation des Textes. Schaut man bei solchen signifikanten Textstellen auf das Inhaltliche, dann fällt auf, daß starke Emotionen in der Regel mit Trennungen verbunden sind: Tod, Abreise, Heimweh, Alleinsein. Daß sich mit solchen Situationen eine starke innere Bewegung verbindet, ist nicht nur psychologisch, sondern auch sozialstrukturell plausibel: In solchen Situationen wurde die Probe auf den städtisch intellektuellen Lebensent|a 156|wurf gemacht: Die wenigen Sätze, in denen Thomas Platter gelegentlich
Heimweh
signalisiert, geben Zeugnis von einer Trennungserfahrung (am Bodensee weinte er), die ohne die Annahme einer starken emotionalen Ambivalenz unverständlich bliebe, auch wenn diese Ambivalenz sich nicht, wie in moderner Zeit, auf die Ablösung von der Herkunfts-Kleinfamilie bezieht, sondern auf die Trennung von einem vertrauten Hauswesen. Sein Sohn Felix ist in vergleichbarer Lage schon wortreicher; bei ihm beginnt deutlich zu werden, daß Abschied und Trennung nicht nur jeden ergreift, der von Vertrautem sich entfernt, sondern zu einem speziellen Problem dieser Altersphase wird, zu einer emotional zu bewältigenden Bildungsaufgabe. Die Generationen davor hätten dies in diesem Alter kaum gelten lassen.
[094:28] Zwischen derartigen Problemen des Erfahrens, Wissens und Fühlens in der Status-Passage ist die Bildungsfrage der Jugend in jener Zeit und jener sozialen Schicht eingespannt. Es läßt sich denken, daß eine solche Struktur eine gewisse Dynamik generiert, die besonders das auf den Erwachsenenstatus vorbereitende Alter dramatisch ergreift. Die uns heute vielleicht idyllisch und beschaulich erscheinende Schreibweise jenes Jahrhunderts kann uns täuschen: Nicht die einzeln und liebevoll mitgeteilten Geschichten sind es, die uns die Bildungsprobleme mitteilen, sondern die Bruche im Text: die kalte Berechnung der Ausgaben während der Reise neben dem Schmerz des Vaters über den Abschied; die Lust an der
Volte
, dem neuen exzentrischen Tanz, neben den Pest-Toten, der Angst vor dem Gewitter, der selbstbesinnlichen Lektüre lateinischer Schriftsteller; die an den Bäumen im Rhonetal aufgehängten Protestanten neben den Kräutersammlungen; die Bücherverbrennungen neben dem
Donat
, der damals gebräuchlichen lateinischen Grammatik; die Lust am eigenen Körper, wie in der Schilderung des Badens im Meer, einer Schneeballschlacht, der Liebe zu feiner und bunter Kleidung, neben dem völligen Verschweigen von Sexualität, so als sei diese nichts als ein Beiwerk einer späteren, dem bürgerlichen Fortkommen förderlichen Partie. Ich denke, daß hier, zum ersten Mal in der europäischen Geschichte, das Jugendalter eine eigene Bildungsdramatik zu entfalten beginnt.
[094:29] 3. Diese Dramatik aber hat ihren Brennpunkt in der aufkeimenden Idee von
Identitätssuche
und
Entwicklung
. Verwendet man den Ausdruck
Identität
in bildungstheoretischer Absicht und im Hinblick auf das Jugendalter, dann kann damit nicht einfach eine Übereinstimmung, sei es mit den Personen meines sozialen Umfeldes, sei es mit dem Bild, das ich mir von mir mache, bezeichnet sein; er muß vielmehr einen Bezug zu der Bildungsbewegung enthalten, in der das jugendliche Individuum sich befindet. Diese Bewegung entsteht, wie Piaget sagen würde, durch ein Ungleichgewicht, durch eine Nicht-Übereinstimmung also, und zwar |a 157|zwischen dem, was das Individuum
ist
und dem Entwurf, den es sich von sich macht (Henrich 1979). Wird diese Differenz im Jugendalter aktuell und fordert sie die innere und äußere Tätigkeit heraus, kann man von einer
Identitätsproblematik
des Jugendalters sprechen, die sich in der
Suche
ausdrückt. Das scheint bei Thomas und Felix der Fall gewesen zu sein.
[094:30] Allerdings erzählt keiner der beiden Ausführliches über
Probleme
, die sie mit sich und ihrer sozialen Lokalisierung hatten; auch daß die, wie wir heute sagen würden, bildungsrelevanten Ereignisse irgendeine Altersspezifik hätten, wird nicht mitgeteilt; die berichteten Episoden und Szenen hätten auch Erwachsene so beschreiben können. Es fehlt gänzlich das, was K. Rutschky eine
Jugendrede
nennt (Rutschky 1986), ein Diskurs, in dem die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens zum Thema gemacht werden, sei es in irgendeiner Beobachtersprache, sei es in der Sprache der selbst Beteiligten. Aber müssen wir aus dem Fehlen einer spezifischen
Rede
auch auf das Fehlen der der Rede entsprechenden Problemstellungen schließen, beispielsweise vom Fehlen einer adoleszenten sprachlichem Selbstdarstellung eines 16jährigen Türken heute in der BRD auf das Fehlen spezifisch adoleszenter und nicht nur interkultureller Identitätsprobleme? Für derartige Schwierigkeiten hat die Sozialwissenschaft eine überzeugende Argumentationsfigur zur Hand: Wir interpretieren die sprachliche Selbstdarstellung vor dem Hintergrund oder unter der Leitung von sozialen Struktur-Daten, die uns bekannt sind.
[094:31] Für die moderne Perspektive besteht eine Schwierigkeit darin, daß wir uns Fragen nach der Identitätssuche Jugendlicher auf einer Zeitachse denken. Damit aber geraten wir für Felix, noch deutlicher für Thomas, in Beweisnot. Die ungefähr sechsjährige Wanderschaft durch Deutschland bis zu seinem 18. Lebensjahr wird nur als Ortswechsel erzählt, und man gewinnt den Eindruck, er sei in der Zeit immer derselbe geblieben. Wenn überhaupt, so etwas wie die Differenz von empirischem und entworfenem Ich bildungsbedeutsam war, dann wohl nur in der Raum-Achse biographischer Erfahrung: die Orte, die von Thomas Platter jenseits des (sichtbaren) Horizonts aufgesucht wurden, zwischen München und Breslau ein dauerndes Hin-und-Her, reihen sich als Wechsel zwischen je anders typisierten sozialen Situationen, als ein Ausprobieren möglicher sozialer Lokalisierung, gleichsam in epischer Breite, nicht aber in zeitlich artikulierter Bildungsbewegung (die gleiche
Bildungsbewegung
findet sich schon im Parsifal-Epos). Erst am Ende scheint ihm, daß es nun
Zeit
sei, in der Erwachsenenkultur (ihrer intellektuellen Variante) Fuß zu fassen.
[094:32] Auch für seinen Sohn Felix dominiert noch der Raum über die Zelt. Aber er profitiert bereits von der langen Suche des Vaters. Offenbar waren derartige Jugenderfahrungen zwar noch nicht als
Jugendrede
, in der Form eines Diskurses über
Jugendalter
darstellbar, sie konnten aber doch wohl |a 158|überliefert werden, und sei es durch die Vorsorge des Vaters: Felix braucht nicht zu vagabundieren; er kennt Anfangs- und Endpunkt wenigstens als Orte sozialer Sicherheit; den Raum zwischen Basel und Montpellier kann er, als 16jähriger, deshalb schon in der Zeit durchmessen. Denn schon vorher hatte er ja, wenigstens als Ahnung, sein Identitätsprojekt in der Zeit angelegt: Er deutete es als
ein Zeichen dieses meines berufs
(er wollte Arzt werden und ging deshalb an die berühmte medizinische Fakultät in Montpellier), daß er, beim Metzger zuschauend, dachte,
so ich die thier noch lebendig ansach: waß wunder dregst du in dir und wirt der metzger finden
(S. 111)
. Er hatte sich einen Entwurf gemacht (
beruf
), er hatte zudem diesen Entwurf in die programmatische Differenz von
Metzger
und
Wunder
eingespannt (vielleicht darf man dabei an den Anatomen Vesalius, der 1543 in Basel ein Lehrbuch drucken ließ, einerseits und an Paracelsus andererseits, den Felix’ Vater vermutlich noch gekannt hat, denken?) und begibt sich auf eine Raum-Zeit-Reise, um seine Projekte zu erproben. Warum sollte das keine Identitätssuche gewesen sein?
[094:33] Natürlich war dies alles eingefügt in einen Lebenszyklus, in dessen Rahmen das Jugendalter als eine ziemlich lange, in seiner Thematik ziemlich diffuse, im Hinblick auf die sozialen Abhängigkeiten ziemlich ambivalente Lebensperiode erscheint (Gillis 1980). Aber obwohl diese Lebensperiode zwischen den kollektiven Abhängigkeitsmustern der verschiedenen Hauswesen (Herkunftsfamilie, Pflegefamilie) und den gleichfalls kollektiven Standards der sozialen Formationen zwischen Kindheit und Heirat, die jene Länge, Diffusität und Ambivalenz überbrückten, eingefügt war, bildet sich bei Thomas und Felix doch so etwas wie Individualität heraus, die sie zwar nicht suchten, die sich aber in der Identitätssuche als Balance zwischen dem Möglichen und Wirklichen eingestellt hatte. Eine wichtige Komponente dieser Individualitätsgenese war – so vermute ich – die Druckerpresse. Denn beide, Thomas allerdings erst mit 18, Felix schon mit 12 Jahren, lasen viel. Thomas betätigte sich eine Zeitlang als Drucker, und Felix erbte als 15jähriger von einem Onkel eine kleine Bibliothek. Sie lasen deutsch, lateinisch, griechisch, hebräisch, und zwar, jedenfalls deutsch und lateinisch, bereits in der Form des Massenmediums, nicht in Handschriften. Mindestens für Felix möchte ich behaupten: sein Jugendalter war u.a. dadurch bestimmt, daß er sich als generalisierter Schreiber und Leser hervorbrachte. Als Leser war er – in einer Gesellschaft, deren Mitglieder noch zu mehr als 90 % Analphabeten waren – Teilnehmer eines theoretischen Diskurses, durch den er sieh in Distanz zu seinem frühbürgerlichen Alltag, den Abhängigkeiten des Hauswesens, setzen konnte. Das geschah freilich auch schon durch die Gleichaltrigen-Gruppierungen, in der Scholaren-Bande, mit der Thomas durch Deutschland zog, in der kleinen jugendlichen Theatertruppe, in der Felix mitspielte, oder im Medium der |a 159|ausgelassen-modernen Tänze, die unter der Jugend Montpelliers Mode waren. Die ausgiebige Nutzung des Buchdrucks aber eröffnete eine weitere Chance: Das neue kulturelle Medium eröffnete ihnen, über die traditionalen Passagen-Riten hinaus, eine kulturelle Perspektive der Identitätssuche, die geschichtlich auf nächste Schritte verwies.
[094:34] Die historische Jugendforschung ist sich weitgehend einig, die Entstehung eines
modernen
Begriffs von Jugendalter gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu lokalisieren (zusammenfassend Gillis 1980). Diese These läßt sich durch zwei Autobiographien des 16. Jahrhunderts nicht erschüttern. Zu stark sind die Argumente, die auf die sozialstrukturellen Bestimmungsstücke – Bevölkerungsexplosion, Lebenszyklus, Industrialisierung, Beschulungsgrad, Berufsausbildung – verweisen. Aber
Jugendalter
ist nicht nur eine soziologische oder sozialhistorische Kategorie, sondern auch ein kulturelles Projekt. Wenige Jahre bevor Felix Platter geboren wurde, erschienen die
Vertrauten Gespräche
des Erasmus von Rotterdam; Vater Thomas hatte sie gewiß gelesen. Darin ist ein ironischer Dialog enthalten, der einen ungefähr 17jährigen vorstellt, dessen Tagesablauf ganz durch den Übereifer, sich bilden zu wollen, bestimmt ist, um das Jugendalter, in dieser Hinsicht, nicht traditions-gewohnheitsmäßig verstreichen zu lassen. Manches davon zeigt sich auch in den Jugendjahren von Thomas und Felix. Einige Jahrzehnte vorher schon erschien, als volkstümlicher Druck, die erste zehnstufige
Alterstreppe
, die dem Jugendalter eine eigene Stufe zuwies und die dann, in den Jahrhunderten danach, immer wieder variiert wurde. Nahm die Idee einer eigentümlichen Jugendbildung nicht vielleicht erste Gestalt an, lange bevor dieses kulturelle Projekt in eine die ganze Gesellschaft ergreifende Form transformiert wurde? Und könnte es, zur Klärung von Gegenwartsfragen, nicht nützlich sein, gerade diesen geschichtlichen Umbruch, in Renaissance und Reformation, bildungstheoretisch genauer zu studieren?

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