Kunstgeschichte und Pädagogik [Textfassung a]
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Kunstgeschichte und Pädagogik

[097:1] Wegen der sowohl dichten als auch skeptisch-anregenden, auf jeden Fall aber produktiven wissenschaftlichen Verständigung über die Disziplinen-Grenzen hinweg (hier Kunstgeschichte, dort Pädagogik) schreiben wir diesen Arbeitsbericht gemeinsam, und zwar in der Form zweier Arbeitsbeschreibungen und zweier wechselseitiger Kommentare.
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I. Arbeitsbericht Werckmeister

  1. 1.
    [097:2] Die Ergänzung und Revision meines Buches The Making of Paul Klee’s Career, 1914–1920, führte zu einer erheblichen Erweiterung, in der ich die Wirtschaftsgeschichte der deutschen Inflation auf die Geschichte von Klees Laufbahn als Künstler beziehen konnte. Dadurch vertiefte sich die Interpretation von der politischen Ideologie der modernen Kunst auf ihre institutionell bestimmte Berufspraxis. Dieser Ansatz ist in früheren kunstgeschichtlichen Perioden wie der Renaissance üblich, wurde aber der Erforschung moderner Künstler bisher kaum zugrunde gelegt. Innerhalb der Tradition der kritischen Kunstgeschichte, wie sie in den siebziger Jahren auf Grund von marxistischen Denkansätzen begründet wurde, unternehme ich hier zusammen mit anderen Autoren der letzten Jahre den Schritt von der Ideologiekritik zur Wirtschafts- und Institutionsgeschichte. So ist auch die Änderung des Titels meines Buches, das ich vorher Klee, War, Revolution genannt hatte, zu verstehen. Gegenüber jener unverbundenen Folge politischer Rahmendaten für die Ideologiekritik benennt der neue Titel den Anspruch, die Künstlerbiographie als einen zusammenhängenden sozialgeschichtlichen Prozeß darzustellen.
  2. 2.
    [097:3] Mein Projekt einer achtteiligen Serie kurzer Essays über die künstlerische Kultur der Jahre 1980–86, das sich aus einzelnen Erfahrungen der letzten drei Jahre ergeben hatte, gewann durch den Aufenthalt in West-Berlin als kultureller Metropole mit ihren Veranstaltungen und Gesprächen an Dringlichkeit. Unter dem Titel Zitadellenkultur schrieb ich Stücke über den französischen Comic-Strip-Künstler Enki Bilal, Umberto Ecos Name der Rose und den nach diesem Roman gedrehten Film, James Stirlings Neue Staatsgalerie in Stuttgart und die dort 1985 veranstaltete Ausstellung des Gesamtwerks von Francis Bacon, die unterschiedliche Verwendung elektronischer Musik bei Pierre Boulez und der Rock-Gruppe
    Kraftwerk
    , die aktuelle politische Veränderung der Kulturtheorie bei Jürgen Habermas und die Darstellung des Krieges in den Filmen der Star Wars-Serie und in den Gemäldezyklen von Robert Morris. Der Zusammenhang dieser Essays erschien mir eng genug, um die Serie zu einem kurzen Buch auszuweiten. Ein solches Buch läßt sich allerdings kaum mit vertrauten wissenschaftlichen Techniken schreiben, wenn es als Stellungnahme in der zeitgenössischen Kultur selbst gelesen werden soll. Erfahrung, Denken und Sprache müssen dabei in ein besonderes Verhältnis zueinander und zur intellektuellen Biographie des Autors treten. Dieses Verhältnis zu bestimmen, war nicht leicht. Klaus Mollenhauer war einer der wenigen, die mir dabei weiterhalfen.
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  4. 3.
    [097:4] Meine fortlaufende Arbeit am Projekt einer Geschichte der deutschen Kunst in den beiden Weltkriegen konzentrierte sich auf ein ausgewähltes Thema aus dem Zweiten Weltkrieg, die Frage der politischen Führung der deutschen Kunst durch das Reichspropagandaministerium und ihrer politischen Überwachung durch den Sicherheitsdienst der SS. Die wichtigste Quelle, die ich dafür auszuwerten begann, sind die Meldungen aus dem Reich. Hier zeichnet sich die Möglichkeit einer institutionsgeschichtlichen Analyse der von der nationalsozialistischen Regierung geförderten Kunst unter den Bedingungen der Kriegskultur ab. Es scheint sich herauszustellen, daß die in den Großen Deutschen Kunstausstellungen der Jahre 1937–1944 vorgeführte Malerei und Plastik nur in beschränktem Maße politische Propaganda-Aufgaben zu erfüllen hatte. Der Regierung lag mehr an einem wirtschaftlich reibungslosen Funktionieren des Kunstbetriebs innerhalb der auf unproblematischen Realismus eingeschränkten ästhetischen Ideologie.
[097:5] Auch im Ersten Weltkrieg hatte die uneingedämmte marktwirtschaftliche Finanzierung der Kriegsproduktion bei gleichzeitiger Verknappung von Konsumgütern zu einer Hochkonjunktur des deutschen Kunstmarkts geführt. Dadurch konnte sich die moderne Kunst beim Publikum endgültig durchsetzen. Im Zweiten Weltkrieg war dagegen keine Konkurrenz grundsätzlich verschiedener Stile auf dem Kunstmarkt möglich. So stellte sich innerhalb der allein zugelassenen realistischen Stilrichtung das Problem eines aus Überproduktion folgenden Qualitätsverfalls, den die mit Kunst befaßten Regierungsstellen unter dem Stichwort Kitsch zu bekämpfen suchten.
[097:6] Das methodische Interesse an den Meldungen aus dem Reich als kunstgeschichtlicher Quelle liegt darin, daß man hier die bisher übliche politische Interpretation von Bildern nach Thematik und Form durch die Analyse eines funktionsgeschichtlichen Zusammenhangs ersetzen kann, dessen institutionelle Rahmenbedingungen dokumentarisch belegt sind und dessen historische Chronologie auf Jahr und Monat genau gesichert ist. Die systematische Aufzeichnung von Publikumsreaktionen auf die zeitgenössische Kunst durch den Geheimdienst der SS ermöglicht es, wenigstens bis zu einem gewissen Grade die Wirkungsgeschichte dieser Kunst in die Analyse einzubeziehen. Zu einer Zeit, da in der Kunstgeschichte abstrakte theoretische Spekulationen über Rezeptionsästhetik um sich greifen, eröffnet sich hier die Möglichkeit einer geschichtlichen Bestimmung der ästhetischen Wirkung von Bildern auf ihr zeitgenössisches Publikum.

II. Arbeitsbericht Mollenhauer

[097:7] Fragen nach dem Verhältnis zwischen Pädagogik und Kunst blieben in |a 76|der deutschen Pädagogik auf didaktische Probleme des Fachs Kunsterziehung verengt. Hat man, wie ich, eine Erweiterung im Auge, auch eine Öffnung der Pädagogik zur Kulturtheorie hin, dann muß man offensichtlich jene Fachgrenzen überschreiten, die sich die Pädagogik in ihrer Beschränkung auf Sozialisations-, Unterrichts- und Institutionen-Forschung auferlegt hat. Wie sich während des akademischen Jahres zeigte, ist ein solcher Versuch mit Risiken verbunden. Ich verfolgte diese Fragen in folgenden Arbeiten:
  1. 1.
    [097:8] Den gegenwärtigen Diskussionen am nächsten, vor allem im Hinblick auf didaktische Probleme des Kunstunterrichts, steht mein Manuskript
    Kultur und ästhetische Bildung – Begriffe, Unterscheidungen, Perspektiven
    , in dem ich der Frage nachgehe, auf welche kategorialen Bestimmungen das ästhetische Weltverhältnis des Kindes und also auch entsprechende
    Curricula
    sich gründen könnten. Von der Charakterisierung des ästhetischen Urteils als reflexives ausgehend, erörtere ich die Möglichkeit eines didaktisch verwendbaren Begriffs
    ästhetischer Empfindung
    und beziehe mich auf die Eigenart der verschiedenen Sinnestätigkeiten.
  2. 2.
    [097:9] Dieser letzte Gedanke legt eine Erweiterung der Argumentation in Richtung auf phänomenologische Studien hin nahe. Die Frage, die mich hier beschäftigt, ist diese: Wie läßt sich das von pädagogisch-phänomenologischen Autoren so nachdrücklich in Anspruch genommene
    Leibapriori
    im Hinblick auf das Zusammenspiel von Kognition und Affekt auslegen? Mit den Problemstellungen ästhetischer Bildung hängt diese Frage insofern zusammen, als – bezogen auf das Kind, und wie mir scheint – der ästhetische Akt erst dann gleichsam
    komplett
    ist, wenn nicht nur die Sinnestätigkeit erregt ist, sondern die ästhetischen Zeichen auch
    gelesen
    werden können. In zwei kleinen Studien habe ich diesen Zusammenhang erläutert, und zwar am Beispiel von Fällen, die mit ästhetischer Bildung nur mittelbar zu tun haben: Die Bildungsbedeutung der Dingwelt und – unter Verwendung volkskundlicher Materialien und anthropologischer Thesen zur Phänomenologie der Hand – Fingererzählungen (
    Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen, der...
    ).
  3. 3.
    [097:10] Neben derart
    ästhesiologischen
    (Plessner) Fragen der Erziehungs- und Bildungstheorie ließe sich indessen noch eine andere Brücke zwischen Pädagogik und Ästhetik bauen, indem man Werke der bildenden Kunst als Bilddokumente zur Geschichte der Pädagogik verwendet, und zwar so, wie es in der Erziehungsgeschichtsschreibung mit sprachlichen Dokumenten geschieht. Die Kunstgeschichte hat schon seit langem, wenngleich nur gelegentlich, derartige Fragen aufgegriffen. Die fällige Fleißarbeit bestand also zunächst darin, den Stand der kunstgeschichtlichen Diskussion zu rezipieren und ihn mit den historisch je rele|a 77|vanten Quellen zur Geschichte, auch gerade zur Sozialgeschichte der Pädagogik, zu verbinden. Ich habe das an drei Beispielen versucht: Duccios Madonna von Crevole (1280) wurde, im Hinblick auf den dort dargestellten Jesus-Knaben, zur Beschreibung der Vorstellungen von der kindlichen Leib-Charakteristik jener Zeit verwendet; Bacons
    Portrait of George Dyer
    (1966) wurde zum Ausgangspunkt der Beschreibung einer Komponente der modernen Ich-Thematik gewählt; Chardins
    Junge Gouvernante
    (1736) wurde als Bilddokument zwischen Locke, Rousseau und Diderot (dem frühen Bewunderer der Bilder Chardins) interpretiert, und zwar im Hinblick auf die Lage des Kindes unter dem Anspruch der neuartigen Lernerwartungen des 18. Jahrhunderts und im Vergleich mit den sensualistischen Theoremen jener Zeit.
[097:11] Leib-Habitus (Duccio), Selbstwahrnehmung (Bacon) und soziale Situationsdeutung (Chardin) sind nicht nur interessante Fälle innerhalb historischer Reihen zur jeweiligen Problemstellung; die Problemstellungen selbst sind, in meiner Sicht, entscheidende Randbedingungen des Bildungsvorganges. Als solche aber fallen sie notwendigerweise in andere Disziplinen – vor allem eben die Kunstgeschichte. Hier nun ergeben sich Schwierigkeiten, z. B. diese: wieviel von der ikonographischen Vorgeschichte eines Bildes muß man kennen, um es in seinem
pädagogischen
Gehalt zu verstehen? Was heißt
Hermeneutik des Bildes
? Ist
ästhetische Erziehung
– die Idee, daß einerseits Kunstprodukte Tiefen unseres Weltverhältnisses zur Sprache bringen, andererseits im Kinde eine ästhetische Lesefähigkeit gegenüber der Welt und seinen eigenen sinnlichen Hervorbringungen gebildet werden solle – nichts als eine Marginalie zum herrschenden Bildungsbetrieb, die, würde man sie mit Schiller deuten und ernst nehmen, ein Angriff auf die in den Bildungsinstitutionen der Massendemokratien herrschende Einübung in kulturelle und politische Loyalität wäre (vgl. Werckmeister:
Zitadellenkultur
)?

III. Mollenhauer zu Werckmeister

[097:12] Die Diskussionen mit Otto Karl Werckmeister haben mir meine eigenen Bemühungen in einem verfremdenden Licht erscheinen lassen. Das gilt vor allem in drei Hinsichten:
[097:13] Angesichts des Bildes
Junge Gouvernante
von Chardin fragte er:
Wohin genau trifft die Stricknadel im Bild?
(Ich hatte sie als eine didaktische Zeigegeste auf das beschriebene Blatt Papier gedeutet; in Wahrheit aber berührt die Nadelspitze nur gerade den Rand der aufgeschlagenen Buchseite.) Das mag trivial erscheinen; es drückt aber eine wissenschaftliche Haltung aus, die sich zunächst nicht von kunsthistorischer Literatur, noch weniger von flinken Deutungen beeindrucken läßt, sondern hartnäckig den visuellen Sachverhalt zu ermitteln sucht. Dieser be|a 78|schränkt sich nicht nur auf die kompositorischen Elemente des Bildes (des ästhetischen Gegenstandes), sondern liegt in der dargestellten Wirklichkeit und ihrer sozialgeschichtlichen Bestimmung. Es könnte doch sein – so erscheint mir Werckmeisters skeptischer Frage-Typus –, daß beispielsweise die Preise, die für Bilder gezahlt wurden, mehr über ihre Sujets, deren gesellschaftliche Funktion, Produktionswahrscheinlichkeit und also auch
Bedeutung
aussagen als Interpretationsbemühungen, die sich dem
bedeutenden
Einzelnen zuwenden. Diese Einstellung trifft, was ich vorläufig als
pädagogischen Illusionismus
bezeichnen möchte, empfindlich: Ist nicht vielleicht – so frage ich nun mit Werckmeister – das pädagogische Projekt ästhetischer Erziehung und Bildung Bestandteil (und nicht Marginalie zu) eben jener
Zitadellenkultur
, die er skeptisch beschreibt? Kann sie überhaupt mehr oder anderes sein als eine vorwegnehmende Einübung in einen Habitus, der sich retrospektiv seine historischen Traditionen verschafft, pädagogische Koloratur, immer schon zu spät und nur kulturgeschichtliche Reprise?
[097:14] Das sind gravierende Einwendungen. Sollte ich also von der Idee einer Bildungsgeschichte als Bildergeschichte und von der Vorstellung, ästhetische Erziehung/Bildung sei als sinnliche Übung und semiologische Deutung möglich und wünschenswert, lieber Abstand nehmen, weil das eine wie das andere im Zustand unserer Gegenwartskultur nichts anderes als ein Nachhutgefecht sein könnte oder eine Unternehmung, das ohnehin nur mühsam zu erhaltende Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Antagonismen gerade noch in der Balance zu halten – z. B. dadurch,daß auch noch den Bildern Bacons ein schöner Schein abgewonnen wird?
[097:15] Derartige Zweifel kann ich mir zu eigen machen. Dennoch bleiben Gegenfragen übrig, z. B.: Wenn Werckmeister die von ihm so genannte
Zitadellenkultur
dieser Jahre beschreibt, dann will er sich ja gerade nicht dem melancholischen Gestus ihrer ästhetischen Produktionen und Vermarktungen anschließen (wie in seiner Interpretation der Bilder von Robert Morris gut deutlich wird), dem die historische Bildung im Mythos, der Zukunftsbezug in der Apokalypse verschwimmt, sondern er plädiert für
eine argumentative Kultur
, für skeptische
Teilnahme
. Das aber erinnert an Diderot oder auch an das Volksbildungsprogramm der Aufklärung, steht jedenfalls in einer Tradition moderner Bildungsinteressen, die sich auf gesellschaftliche Praxis beziehen. Insofern ist Werckmeister
pädagogischer
, als er zu sein meint.
[097:16] Das führt zu einer zweiten Frage: Wenn Werckmeister an der
Zitadellenkultur
bemängelt, daß sie an den historischen Bewegungen nicht mehr verantwortlich teilnehme, müßte er dann nicht wenigstens gelten lassen, daß die
Aktualisierung
älterer Kulturprodukte eine notwen|a 79|dige Aufgabe der Pädagogik ist? Durch die historischen Metamorphosen behält das Frühere ja eine
Bedeutung
, die durch historisch-philologische Kritik zwar korrigiert und aufgeklärt werden kann, aber dadurch – für die Bildung der nachwachsenden Generation – nicht völlig ausgelöscht wird.
[097:17] Und schließlich: Könnte ich nicht auch mit Werckmeisters Favorit Paul Klee gegen ihn argumentieren? In seinen didaktischen Vorlesungen hatte Klee einen
strukturalen
Begriff ästhetischer Bildung vorgetragen, in dem nur die
Sprache
bildnerischer Zeichen zugrunde gelegt wird. Was Werckmeister
abstrakte Spekulationen über Rezeptionsästhetik
nennt, wäre dann nicht einfach erledigt oder durch distanzierte kulturhistorisch-ökonomische Rekonstruktionen zu ersetzen, sondern enthielte das Thema, wie die Struktur von Bildungsprozessen und die Sprachen der Kunst, dann auch der Phänotyp der
Zitadellenkultur
, zueinander stehen.

IV. Werckmeister zu Mollenhauer

[097:18] Ich befinde mich in einer Phase meiner kunstgeschichtlichen und essayistischen Arbeit, in der die Tradition der ästhetischen und kulturtheoretischen Literatur von Schiller bis Habermas nur noch geringe Überzeugungskraft zu behalten scheint. Für die Kunst der Vergangenheit folgt das aus den immer differenzierteren dokumentarischen und historischen Forschungsmöglichkeiten, die die prinzipiellen Unterschiede zwischen deren ursprünglichem Verständnis und ihrer gegenwärtigen Interpretation immer deutlicher hervortreten lassen; für die Kunst der Gegenwart folgt es aus der Skepsis gegen die überzogenen existentiellen Ansprüche der in den westlichen Industrieländern produzierten Kultur angesichts der gegenwärtigen historischen Situation.
[097:19] In Klaus Mollenhauer begegnete ich dem Vertreter einer Wissenschaft, deren Zentralbegriff der Bildung die lebendige Aneignung und sinnvolle Aktualisierung vergangener Kultur erfordert. Dieser Bildungsbegriff tritt da, wo er über das akademische Studium Erwachsener hinausführt und die kulturelle Bestimmung kindlichen Erlebens und Verhaltens einschließt, in die kritischste Phase der Selbstprüfung ein. So wie ich Mollenhauers Forschungen verstehe, sind sie mit dieser kritischen Phase befaßt und konzentrieren sich zugleich – aus welchen Gründen? – auf Kunstwerke der Vergangenheit als Dokumente. Fragen der ästhetischen Erziehung spielen dabei mit.
[097:20] Gegenüber Mollenhauers Forschungen über den Zusammenhang von Pädagogik und Ästhetik habe ich auf der historischen Distanz bestanden, die Kunstwerke der Vergangenheit für gegenwärtige Aktualisierungen unzugänglich macht, eine Distanz, die durch genaue visuelle |a 80|Analyse und durch historische Quellenforschung als solche erfahrbar werden kann und die sich bis zur Kunst der Gegenwart erstreckt. An Francis Bacon, dem irischen Maler, mit dem wir uns beide beschäftigten, konnten wir diese Verschiedenheit der Ansatzpunkte diskutieren. Läßt sich das Bildnis George Dyers, Zeugnis einer homosexuellen Freundschaft, als existentielles Paradigma für das, was Mollenhauer
Ich-Thematik der Moderne
nennt, verallgemeinern? Oder ist es nichts weiter als das Zeugnis eines biographischen Sachverhaltes, dessen Einzelheiten im Dunkeln bleiben? Kann die lediglich kunsthistorisch präzisierte thematische und formale Wahrnehmung eines Bildes
ästhetische
Bildung begründen, ohne aus einem solchen Bild etwas anderes zu machen, als es ursprünglich war? Oder tendiert die kritisch-historische Erforschung von Kunst unweigerlich auf die Versenkung gegenwärtiger Bildungsschätze in die nur noch archäologisch zugängliche Grabkammer der Vergangenheit?
[097:21] Von der radikalen Skepsis der
Zitadellenkultur
aus konnte ich Mollenhauers Bemühung um eine Relevanz vergangener und gegenwärtiger Kunst keine Alternative entgegensetzen. Er hat die negative Einseitigkeit meines kulturkritischen Ansatzes richtig eingeschätzt. Als Erziehungswissenschaftler hat Mollenhauer zu Recht darauf bestanden, von der Skepsis aus zu einer konstruktiven theoretischen Bestimmung von Kunst in der gegenwärtigen Kultur vorzuschreiten, die gleichwohl ihrer geschichtlichen Bestimmung als Zeugnis der Vergangenheit nicht widerspricht. Um so mehr, als er selbst immer wieder Skepsis und kritische Negation in seine Theorie zeitgenössischer Bildungsziele aufzunehmen sucht. Vielleicht sind die Divergenzen, die sich hier von verschiedenen Fächern ebenso wie von verschiedenen Personen her auftun, Anzeichen einer Übergangsphase der gegenwärtigen Kultur, in der keine glaubwürdigen Synthesen möglich sind, ohne daß dies immer so bleiben müßte. Aber das wäre der Anfang eines neuen Dialogs zwischen uns.