[Rezension von] Walter Jens & Hans Thiersch (1987). Deutsche Lebensläufe in Autobiographien und Briefen [Textfassung a]
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Walter Jens/Hans Thiersch: Deutsche Lebensläufe in Autobiographien und Briefen. Weinheim und München: Juventa 1987, 264 S., DM24,-

[V64:1] Man fühlt sich beim Lesen wie im Salon der Rahel Varnhagen,
Französische Straße 20
; und eine Art Wehmut ergreift den Rezensenten, daß es dies nun, in dürrerer Zeit, nur noch als literarische Beschwörungsformel gibt. Das sechste Stück in dem hier anzuzeigenden Band,
Walter Jens: Rahel Varnhagens Briefe
, ist eine rhetorische Miniatur, nicht nur auf diese unvergleichliche Frau, sondern auf ein intellektuelles Klima, auf eine soziale Figuration zwischen Geist und Besitz, Beständen und Möglichkeiten, jüdischen Lebensläufen und ihrer damals noch nicht ahnbaren schrecklichen Zukunft. Aber man muß Bescheid wissen, sich auskennen in diesem erinnerten Geflecht der Humboldt, Gentz, Kleist, Schleiermacher, Marwitz, mit ein bißchen Fichte und Hegel freilich auch, und Forster ganz am Rande, aber dauernd gegenwärtig, versteht sich; und dann diese Affären, dieses Ausprobieren anderer Lebensformen, vor allem zwischen den Geschlechtern, Henriette und Caroline und
Lucinde
, Schleiermacher mäßigend dazwischen usw. usw. – das alles erfreut das Philologen-Herz, man kann das goutieren, zumal der historische Sinn der Szenerie, durch die Erinnerung an diese einzigartige Frau, zur Vergegenwärtigung wird. Eine intellektuelle Spätblüte deutscher radikal-liberaler Bildungs-Bürger|a 76|lichkeit also? Mit Klaus Mann – das vorletzte Stück dieser
Lebensläufe
– scheint Walter Jens sagen zu wollen: Ja, so ist es!
[V64:2] Im imaginierten Salon, nun nicht mehr bei Rahel in Berlin, sondern in einem jedenfalls späteren Utopia, sitzt noch ein anderer. Bei Rahel Varnhagen muß es, denke ich mir, jemand wie Heine gewesen sein (Schuhmanns Vertonung der
Dichterliebe
im Ohr oder die Briefstelle, in der Rahel ihm schreibt über eine ihr schrecklich scheinende Trennung von kurzzeitig überlassenen Pflegekindern:
Sie (Heine) werden dies herrlich, elegisch, fanatisch, einschneidend, äußerst schmerzhaft ... sagen
). Einschneidend, äußerst schmerzhaft – dies trifft den ganzen Heine wohl besser als die anderen Adjektive, trifft auch besser den Part, den Hans Thiersch in diesem Dialog, diesem Kontrapunktus a due voci, übernommen hat. Italienische Märchen enden gelegentlich mit der Formel:
Und wir, wir sitzen hier und essen unsere Spaghetti
; aus den Höhen geistesgeschichtlicher Assoziationen zurück also in die Alltäglichkeit schwierigen, oft bedrückenden, häufig ärmlichen Lebens, in das, was wir, abstrakt genug,
materielle Bedingungen
und ihre seelischen Folgen nennen. Diese zweistimmige Dramaturgie, Duell oder Duett und mit vielen Obertönen, verspricht also einiges – und hält das Versprechen.
[V64:3]
Lebensläufe
aus zwei Jahrhunderten werden präsentiert, eine Art Kurzfassung deutscher Geistesgeschichte, vorgetragen nicht mit der Attitüde historisch-philologischer Kritik oder sozialgeschichtlicher Akribie, sondern mit einem unübersehbaren republikanischen und sozialkritischen Engagement, mit, wie es im modischen Jargon heißt,
Betroffenheit
. Das Buch gibt Zeugnis davon, daß diese Art von Betroffenheit eine Tugend ist, die uns mit unserer Geschichte verbinden könnte, läsen wir sie nur genau genug, nicht nur als Geschichte des Gedachten, sondern auch als Geschichte des Gelebten, und sei es durch die Chiffren autobiographischer Aufzeichnungen hindurch. An 16 Beispielen wird dieses Projekt durchexerziert: der arme Mann Uli Bräker aus der Ostschweiz, um 1740 geboren; natürlich Philipp Moritz alias
Anton Reiser
, Jung-Stilling und Winckelmann und Bettina von Arnim; von Rahel Varnhagen war schon die Rede, aber es folgen noch Bismarck und Bebel, die proletarischen Lebensläufe von Adelheid Popp, Felder, Rehbein und Adam Scharrer, die intellektuell- revolutionären Existenzen von Rosa Luxemburg, auch Lily Braun, Oskar Maria Graf; schließlich Klaus Mann und Bernward Vesper. Ein reiches Panorama also.
[V64:4] Die Perspektiven der beiden Autoren, das gibt dem Text eine zusätzliche Dramatik, sind durchaus verschieden. Walter Jens bevorzugt die große und großzügige Interpretationsgeste, den forschen Blick in die Verzweigungen der Geistesgeschichte. Das läßt er sich auch dort nicht nehmen, wo man sich, der Qualität der Selbsterzeugnisse und des Blicks
von unten
wegen, eine Parteinahme wünschen könnte, die auch in der interpretierenden Darstellung ihren Ausdruck findet. (Am deutlichsten tritt dieses Mißverhältnis vielleicht im Kapitel über Adelheid Popp hervor.) Hans Thiersch dagegen, wie ein Gesprächspartner im kritischen Dialog, fädelt in den großen intellektuellen Gestus immer wieder das realistische Detail ein. Die Heroen der Geschichte abendländischer Autobiographik – der häufig zitierte Augustinus etwa, auch Rousseau oder Goethe – interessieren ihn weniger. Sein Blick richtet sich auf das, was
Umstände
oder
Verhältnisse
genannt wird, auf die dichte Interaktion zwischen dem materiell scheinbar Unausweichlichen und dem bisweilen verzweifelten Sich-Wehren gegen aufgenötigtes Unrecht, auf die Spiele des Kindes auch, die Emanzipationsschritte des Jugendlichen, die Bildung politischer Gewißheit beim jungen Erwachsenen. Das ist der Blick des Sozialpädagogen: nüchtern, die Fakten registrierend, rhetorisch enthaltsam. Kein Wunder also, daß er mit
Anton Reiser
beginnt, dieser ersten sozialpädagogisch- psychologischen Fallstudie, wenn man so sagen darf, der deutschen Literatur.
[V64:5] Ein schönes Lesebuch also,
nehmt alles in allem
. Die Auswahl der Lebensläufe folgt zwar keiner angegebenen Systematik, keinem Prinzip – wenngleich doch ein geheimes gut erkennbar ist. Dem Liebhaber wird manches fehlen, Kügelgen etwa oder Seume oder Jean Paul oder die Autobiographie einer Frau aus unseren Jahrzehnten; auch frage ich mich, warum Thomas Platter nicht einmal Erwähnung findet, bei derartig vielen Querverweisungen und Anspielungen; zwischen Augustinus und Rousseau klafft eine Leere, so als hätte beispielsweise der Humanismus nichts |a 77|beizutragen gehabt zu deutschen Lebensläufen. Aber diese Selektion hat Prinzip: Es geht den Autoren offensichtlich um die Frage, wie sich das Erwachen republikanischer Gesinnung mit all ihren sozialen und intellektuellen Folgen in den Selbstdeutungen der Autobiographien spiegelt oder, in der sprachlichen Auseinandersetzung mit sich selbst, allererst hervorgebracht wird. Zeitliche Beschränkung und Auswahl werden so verständlich, auch die gelegentliche Neigung, etwas
auf den Begriff
zu bringen, was sich den
bestimmten Verstandesurteilen
denn doch vielleicht entzieht. Ein schönes Buch, aber auch ein bedrückendes. Die Perspektive der Autoren verspricht keine glückliche Fortsetzung in die Zukunft hinein. Das Buch endet – und nun bleiben die zuvor immer wieder in Zitaten und indirekten Anspielungen Trost spendenden Fontane und Bloch zurück – mit zweien, die sich das Leben nahmen, mit dem
Zwei-Welten-Dasein
Klaus Mann
Der absoluten Verzweiflung sollten wir uns überlassen. Nur das wäre ehrlich
, schrieb er vor 40 Jahren – und mit Bernward Vesper, der, von einem faschistischen Elternhaus mühsam sich befreiend, in der Studentenbewegung, schließlich im Drogenrausch und in einer psychiatrischen Klinik endet, und bis zum letzten Augenblick sich in der Autobiographie
Die Reise
Rechenschaft zu geben versucht.
Am Schluß ein Fragezeichen
zitiert Walter Jens Klaus Mann;
Liebe und Solidarität
war die Hoffnungsformel Bernward Vespers.