Klaus Mollenhauer im Gespräch mit Theodor Schulze [Textfassung a]
|a 48|

3. Klaus Mollenhauer im Gespräch mit Theodor Schulze

[V66:5] Theodor Schulze:
[V66:6] Wir beginnen das dritte Gespräch über Kontinuität und Traditionsbrüche in der Pädagogik. Wir haben jetzt sozusagen einen Stellungswechsel vor genommen. wir sprechen jetzt wieder aus der entgegengesetzten Richtung. Ob es ein Paradigmenwechsel ist, das wird sich dann nachher erweisen.Als erstes will ich Dich fragen: Wie bist Du zur Pädagogik gekommen? Bist Du ein geborener Erziehungswissenschaftler oder ist das ein Ausflug in fremde Reviere, der dann zu dauerhaftem Wohnsitz geführt hat, oder ist es ein Zufall oder eine Bekehrung?
[V66:7] Klaus Mollenhauer:
[V66:8] Herr Bollnow hat sicher gut daran getan, als er sagte: Biographische Details seien entbehrlich. Sie wirken ja auch, wenn es um Probleme der Wissenschaftsgeschichte geht, eher peinlich oder bekommen leicht einen sentimentalen Anstrich. Deshalb zögere ich darauf zu antworten. Bei mir ist es sehr trivial. Faktisch war es ein Zufall, daß ich ein Lehrerstudium aufgenommen habe, ich wollte eigentlich Chemie studieren. 1948 gab es einen Numerus clausus, und mein Abiturzeugnis war nicht gut genug, da blieb mir nur Pädagogik übrig. Ich hätte also entweder ein hervorragendes Abitur haben müssen in den naturwissenschaftlichen Fächern oder ich hätte Offizier im Krieg gewesen sein müssen. Da ich zwar im Krieg war, aber kein Offizier, kam des Chemiestudium nicht in Frage.
[V66:10] Daß Dein Vater sozialpädagogisch tätig war, spielte keine Rolle?
[V66:12] Vielleicht. Aber das war damals noch kein Bestandteil einer bewußten Entscheidung. Ich habe allerdings in meinem Elternhaus so etwas wie eine pädagogische Atmosphäre, die auch das Familienleben überstieg, mitbekommen, insbesondere dadurch, daß meine beiden Eltern Sozialarbeiter gewesen sind. Mein Vater war Gefängnispädagoge.
|a 49|
[V66:14] Und diese Entscheidung enthielt bei Dir auch keine Komponente von Abwehr von Erziehungserfahrung, wie das für mich z. B. bei Wilhelm Flitner anklang, wenn er von den schulmeisterlichen Reden in den Lehrerseminaren sprach. Und ich denke, eine ganze Reihe von uns Pädagogen haben ja gewisse Ressentiments aus ihren früheren Erziehungserfahrungen nachträglich theoretisch zu bearbeiten versucht.
[V66:16] Überhaupt nicht; mich hat die Schule einfach nur gelangweilt. Ich habe nie Aggressionen gegen die Schule gehabt. Ich fand es nur langweilig und öde. Ich habe außerdem ein außerordentlich angenehmes Elternhaus gehabt und infolgedessen auch keine schwerwiegenden Autoritätskonflikte mit Vater oder Mutter, die ich dann lebenslang auf arbeiten mußte.
[V66:18] Dann möchte ich zu einem zweiten Themenbereich übergehen: Wilhelm Flitner hat davon gesprochen, daß eine Generation durch bestimmte Ereignisse und Beziehungen geprägt ist, die im Moment des kulturellen Erwachsens um das zwanzigste Lebensjahr herum dominierend waren. Gibt es für Dich solche Ereignisse oder Beziehungen, die generationenspezifisch sind?
[V66:20] Unter denen, die im Jahr 1928 geboren worden sind, sind häufig Unterhaltungen geführt worden über die Frage, ob es etwas Charakteristisches dieser Generation gebe. Es ist die Luftwaffenhelfergeneration. (Außerdem war es einer der besten Weinjahrgänge des Jahrhunderts.) Ich war 15 Jahre alt, als ich eingezogen wurde. Wir mußten die Familie verlassen, zunächst,um die Städte gegen die Luftangriffe zu verteidigen, dann im letzten halben Jahr in reguläre Kampfhandlungen involviert; in der Zeit zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr mußten wir also etwas tun, was für die Altersphase ziemlich abwegig ist. Ich war dann in Gefangenschaft , wie die meisten meiner Generation. Für uns waren schon die ersten Jahre nach 1945 deshalb unterschieden von den Älteren, weil wir nicht aktiv als besonders arrivierte Führer in der Hitlerjugend tätig waren; andererseits unterschieden wir uns von den Jüngeren, weil wir den Krieg, das Ende der Nazizeit in einem |a 50|Lebensalter erlebt haben, wo schon so etwas wie gesellschaftliches Bewußtsein erwacht war. [V66:21] Wäre Peter Martin Röder hier, dann würden vielleicht wichtige Differenzen in den
Milieus
deutlich werden, in denen wir groß geworden sind. Nach der Flucht wohnten wir z. B. bei der Mutter von Klaus Traube, dem Atomphysiker. Die Familie Traube ist eine jüdische kommunistische Familie gewesen, alte Freunde meiner Eltern. Mein Vater war befreundet mit einem Landrat, der gleich nach dem Einmarsch der Besatzungstruppen eingesetzt wurde und der im KZ überlebt hatte. Diese Leute verkehrten dauernd bei uns zuhause. Auch Klaus Traube war im KZ gewesen. Er war ein Jahr älter als ich und hatte bereits KZ-Erfahrung! [V66:22] Dagegen kam mir meine eigene Geschichte fast spielerisch vor. An diesen Vorgängen in meinem Elternhaus war ich natürlich eher hörend beteiligt. Das hat für mich persönlich eine sehr große Rolle gespielt, aber keine unmittelbare Bedeutung für die Wahl des pädagogischen Berufes gehabt: die war eher über langfristige Familientraditionen nahegelegt.
[V66:24] Ich möchte diese Überlegungen auf nehmen und noch etwas vertiefen. Aus den Aussagen von Wilhelm Flitner und O. F. Bollnow habe ich herausgehört, daß hinter ihren pädagogischen Intentionen und Interessen fast so etwas wie eine religiöse Grunderfahrung steht. Gibt es für Dich ein ausgeprägtes Motiv, Dich mit Pädagogik zu befassen? Ist das eher ein religiöses, was darauf zielt, eine letzte wichtige um fassende Erfahrung zu verwirklichen, mitzuteilen? Ist es Neugier, in einem Wissenschaftsgebiet zu forschen und Erkenntnis zu gewinnen?
[V66:26] Das ist eine sehr schwierige Frage. Es sind sicher mehrere Motive, die mich bei der Stange gehalten haben und die nacheinander auftauchen. Ich habe die Vermutung, daß ein sehr wesentliches frühes Motiv eine Art Machtstreben gewesen ist. Ich erinnere mich an Phantasien während des Studiums an der Pädagogischen Hochschule. Ich sah mich in ganz traditioneller |a 51|Manier als Dorfschullehrer, möglichst in einer einklassigen Dorfschule; nicht nur für die Kinder, sondern eigentlich für alle zuständig; eine Art kulturelle Schlüsselrolle. Das ist offensichtlich eine Machtphantasie. Nachdem ich Reichwein gelesen hatte, konnte ich das sogar rechtfertigen. Dann kamen rationalisierende Motive hinzu. Daß ich dann daraus eine wissenschaftliche Karriere gemacht habe, hing wohl damit zusammen, daß mir das Studium pädagogischer Sachverhalte als das interessanteste Studium des Menschen überhaupt erschien. Pädagogik in einer Komplexität und historischen Tiefe, mit systematischen Möglichkeiten, wie ich es in dieser Art in anderen Disziplinen nicht finde.
[V66:28] Du hast von 1948 – 50 an der Pädagogischen Hochschule studiert, hast die zweite Phase der Lehrerausbildung hinter Dich gebracht und bist dann nach Hamburg gegangen. Du hast Pädagogik studiert, insbesondere bei Erich Weniger, Herman Nohl und Wilhelm Flitner. Also in dem Kreis derer, die wir heute immer wieder – vielleicht falsch, aber abkürzend – als geisteswissenschaftliche Pädagogen bezeichnen. [V66:29] Dazu hätte ich fetzt zwei Fragen: Warum hast Du nicht noch eine andere Pädagogik kennengelernt? Es gab ja nicht nur die geisteswissenschaftliche. Die andere Frage: Was ist Dir denn an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wichtig geworden, vielleicht bis heute?
[V66:31] Zunächst muß ich etwas korrigieren: bei Nohl habe ich nicht studiert. Ich habe einmal eine Vorlesung von ihm gehört und eineml an einem Seminar teilgenommen. Etwas gründlicher habe ich es versucht bei Herrn Flitner in Hamburg, aber auch nur drei Semester; dann bin ich nach Göttingen zu Erich Weniger gegangen. Ich hatte W. Flitners
Systematische Pädagogik
gelesen und ging deshalb nach Hamburg. Flitner aber war in dieser Zeit leider mit didaktischen Problemen vollauf beschäftigt. Die Schule hatte ich indessen gerade deshalb verlassen, weil ich vorerst mit Didaktik nichts mehr zu tun haben wollte.
|a 52|
[V66:33] Was waren die Motive, Dich der Sozialpädagogik zuzuwenden?
[V66:35] Zunächst hatte ich wohl etwas arrogant den Eindruck, nach 2 1/2 Jahren Lehrerdasein wüßte ich nun Bescheid, wie es an der Schule ist. Ich hatte den Eindruck, da nicht Neues mehr lernen zu können. Die Hinwendung zur Sozialpädagogik wurde außerdem unterstützt durch den Beruf meines Vaters, durch eine gewisse, mir vielleicht nicht ganz bewußte Neigung zum außerschulischen Bereich. Das dritte Motiv war – auch vermittelt über die Biographie meiner Eltern, die in der Jugendbewegung gewesen waren – mein Interesse an der Jugendverbandsarbeit und Jugendarbeit.
[V66:36] Du sprichst jetzt von der Sozialen Gilde?
[V66:37] Ja, das spielt auch eine Rolle.
[V66:39] Hätte es für Dich auch noch andere Alternativen gegeben?
[V66:41] Nein, die gab es nicht. Aber daran ist nun Weniger schuld, über alles, was nicht in der unmittelbaren oder ganz dichten geisteswissenschaftlichen Tradition lag, hat er uns gegenüber in den Lehrveranstaltungen derart abwertend geredet, daß wir alle das Gefühl hatten, dies lohne sich gar nicht zu lesen. Gelegentlich, etwa in einem Oberseminar, wurden auch andere Traditionen zur Kenntnis genommen. Aber immer schon mit dem Unterton: Eigentlich braucht ihr das nicht, aber man muß sich auch mal damit beschäftigen. Das hat uns jedes Motiv für eine über den provinziellen Göttinger Rahmen hinausgehende Beschäftigung genommen. Blankertz beispielsweise behandelte Weniger wie einen wissenschaftlichen Exoten, weil er sich mit dem Neukantianismus befaßte; und Wenigermeinte, das sei überflüssig, aber immerhin, er sei ein kluger Kopf und es würde auch sicher eine kluge Doktorarbeit werden, aber mehr nicht. Aber vielleicht korrigierst Du mich, wir waren ja zur gleichen Zeit da?
|a 53|
[V66:43] Nein, mir ist es genauso gegangen. [V66:44] Es gab ja nicht nur innerhalb der Disziplinen solche Abgrenzungstendenzen, sondern auch anderen Disziplinen gegenüber. Wir haben Seminare mitgemacht über das Verhältnis von Pädagogik und Soziologie. Die Empfehlung lief darauf hinaus, daß man mit Soziologie keine Pädagogik machen kann. An dieses Urteil hast Du Dich aber nicht gehalten.
[V66:46] Richtig. Dafür gab es wohl drei Motive: Das eine ist Helmut Pleßner, der eindruckvollste Hochschullehrer, bei dem ich je studiert habe. Bei dem habe ich kein Semester ausgelassen. Bei Pleßner habe ich 1954 ein Referat über George Herbert Mead gehalten, als noch niemand in Deutschland über G. H. M. sprach. Norbert Elias
Der Prozeß der Zivilisation
, der dann mit großer Verzögerung von zwei oder drei Jahrzehnten als Taschenbuch wieder auf den Markt kam, wurde dort diskutiert. Pleßner hat mich genötigt, die Deutsche Ideologie von Marx zu lesen. Ich hätte am Pädagogischen Seminar gut überleben können, ohne je Marx gelesen zu haben. Ich hätte nicht bei Pleßner überleben können, ohne Marx gelesen zu haben. [V66:47] Eine ganz große Rolle spielten Freundschaften. Ich war damals beispielsweise befreundet mit Karl Heinz Bohrer, dem jetzigen Herausgeber des Merkur. Mit ihm zusammen habe ich Probleme der Literatursoziologie diskutiert. Da zeichnete sich ab, wie soziologische und sozialwissenschaftliche Problemstellungen in anderen Disziplinen wirklich neue Fragestellungen eröffneten. [V66:48] Schließlich kam hinzu das Thema meiner Doktorarbeit. Wenn man über die Anfänge der Sozialpädagogik in Deutschland schreibt, dann muß man über den Pauperismus einfach etwas wissen. Man muß Sozialgeschichte des beginnenden 19. Jahrhunderts, der beginnenden Klassengesellschaft studieren. So war mir auch dadurch ein sozialgeschichtlicher oder soziologischer Blick abgenötigt.
[V66:50] Bevor ich diese Linie jetzt weiterverfolge, frage ich Dich aber noch, was Dir an der geistenwissenschaftlichen Pädagogik wichtig ist?
|a 54|
[V66:52] Da kann ich direkt an Herrn Bollnow anschließen. Wenn ich das aus meinem gegenwärtigen Interesse heraus sagen darf: Das, was mir an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wichtig ist, ist allein das hermeneutische Verfahren.
[V66:54] Du sagtest vorhin, es sei Dir wichtig, immer wieder auf eine Reihe von pädagogischen Grundtexten zurückzugehen. Gibt es für Dich solche pädagogischen Schlüsseltexte, also pädagogische Klassiker, von denen Du sagen würdest, das sind Texte, auf die muß man sich immer wieder neu einlassen?
[V66:56] Da geniere ich mich zu antworten. Vielleicht in knapper Form: Die Erziehung des Menschengeschlechts von Lessing, der Stanzer Brief von Pestalozzi und die Vorlesung von 1826 von Schleiermacher.
[V66:57] Du hast gesagt, an Wenigers Ansatz war Dir wichtig, daß er vor allem unter dem Gesichtspunkt der politischen Bildung versucht hat,, mit dem Gedanken der Demokratie und der Vorstellung mündiger Bürger in einer Demokratie ernst zu machen.
[V66:58] Ja ...
[V66:60] 1968 erscheint Dein Sammelband: Erziehung und Emanzipation. In einem Satz heißt es darin:
Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben gezeigt, daß die geisteswissenschaftliche Pädagogik nur begrenzt leistungsfähig ist im Hinblick auf die Aufklärung derjenigen Zusammenhänge, die die Wirklichkeit der Erziehung ausmachen.
Du hast auch mitgeschrieben an dem Band:
Die geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche.
Hier wird eine deutliche Kritik angemeldet. Meine Frage: Wie tief greift diese Kritik? [V66:61] Wilhelm Flitner hat in seinem Rückblick mit Zukunftsperspektiven gesagt, daß es zweifellos in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik Defizite gegeben hat, insbesondere was die Bearbeitung der gesellschaftlichen Bedingungen und Zusammenhänge von Erziehungsprozessen betrifft. Aber er hat das gekennzeichnet als eine Vernachlässigung im Arbeitsprogramm, |a 55|im Forschungsprogramm , nicht aber als eine Frage des prinzipiellen Defizits im Ansatz. [V66:62] Worauf zielte Deine Kritik, als Du damals einen solchen Satz geschrieben hast? Würdest Du auch sagen , daß das eigentlich nur ein Mangel im Forschungsprogramm war? Du hast im Fischer-Lexikon Pädagogik den Artikel
Gesellschaft aus pädagogischer Sicht
geschrieben . War das die Ergänzung des fehlenden Stückes in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, oder handelt es sich um eine weitergehende, vielleicht auch tiefergreifende Kritik, die auch Zweifel an den grundlegenden Prinzipien oder Methoden der geisteswissenschaftlichen Pädagogik einschließt?
[V66:64] Die Frage ist sehr schwierig, und ich bin nicht sicher, ob ich sie beantworten kann. Also erstens ist das ja nichts Singuläres. [V66:65] Es gab eine ganze Gruppe von Kollegen aus der gleichen Generation, die damals gerade akademische Dauerstellen eingenommen hatten, sei es, daß sie schon Professor waren, sei es, daß sie unmittelbar davor standen wie z. B. Wolfgang Lempert, der ging an das Max-Planck-Institut in Berlin, dann Herwig Blankertz, Wolfgang Klafki. Unsere Frage war damals, ob der Vorwurf einer eher marxistisch inspirierten Sozialkritik in Deutschland, die geisteswissenschaftliche Hermeneutik sei nichts anderes als bürgerliche Ideologieproduktion, eigentlich stimme. Wir ließen uns von der Gegenseite sehr stark beeindrucken, und da spielte das Frankfurter Institut für Sozialforschung eine ziemlich bedeutende Rolle. Wir meinten, daß es nicht nur um eine Erweiterung der Pädagogik in diesem oder jenem Stück gehen, sondern daß das pädagogische Denken anders angelegt werden müsse, jedenfalls sofern es wissenschaftliches Denken zu sein beansprucht. Insofern ist mein Beitrag ganz unoriginell; ich habe nur das Glück gehabt, mir einen originellen Titel einfallen zu lassen, der nun auch noch modisch genau in die Szene hineinpaßte.
[V66:67] Nochmal zurück zur Kritik an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Kann man das noch genauer festmachen. Vielleicht wäre ein wichtiger |a 56|Aspekt die Sprache. Wilhelm Flitner hat gestern gesagt, daß der Generationenwechsel, der Unterschied der Generationen sich unter anderem möglicherweise auch gerade in unterschiedlicher Sprache manifestiert. Flitner hat gesagt, Klaus Mollenhauer spricht eine andere Sprache, er hat einen anderen Duktus. Das kann man nun mehr als einen individuellen Dialekt verstehen. Aber vielleicht liegt darin auch ein grundsätzliches wissenschaftliches Problem. Ich denke, es ist eher ein grundlegendes Problem. Wilhelm Flitner und O. F. Bollnow haben gesagt, wichtig war ihnen, eine Sprache zu sprechen, die von allen verstanden wird, also auch von Laien, von Nicht-Pädagogen, von Nicht-Wissenschaftlern. Gilt ein solcher Satz auch für Dich? Ich kenne Dich als jemanden, der gerade in Bezug auf die Sprache im wissenschaftlichen Kontext ungeheuer sensibel und genau ist. Welche Bedeutung hat für Dich Sprache in der Erziehungswissenschaft, und welche Ansprüche stellst Du an eine wissenschaftliche Sprache?
[V66:69] Die Frage ist peinlich für mich, weil ich heute denke, daß mit vielen anderen der schlimme Fehler, den ich gemacht habe und den vielleicht ein großer Teil unserer Generation gemacht hat, in der Annahme bestand, die Genauigkeit des erziehungswissenschaftlichen Redens sei nur über einen sozialwissenschaftlichen Jargon zu erreichen. Wir haben das damals nicht sozialwissenschaftlichen Jargon genannt; so wie Adorno konnte man ja sowieso nicht schreiben, aber man konnte doch wenigstens versuchen, wie Habermas zu schreiben oder wie andere soziologische Autoren; davon ging eine große Suggestion aus. Also: Wenn man den Eindruck hat, daß die Form der geisteswissenschaftlich-pädagogischen Rede zuviele Ungenauigkeitsbestandteile enthält, dann lag es vielleicht nahe, die Zuflucht bei einer sozialwissenschaftlichen Stilisierung der Sprache zu suchen. [V66:70] Heute finde ich, daß das der schlimmste Fehler gewesen ist, weil mit dieser Veränderung der Sprache zugleich Probleme zum Verschwinden gebracht wurden. Man muß sich nur überlegen, was mit dem Auswechseln des Begriffs Bildung durch Lernen oder Sozialisation an Problemen zum Verschwinden gebracht worden ist; das fiel uns aber damals gar nicht auf. Wir dachten im Gegenteil, es sei ein Fortschritt, und man könne jetzt mit |a 57|einer terminologisch gereinigten, nicht mehr der Umgangssprache angehörenden Redeweise die Phänomene genauer fassen. Deshalb war mir das so wichtig, was Herr Flitner gestern über Commensense und Alltagssprache gesagt hat. Heute denke ich: Das, was ich gerne erreichen möchte, ist ein wissenschaftliches Reden, das von jedem verstanden wird, und zwar ohne daß dabei die wissenschaftlichen Standards genauer Argumentation verletzt werden. Nur weiß ich leider noch nicht, wie das geht.
[V66:72] Du hast eben gesagt, es sei Dir peinlich. Aber hatten wir nicht auch Gründe, zunächst einmal in eine solche Sprache überzugehen? Du hast das schon angedeutet. Ich rede jetzt auch von mir. Wir hatten doch in Bezug auf unsere Lehrer auch einige Schwierigkeiten mit ihrer Sprache, Vielleicht am wenigsten mit Weniger, aber bei Nohl gab es doch eine ganze Reihe von Begriffen, die wir auf unserem Erfahrungshintergrund einfach nicht mehr mitvollziehen konnten.
[V66:74] Ich möchte am Beispiel sagen, wie schwierig doch die Situation war. Nachdem ich beispielsweise George Herbert Mead studiert hatte, konnte ich nicht mehr so über den pädagogischen Bezug reden, wie Nohl das tat. Bei George Herbert Mead und in der Anthropologie Pleßners wurde zumindestens über ähnliche Sachverhalte viel differenzierter in einer anderen Terminologie geredet. Da mir neben der Nohl’schen-Weniger’schen Rede keine Alternative zur Verfügung stand, war es kein Wunder, daß wir gleichsam automatisch in die sozialwissenschaftliche Redeweise hineingingen, um uns auf diese Weise ein Stück weit zu emanzipieren. Es ist nachträglich gesehen der falsche Weg gewesen. Aber an dieser geschichtlichen Stelle wüßte ich nicht, wie man den Schritt hätte anders tun können. Vielleicht haben Tübinger (in dieser Generation) ganz andere Erfahrungen. Aber auch Herr Loch redet nicht wie Herr Bollnow.
|a 58|
[V66:76] Noch ein anderer Punkt der Kritik an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik war bedeutsam, über den wir auch gestern abend hier diskutiert haben. Im Anschluß an Wilhelm Flitners Satz
Normen erwachsen aus dem Leben
hast Du gesagt, diesen Satz könntest Du so nicht als eine wissenschaftliche Aussage akzeptieren. Sie müsse mythologisch rekonstruiert werden. Ich erkenne daran einen deutlichen Unterschied in der Behandlung der Normenfrage, die ja ein wichtiges Thema in der Erziehungswissenschaft ist. [V66:77] Ich bin mir noch nicht ganz im klaren, wo die Differenz liegt. Heißt das, daß Du überhaupt zurückhaltend der Normenfrage gegenüber bist? Doch sicher nicht so weit wie der kritische Rationalismus, der sich ja der Wert frage ganz enthält!? Oder siehst Du andere Möglichkeiten, die Normenfrage zu beantworten?
[V66:79] Am liebsten würde ich über Normen gar nicht reden. Nicht erst heute. Es ist zwar möglich, über Normen deskriptiv zu reden. Das war eins der Motive zu den Sozialwissenschaften hin. Dort gab es einen Typus des Redens über Normen, bei dem es nicht darum ging, den Normen, über die man sprach, auch zugleich zuzustimmen, sondern zu ermitteln, um welche Normen es sich handelt, welche Genese sie haben, wie sie gesellschaftlich lokalisiert sind. In der amerikanischen Gruppenforschung wurde das Reden über Normen als durchaus pädagogisch relevant angesehen, ohne zugleich schon die gefundenen Normen zu bekräftigen. Das war mir sehr sympatisch, weil ich auf diese Weise der Schwierigkeit enthoben war, zu den Normen, die ich beschreibe, ja oder nein zu sagen. [V66:80] Heute denke ich darüber vielleicht ein wenig anders. Ich möchte schon versuchen, über Normen zu reden, obwohl ich Herrn Bollnows Abneigung teile und nicht sicher bin, ob das Reden über
Normen
der richtige Sprachgebrauch ist. Mir wäre lieber, wir reden über Probleme einer pädagogischen Ethik, über die Frage, ob es eine pädagogische Ethik gibt, die sich vielleicht von der allgemeinen Ethik unterscheidet, und wie in einer pädagogischen Ethik die Argumentationsregeln beschaffen sein müssen. [V66:81] Damals, um 1960 bis 1962, war das Projekt einer Pädagogik als |a 59|empirisch-deskriptiver Sozial- und Verhaltenswissenschaft verführerisch. Um die Mitte des Jahrzehnts aber meldeten sich die nicht verarbeiteten Themen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Was dort noch
Mündigkeit
hieß, hieß nun
Emanzipation
. Und es gab Schützenhilfe aus Frankfurt in dieser Frage: Gibt es so etwas wie eine praktisches Interesse der Pädagogik, eine normative Orientierung, die aus der neueren Geschichte begründbar folgt? Damit hing für mich das zunehmende Interesse an politischer Bildung zusammen und die Tatsache, daß ich praktisch über jene Jahre hinweg in der außerschulischen Jugendbildung tätig war, vornehmlich mit Arbeiterjugendlichen zu tun hatte, und zwar bis zu dem Moment, wo ich eine Professur bekam. Mit diesen Arbeiterjugendlichen war eine pädagogische Arbeit vom Standpunkt eines sozialwissenschaftlich-deskriptiven Neutralismus aus gar nicht möglich. Man konnte, wenn man mit ihnen überhaupt in einen politisch relevanten Kontakt kommen wollte, nur arbeiten, wenn man aus der Perspektive ihrer gesellschaftlichen Situation dachte. Und in dieser Lage war der Begriff
Emanzipation
gleichsam ein Glücksfall, weil er scheinbar das schwierige Normenproblem löste und zugleich in einer sehr seriösen, bis in die Aufklärung zurückreichenden Tradition lokalisiert war.
[V66:83] Der Begriff
Emanzipation
ist aber mit diesem Buchtitel in der Pädagogik in Umlauf gesetzt worden. Von da an sprach man überall von emanzipatorischer Pädagogik und von Emanzipation als Erziehungsziel, sogar für die Schule. Man spricht nicht oder kaum mehr von Bildung. Hat nicht der Begriff Emanzipation den Begriff der Bildung verdrängt? So ist es jeden falls in meiner Wahrnehmung.
[V66:85] Nein, das glaube ich nicht. Der Begriff Bildung wurde durch diese drei Begriffe verdrängt: Lernen, Sozialisation, Emanzipation.
[V66:87] Gut, diese Differenzierung muß man im Auge behalten. Aber was ist das Spezifische, das den Begriff Emanzipation gegenüber dem der Bildung rückt? Oder auch ins Blickfeld des politischen Handelns?
[V66:89] Am Emanzipationsbegriff waren zwei Komponenten wichtig. Die eine betrifft die Einordnung der Pädagogik in die politische Bewegung der Zeit, betrifft ihre aktuelle Orientierung an dem nicht abgeschlossenen Prozeß der Demokratisierung. Die andere: Im Ausdruck Emanzipation sind gleichsam die notwendigen Distanzierungsschritte, die in der Entwicklung des Kindes von Lebensalter zu Lebensalter notwendig sind, stärker zum Thema gemacht als im Begriff der
Bildung
. Das paßte sehr gut zu dem, was Schleiermacher sich dachte, als er den Bildungs- und Erziehungsprozeß bis zu dem Punkt verfolgte, an dem die Erziehung überflüssig wird und die jungen Leute
abgeliefert
werden an die großen Gemeinschaften, und dies als kontinuierlichen Vorgang der Befreiung zur Selbständigkeit beschrieb.
[V66:91] Das heißt, eine bestimmte Befähigung im Prozeß Bildung wurde als Emanzipation bezeichnet. Diese zweite Komponente ist mir neu. Könntest Du mir sagen, wo andere, die den Begriff Emanzipation auf genommen haben, diese Idee einer fortschreitenden Kompetenz an Selbständigkeit näher beschrieben haben?
[V66:93] Ich glaube Du hast recht. Es ist ein wesentliches Versäumnis, daß der Ausdruck Emanzipation so schnell die Runde machte und so plausibel war, daß kaum noch jemand sich die Mühe machte, ihn mit der gleichen Sorgfalt auf die Bildungsgänge hin zu rekonstruieren, wie man das vorher mit anderen einheimischen Begriffen getan hat. Deshalb machten wir es auch den Gegnern leicht., dies alles als ein großes ideologisches Manöver von linken Pädagogen abzutun. Brezinka hatte es z. B. leicht, in der Kritik dieses Buches zu zeigen, daß hier ein Ausdruck verwendet wird, der gar kein wissenschaftlicher Terminus sein könne, sondern nur eine Vokabel sei, mit der bestimmte linke Ideologien transportiert werden sollen. An diesem Mißverständnis, denke ich, war die Diskussion innerhalb der Erziehungswissenschaft, die diesen Begriff verwendet hat, selber schuld.
|a 61|
[V66:95] Noch einmal zum Thema Emanzipation. Du hast als Vorzug dieses Begriffs angesehen, daß er sich mit politischen Bewegungen in Verbindung bringen läßt. Das bringt für die Pädagogik natürlich auch gleichzeitig ein Problem. Wenn man von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik herkommt, stellt sich die Frage, wie es denn dann mit der pädagogischen Autonomie aussieht. Ich bin mir da nicht so ganz im klaren. Es gibt einige Äußerungen in bestimmten Phasen, wo Du sagst, diese Autonomie ist Behinderung gewesen und man muß sie aufgeben. An anderen Stellen hast Du sie wieder aufgenommen.
[V66:97] Der neu entstandenen sozialwissenschaftlichen Attitüde entsprach natürlich, den Begriff der pädagogischen Autonomie für bürgerlichen Unfug zu halten, für eine Selbsttäuschung der Pädagogik über ihre tatsächlichen Abhängigkeiten von den gesellschaftlichen Systemen. Das lag sehr nahe und also spielte wohl in den Diskussionen – jedenfalls in diesen Gruppierungen – eine Zeitlang der Begriff der Autonomie gar keine besondere Rolle, es sei denn, in einer etwas verschämten Version, die Weniger schon verwendet hatte, als er von
relativer Autonomie
sprach. Nun kann man sagen, mit relativer Autonomie ist man gut dran, das stimmt immer. Das war keine sehr entschiedene Stellung. Etwas entschiedener wurde die Sache, als von Emanzipation die Rede war und als es um Erziehungspraxis ging. Da tauchte die Autonomiefrage wieder neu auf. Ein persönliches Beispiel: 1969 habe ich in Frankfurt mit Freunden einen antiautoritären Kinderladen betrieben. Mitglieder dieses Kinderladens waren natürlich Eltern vom linken Rand der Frankfurter Studenten- oder Assistentenschaft. Natürlich sollte dieser Kinderla en auf dem erreichten pädagogisch-politischen Niveau geführt werden. Es mußte beispielsweise vermieden werden, die Kinder frühzeitig in Geschlechterrollen einzuüben; natürlich mußten die Kinder die Wirklichkeit der handarbeitenden Bevölkerung kennenlernen; natürlich mußten die Kinder auf Demonstrationen mitgenommen werden, denn sie sollten sehr früh erfahren, wa politischer Kampf ist, was Klassenauseinandersetzungen sind. Aber plötzlich zeigte sich: das geht nicht; irgend etwas war falsch. Es gibt dazu eine hübsche Anekdote: |a 62|Aus dem Kinderladen kommen mein jüngster Sohn Paul und sein Freund nach Hause, beide drei Jahre alt, und rufen ganz laut:
Männer zu Männer, Frauen zu Frauen.
Da dachten wir:
Um Gottes willen, was haben wir falsch gemacht. Da sind sie erst drei Jahre alt und wollen schon die Geschlechtertrennung.
Da nun im Kinderladen das Bedürfnis der Kinder oberstes Gebot war, haben die Kinder die Parole durchgesetzt, und die Bezugspersonen haben gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Aber das war kein böses Spiel, das war ganz in Ordnung. [V66:98] Eine andere Erfahrung, gleichsam vor-politischer pädagogischer Autonomie stellte sich im Umgang mit den
entwichenen Heimzöglingen
aus Hessen ein: Plötzlich waren in Frankfurt zwischen 80 und 100 Jugendliche, die irgendwie untergebracht werden mußten und die zugleich in die verführerische Gefolgschaft von Andreas Baader und Gudrun Enßlin hineingerieten, von denen wir damals nicht vermuteten, daß sie irgendwann in die terroristische Szene gehen würden. Das Thema der Diskussion war: Gibt es eigentlich noch eine Grenze zwischen dem pädagogischen und politischen Handeln? Diese Auseinandersetzungen haben mich sehr dringend mit dem Problem konfrontiert und mich eigentlich wieder in die Arme der pädagogischen Autonomie zurückgeführt. Das war die Frage: Gibt es sowas wie einen nicht nur unverwechselbaren Gegenstand, sondern gibt es auch sowas wie einen Raum, der nicht nur durch soziologische oder soziale Determinanten erläutert werden kann? Ein solcher Begriff von pädagogischer Autonomie, so scheint mir, ist einfach eine Möglichkeitsbedingung für verantwortbares pädagogisches Handeln.
[V66:100] Ein Begriff, der einen Spielraum öffnet, aber der auch Grenzen zieht, so daß man deutlich sagen kann, dieses hier geht über den Spielraum hinaus?!
[V66:102] Besonders der Unterschied zwischen politischem Handeln und politischer Bildung wurde mir deshalb wichtig. Gerade auch der |a 63|Frankfurter Adressaten wegen. Da war für mich wichtig zu sagen, daß sie das, was sie als politisches Subjekt machen, nicht einfach verlängern können in die pädagogischen Verhältnisse hinein; daß politische Bildung etwas kategorial anderes ist als politisches Handeln.
[V66:104] Ich möchte jetzt einen Sprung machen. In der letzten Gesprächsphase wird für mich schon ein bißchen der geistige Raum sichtbar, den Du dann betreten und auszufüllen begonnen hast. 1983 bist du mit Deinem Buch
Vergessene Zusammenhänge
in die Öffentlichkeit getreten. Wie ist dieser Titel zu verstehen? Er läßt zunächst so etwas wie eine Rückkehr vermuten. In der Einleitung schreibst Du, wenn von Emanzipation die Rede ist, davon nur noch in Anführungsstrichen. Schuldig sind die schlimmen Eltern, die autoritären Lehrer, die repressiven Verhältnisse, die Emanzipationspädagogen usw. Der Begriff Emanzipation taucht unter Deinen Leitbegriffen nicht mehr auf. [V66:105] Wie deutest Du selber diese Veränderung? Ist es eine modische Wende? Ist es eine Rückkehr zu den Ursprüngen?
[V66:107] Solche Selbstkommentierung ist schwierig.
[V66:108] Du hast das Buch mit einem hohen Anspruch versehen, indem Du in der Einleitung schreibst, daß Du es als eine Skizze einer allgemeinen Pädagogik verstehst. Wenn ich das vergleiche mit der Allgemeinen Pädagogik von Wilhelm Flitner, dann ist dieser Anspruch wirklich sehr hoch gegriffen.
[V66:109] Da habe ich mich in einen peinlichen Vergleich hineinbegeben. Das hätte ich lieber gelassen.
[V66:110] Halt’ ihn doch mal fest und verteidige Dich! Ich denke, Du kannst das.
[V66:111] Wissenschaftssoziologisch oder wissenschaftsgeschichtskritisch denke ich, daß es etwas mit einer
Wende
zu tun hat. Schaut man sich die Diskussionen, etwa in der Zeitschrift
Merkur
, im
Freibeuter
, im
Kursbuch
, in
Tumult
usw. an, dann gibt es doch seit einigen Jahren eine Diskussion, die von |a 64|den akademisch verschulten Formen der wissenschaftlichen Rede wegzukommen versucht. Das betrifft nur die Form. Im Hinblick auf die Themen werden Fragen aufgeworfen, die, wie solche Autoren meinen, lange Zeit, gar jahrhundertelang, nicht zur Sprache gekommen sind. Ein typisches Beispiel dafür ist das Buch von Hartmut und Gernot Böhme
Das andere der Vernunft
. Das ist ein programmatischer Titel; darumherum rankt sich eine Literatur, die versucht, neben den akademischen Gepflogenheiten herzuschreiben, beispielsweise den Stil des Essays zu favorisieren. Ohne daß ich mir das richtig zum Bewußtsein gebracht habe, denke ich, darf man die
vergessenen Zusammenhänge
auch in diesem Zusammenhang sehen. Das wäre ein selbstkritischer Kommentar. [V66:112] Dennoch denke ich nicht, daß dieses Buch eine Abwendung vom Begriff der Emanzipation ist; es bedeutet für mich eher einen Weg, den ich erst noch einmal gehen muß, um dahin zu kommen, um einen substanziellen Begriff von
Emanzipation
zu gewinnen. Außerdem spielt das Sprachproblem für mich eine große Rolle. Es ist nicht so, daß ich besonders allergisch gegen den sozialwissenschaftlichen Jargon wäre, der psychologische ist mir noch unsympathischer. Ich dachte also: Um eine andere Sprache zu finden, muß ich den Gegenstand verschieben; ich komme selbst zu einer besseren erziehungswissenschaftlichen Sprache, wenn ich beispielsweise mehr Kafka lese, diesen hervorragenden pädagogischen Text (
Brief an den Vater
). Oder die außerordentliche Sorgalt, in der Augustinus formuliert. Das sind sozusagen Übungen zur Selbstbildung. Über einen Augustinus-Text, wenn man ihn interpretiert, kann man nicht so reden wie über irgendeine sozialwissenschaftliche Theorie; der Text würde gleichsam verschwinden. Das hat etwas zu tun mit dem, was ich über Hermeneutik sagte. Ich habe einen vielleicht etwas trivialen Begriff von Hermeneutik. Für mich bedeutet Hermeneutik immer zunächst das Verstehen von in irgendeiner Weise dokumentierten Zusammenhängen, das Verstehen-Können einer Quelle, das Verstehen-Können einer Autobiographie. Das ist für mich zum Beispiel ein wesentlicher |a 65|Grund, immer wieder Autobiographien zu lesen; sie erlauben die eigene Sprache immer wieder zu kontrollieren, zu prüfen, wie weit man noch über die Sache redet und wie weit man nicht schon längst nur noch bei den Theoremen ist. Quellen zu interpretieren, sie sorgfältig zu interpretieren, gleichviel, ob es nun sprachliche Quellen sind oder auch Bildquellen. Bildquellen sind für mich ein ebenso wichtiger hermeneutischer Gegenstand wie sprachliche Quellen.
[V66:114] Ich habe das Gefühl, daß Du mit diesen neuen Quellen, die Du heranziehst, aber auch mit den alten Texten das Gegenstandsfeld der Pädagogik erweitert hast, aber ich möchte das jetzt zurückstellen. [V66:115] Mit einer letzten Frage will ich schließen. Herr Bollnow hat vorhin gesagt: Ich habe mich in meinem Leben noch nie darum gekümmert, was wissenschaftlich ist. Und Wilhelm Flitner hat gestern gesagt, daß die Pädagogik ja eigentlich keine Wissenschaft sei. Ihn interessiere nicht, ob es eine Wissenschaft ist, er reflektiere über eine Praxis, die ihm wichtig ist . Ob diese Reflexion richtig ist, das sei allerdings von großer Bedeutung. Könntest Du auch sagen, was wissenschaftlich ist, hat mich in meinem Leben noch nie gekümmert, oder würdest Du es anders formulieren?
[V66:117] Bezogen auf mein Leben sind mir lebhaft Phasen in Erinnerung, wo mir nichts wichtiger war, als von der wissenschaftlichen community anerkannt zu werden. Also wissenschaftlich zu sein. Heute würde ich ähnlich wie Wilhelm Flitner antworten: Es ist mir gleichgültig, ob das, was ich tue, für diesen oder jenen in die Klasse
Wissenschaft
gehört. Wichtig ist, ob die Argumentation sorgfältig ist, ob sie stimmt und ob sie verständlich ist. Das gilt für jemanden, der historisch arbeitet ebenso wie für jemanden, der einen aktuellen Text interpretiert, empirische Beobachtungen mitteilt oder die Logik eines Gedankens konstruiert, etwa in der analytischen Philosophie. Wie weit wir dafür den Namen
Wissenschaft
verwenden, ist eine zweitrangige Frage.
[V66:118] Das Gespräch ist vom Tonband abgeschrieben und von Klaus Mollenhauer und Theodor Schulze durchgesehen worden.