Diderot und Chardin – Zur Theorie der Bildsamkeit in der Aufklärung [Textfassung a]
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Diderot und Chardin – Zur Theorie der Bildsamkeit in der Aufklärung

[098:1] Als hätte Diderot es geahnt, welche Stereotypen über die Epoche, die
»Aufklärung«
heißt, möglich und zu befürchten seien, welch einseitige Lesarten die überlieferten Quellen später vielleicht zu erdulden hätten, welch vielleicht ungewollter Dogmatismus sich in die Geschichtsschreibung späterer Generationen einschleichen könnte, wenn man die Fragen einer früheren Generation weniger ernst nimmt als ihre Antworten – als hätte er dies, angesichts seines eigenen Werkes, vorausgesehen, ermahnt er
»die Jünglinge, die sich zum Studium der Naturphilosophie entschließen«
, in seinen 1754 geschriebenen
»Gedanken zur Interpretation der Natur«
folgendermaßen:
[098:2]
»Vergegenwärtige dir im Geist immer, daß die Natur nicht Gott ist, daß ein Mensch keine Maschine ist, daß eine Hypothese keine Tatsache ist. Und sei überzeugt, daß du mich überall dort nicht verstehen wirst, wo du etwas zu bemerken glaubst, was im Gegensatz zu diesen Prinzipien stünde.«
(Philosophische Schriften I, S. 417)
[098:3] Von einem Autor, der derart exponiert darauf besteht, daß der
»Mensch keine Maschine«
sei, in offensichtlicher Frontstellung gegen die vordem ziemlich verbreitete Maschinen-Metapher, darf man vermuten, daß er zu dem Sachverhalt, der später
»Bildsamkeit«
genannt wurde, etwas beizutragen hat. Indessen scheint die deutsche Erziehungswissenschaft sich mit Diderot schwer zu tun; in den Kanon pädagogischer
»Klassiker«
ist er niemals aufgerückt, mit freilich guten Gründen. Warum er aber nicht einmal als gewichtiger Diskussionspartner im Diskurs des 18. Jahrhunderts über Probleme der Bildung des Menschen in unserer pädagogischen Geschichtsschreibung auftaucht, ist nicht ganz leicht zu erklären. Es könnte damit zu tun haben, daß der deutsche Blick, von Rousseau fasziniert, den Freund im Schatten läßt; oder damit, daß dieser Blick zu früh sich verengte auf schulmäßige Problemstellungen; damit, daß die eher essayistischen Argumentationen und Darstellungsformen, die Diderot bevorzugte, schon im 18. Jahrhundert nur kleine Zirkel erreichte; vielleicht hängt es auch mit seinem angeblichen
»Materialismus«
zusammen – was wiederum DDR-Autoren veranlaßte, ihm entschieden mehr Aufmerksamkeit zu widmen als andere deutsche Unternehmen zur Geschichte der Pädagogik. Mindestens aber spielte wohl eine Rolle, daß Diderot, mit Ausnahme seines
»Plans des gesamten Schulwesens für die russische Regierung«
, kaum versucht hat, praktischen Einfluß auf den Gang der Erziehungs- und Bildungsgeschichte zu nehmen.
[098:4] Ich will hier diese Fragen keiner historischen Prüfung unterziehen. Sie würde sich auch kaum lohnen, wenn nicht zuvor ermittelt wäre, ob überhaupt und in welcher Weise Diderots Werk für die Geschichte der Bildungstheorie und für das Bildungsdenken der Aufklärung mehr als nur archivarische Aufmerksamkeit verdient. |a 34|Jedenfalls erscheint er in Herwig Blankertz’
»Geschichte der Pädagogik«
nur nebenbei, als
»Enzyklopädist«
eben, wie seit Generationen in derartigen Darstellungen üblich. Auch in den 11 Bänden der
»Enzyklopädie Erziehungswissenschaft«
taucht sein Name nur zweimal auf und teilt damit das bibliographische Schicksal von Lessing, beispielsweise.
[098:5] Dem anderen im Titel genannten Autor, dem Maler Jean Baptiste Chardin geht es, in dieser Hinsicht, naturgemäß noch schlechter. Bilder spielen in der Geschichtsschreibung der Pädagogik ja ohnehin eine höchstens illustrative Rolle – merkwürdigerweise im Gegensatz zu der gerade in der Aufklärung entwickelten Idee, daß der ikonische Diskurs gerade nicht den sprachlichen nur bebildere, sondern den autonomen Regeln dieser Darstellungsgattung folgt und also auch Problemstellungen zur
»Sprache«
bringe, die in andere Medien nicht ohne Informationsverlust transformiert werden können. Wer sich ernsthaft auf die Bildungsideen der Aufklärung, besonders des 18. Jahrhunderts, beziehen möchte und dabei nicht nur ihre schulischen Institutionalisierungen im Sinn hat, für den könnte also interessant werden, in welchen Maßen oder Außmaßen ästhetische Probleme als Komponenten von Bildungsproblemen umschrieben wurden.
[098:6] Ebendies ist der Fall in jenen Dokumenten, die ich im folgenden versuchsweise als bildungstheoretische erläutern möchte. In der von Grimm herausgegebenen
»Correspondance«
– einer Zeitschrift mit kleiner Auflage, die von einem intellektuell anspruchsvollen und zugleich zahlungskräftigen Publikum in Europa abonniert wurde – veröffentlichte Diderot unter dem Titel
»Salon«
mehr als 300 Seiten Rezensionen der damals im Louvre inszenierten Ausstellungen moderner Malerei, von 1759 bis 1781. Hinzu kommt, neben anderem, vor allem sein
»Versuch über die Malerei«
(1765), von Goethe übersetzt und – wenn ich so sagen darf – besserwisserisch kommentiert. In diesen Schriften Diderots spielen die Bilder Chardins eine besondere Rolle. Warum?

1. Diderot zu Chardin

[098:7] In der ersten dieser Rezensionen, im
»Salon«
von 1759Diderot und Rousseau hatten sich gerade zerstritten, Rousseau arbeitete in Montmorency am 5. Buch des
»Emile«
– heißt es:
[098:8]
»Ich liebe in der Malerei keine geblümten Stoffe. Sie haben weder Einfachheit noch Vornehmheit. Die Blumen müssen auf dem Untergrund flimmern, der – besonders wenn er weiß ist – gleichsam eine Menge verstreuter kleiner Lichter bildet. So geschickt ein Künstler auch wäre, so könnte er doch niemals ein schönes Gemälde von einem Blumenbeet und auch kein schönes Gewand aus einem geblümten Kleid machen.«
(Ästhetische Schriften I, S. 348)
[098:9] Im Hinblick auf das
»Blumenbeet«
wird spätestens Monet ihn widerlegen; im Hinblick auf die
»geblümten Stoffe«
, auf das
»geblümte Kleid«
wird 150 Jahre später Adolf Loos ihm recht geben. Auf vielen Bildern mißfiel ihm die
»Theaterdekoration mit all ihrer Unwahrheit«
(Ä.S. I, S. 349)
. Hingegen Chardin:
»Das ist immer Natur und Wahrheit ... Dieser Chardin ist ein Mann von Geist; er beherrscht |a 35|die Theorie seiner Kunst; er malt in durchaus eigener Manier, und seine Gemälde werden eines Tages sehr begehrt sein«
(Ä.S. I, S. 352)
. In den Ausstellungsrezensionen von 1763 wird Diderot genauer, besonders im Hinblick auf
»Natur und Wahrheit«
und auf
»die Theorie seiner Kunst«
, wenngleich noch in schwierigen Umschreibungen, die jedoch die hinter der Faszination liegenden Problemstellungen im Umriß erkennbar machen: Eine
»Magie«
gehe von den Bildern Chardins aus, sie zeigen
»die eigentliche Substanz der Gegenstände«
, Chardin
»täuscht Sie und mich«
, beim Gebrauch unserer Augen. Das heißt nichts anderes, als daß diese Bilder für Diderot zur Exemplifizierung eines sensualistischen Problems werden: Wie hängen die Sinneswahrnehmungen mit den Ideen, die wir uns (woraus?) machen, zusammen? Inwiefern kann das Betrachten eines Bildes, besonders eines von Chardin, für den Betrachter bildend sein? Sind in dieser Frage nicht Probleme enthalten, die weit über die Betrachtung von Bildwerken hinausgehen und eine fundamentale bildungstheoretische Frage betreffen, nämlich die nach der Beteiligung unserer Sinnestätigkeit an der Bildung des Selbst?
[098:10] Die Bilder Chardins – so darf man Diderots Kommentare interpretieren – erlegen uns eine selbstreflexive Bewegung auf, in der das Denken sich auf Reichweite und Wirkung unserer Sinnesorgane, hier des Auges, richtet. Er kann es nicht erklären; er kann nur das Resultat beschreiben:
»Treten Sie näher: alles verschwimmt, verflacht und verschwindet. Entfernen Sie sich: alles erschafft und erzeugt sich wieder neu«
(Ä.S. I, S. 454)
. Es gibt also offenbar eine optimale Distanz zwischen Sinnesorgan und Leinwand; das Bild
»verstehen«
bedeutet also u.a., dieses Optimum herauszufinden, im gleichsam experimentellen Umgang mit der eigenen Sinnestätigkeit.
[098:11]
»Da sind dicke, aufeinander aufgetragene Farbschichten, deren Effekt von unten nach oben durchdringt. In anderen Fällen möchten wir behaupten, ein feiner Dunst sei auf die Leinwand gehaucht, und wieder ein anderes Mal, ein leichter Schaum sei darauf gespritzt.«
(Ä.S. I, S. 454)
[098:12] Es geht offensichtlich um nichts anderes, als schrittweise zu erläutern, was
»Autonomie der Kunst«
und hier insbesondere der Malerei bedeuten kann: die eigentümlichen Regeln zur Geltung bringen, nach denen der Maler eine bestimmte Beziehung zwischen der Leinwand und dem Augensinn des Betrachters hervorbringt. Läßt man einmal die wenig später von Schiller vorgenommene bildungspolitische Zuspitzung der Verhältnisse zwischen allgemeiner Menschenbildung und ästhetischer Erfahrung hier noch außer Betracht, dann kann man, Diderot interpretierend, sagen, daß er zumindest zwei Komponenten einer bildungstheoretischen Problemstellung zur Sprache brachte: Inwiefern kann die Malerei, und zwar als Malerei, mit ihren unverwechselbar eigenen Mitteln, bildend wirken – und: welche Bedeutung hat, in dieser Hinsicht, die Wahl des Sujets? Das ist eine didaktische Frage, eine Frage nach
»kategorialen«
(Klafki) Bestimmungen des Bildungsvorganges einerseits und nach thematischen Elementaria (Blankertz) andererseits. Diderot beantwortet sie in der Souveränität des vorrevolutionären Subjekts: Chardins Bilder sind revolutionär und modern, weil sie die Bild-Betrachter-Beziehung auf die autonomen Regeln der bildnerisch-ästhetischen Produktion und damit sensualistisch reduzieren und weil sie, in dieser Konsequenz, die Sujets von allen ideolo|a 36|gischen Reminiszenzen (Historienmalerei, mythologische Themen, Porträts etc.) befreien. Daß Chardin, neben seinen bürgerlichen Interieurs, vor allem Stilleben malte, bringt seine revolutionäre Rolle auf den ästhetischen Begriff:
[098:13]
»Ich weiß, daß Modelle Chardins, die leblosen Naturgegenstände, die er nachahmt, weder den Ort noch die Farbe, noch die Formen wechseln und daß bei gleicher Vollkommenheit ein Portrait von La Tour mehr Verdienst hat als ein Stilleben von Chardin. Aber ein Flügelschlag der Zeit wird nichts von alledem übriglassen, was heute den Ruf des ersteren rechtfertigt. Der kostbare Staub wird von der Leinwand verschwinden – teils in den Lüften verstreut, teils vom Gefieder des alten Saturn entführt. Man wird von La Tour sprechen, aber man wird Chardin betrachten.«
(Ä.S. II, S. 71 f.)

2. Etwas über Chardin

[098:14] Welche Art von Bildern war das, die Diderot derart faszinierten, neben denen von Vernet und Greuze? Vernet malte vorzüglich Landschaften, Greuze soziale Situationen des
»petit bourgeois«
, Chardin Stilleben und Momente bürgerlichen Lebens in sparsamster Inszenierung: Ein junger Mensch baut ein Kartenhaus, ein anderer bläst Seifenblasen, ein kleines Mädchen beendet gerade die Morgentoilette vor dem Spiegel (von der Mutter beaufsichtigt), eine Dame trinkt Tee, ein Junge wird zur Schule geschickt; dies alles und auch noch seine Selbstporträts sind gemalt wie seine Stilleben, in äußerster Sachlichkeit, so als sollten alle begrifflichen, historischen, allegorischen, mythisch-religiösen Assoziationen ausgeschaltet werden und statt dessen nur noch eine Frage gelten: Wie und in welcher Weise erscheint die Welt, wenn wir uns auf nichts als unsere Sinne verlassen?
[098:15] Unter den in solcher Einstellung gemalten Bildern ist eines, das in besonderer Weise ein Dokument zur Geschichte der Pädagogik genannt werden kann.
»The young Schoolmistress«
– so der Titel, den man dem Bild, nicht ganz zutreffend, gegeben hat – hängt in der Londoner National Gallery und wurde 1736/37 gemalt (Abb. 1): Keine Schulsituation, aber wohl eine Lehr-Lern-Situation, mindestens jedoch eine Generationen-Beziehung, irgendwie instrumentell vermittelt. Nur ein kleiner Bruchteil des Oeuvres von Chardin hat pädagogische Situationen – im weitesten Sinne der gleichzeitigen und aufeinander bezogenen Anwesenheit von Erwachsenen und Kindern – zum Thema; es sind weniger als 10 Bilder. Nur dieses eine enthält so etwas wie absichtsvolle Unterrichtung. Selbst das aber ist ungewiß: Die (vermutliche) Stricknadel der jungen Frau zeigt nicht auf das beschriebene Blatt, sondern daneben auf den Rand: daß hier
»a young girl is teaching a much younger child to read«
(Conisbee 1986, S. 148)
, ist durch nichts im Bild eindeutig zu rechtfertigen, weder
»teaching«
noch
»to read«
; von Lesen keine Spur, nur ein Blatt mit nicht erkennbaren
»Zeichen«
, jedenfalls aber keine Buchstaben. Bemüht sich die junge Frau, den Knaben etwas zu lehren oder stellt der Knabe – gleichsam im Vorbeikommen, während sie mit ihrer Strickarbeit beschäftigt war – eine Frage, deren Beantwortung ihr nun Schwierigkeiten bereitet? So ohne weiteres läßt sich nicht entscheiden, wenn schon dieses Bild eine Lehr-Lern-Situation genannt werden darf, was gelehrt wird und wer das Subjekt der Belehrung ist.
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Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Le jeune enseignant« (1735–1736) von Jean Baptiste Siméon Chardin zu sehen.
[098:16] Das wäre dann eine Situation ganz nach dem Geschmack Diderots. Weder Rousseau noch John Locke hätten eine derartige Zweideutigkeit besonders geschätzt. Auf Locke hier anzuspielen, ist keine willkürliche Assoziation: Ob Chardin je dessen Schriften gelesen hat, ist unbekannt; mit Sicherheit aber kannte er die popularisierenden Versionen der Wahrnehmungstheoreme Lockes, die in Frankreich u.a. von La Hire und Le Clerc verbreitet und, im Zusammenhang mit der sensualistischen Interpretation der visuellen Wahrnehmung, auf die Tätigkeit des Malers bezogen wurden (vgl. Baxandall 1985). Der Lockesche Sensualismus avancierte also zu einer Art Grundlagentheorie der bildenden Kunst (mindestens die Akademie-Vorlesungen Le Clercs hatte Chardin gehört). Damit wird auch deutlicher, was Diderot meinte, als er schrieb, Chardin beherrsche
»die Theorie seiner Kunst«
: Nicht von einer spekulativen oder normativen Ästhetik ist hier die Rede, sondern von sensualistischer Wahrnehmungstheorie und von Problemen, die mit ihr im Hinblick auf die Genese von Wissen und Bewußtsein aufgeworfen werden – und also von der Frage, durch welche Malweise derartige Probleme am ehesten exemplifiziert werden können.
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[098:17] Daß Chardins Bilder, mit Bezug auf ein pädagogisch interessierendes Sujet besonders diese
»Young Schoolmistress«
, die Tätigkeit des Augen-Sinnes in eigentümlicher Weise aktivieren, hat also nicht nur mit artifiziellen Tricks beim Auftrag der Farben oder der sorgfältigen Ausarbeitung eines individuellen Stils zu tun, sondern mit der malerischen Exemplifizierung der Frage, welche Rolle der Perzeption bei der Genese von Bewußtsein zukommt. Daß Chardin dies hier am Beispiel einer Lehr-Lern-Situation vorführt (und ihm dabei eines der intensivsten Kinderbilder unserer neuzeitlichen Überlieferung gelingt), bekräftigt die Hypothese, daß es sich um einen ikonischen Beitrag zum Diskurs über Bildsamkeit handelt. Noch ehe er die Bilder Chardins kennenlernte, aber nachdem dieses Bild gemalt wurde, schrieb Diderot den
»Brief über die Blinden«
(1749) – ein Essay zur Frage der Bildsamkeit, bei dem ich mich übrigens frage, warum er eigentlich in unseren Textsammlungen und historischen Zitaten zur Geschichte der Pädagogik, zur Geschichte der Bildungstheorie nicht auftaucht –, in dem er, in sensualistischer Einstellung, der Frage nachgeht, wie das Verhältnis von Sinnestätigkeit und Begriffsbildung im Vorgang der Bildung des Menschen beschaffen sein mag. Kein Wunder also, daß er wenige Jahre später von Chardins Bildern fasziniert war.

3. Zur Vorgeschichte der Theorie der Bildsamkeit

[098:18] Da ich in diesem Text mir Chardin gleichsam durch die Brille Diderots zugänglich zu machen und diesen Diderotschen Blick aus der späteren Perspektive von Bildungstheorien der
»klassischen«
Periode zu sehen versuche, ist es naheliegend, noch ein wenig bei Diderot zu verweilen. Aber nicht nur dieser, sondern auch ein historiographischer Grund läßt sich geltend machen: Zwar ist es richtig, die Probe aufs Exempel aller pädagogischen Geschichtsschreibung nicht in der Ideengeschichte, sondern in der Realgeschichte des institutionalisierten gesellschaftlichen Teilsystems
»Erziehung und Unterricht«
zu suchen. Die
»Geschichte der Pädagogik«
von Herwig Blankertz ist vor allem deshalb so beispielgebend, weil hier eine besonders dichte Koordination von problem- und sozialgeschichtlichen Fragen gelungen ist. Gelegentlich aber bleiben auch bei solchen Versuchen, wenn sie größere Zeiträume zu umgreifen trachten, ideengeschichtliche Triebkräfte, Autoren also, im Halbdunkel, die sich zwar nicht unmittelbar auf pädagogische Institutionalisierungen bezogen oder nachträglich beziehen lassen, dennoch aber das argumentative Instrumentarium entwickelten oder vorbereiteten, von dem die Nachfolger profitieren konnten. Ein solcher Fall ist Diderot – und es ist der Prüfung wert, warum – ich wiederhole es – er hierzulande nur eine Nebenrolle spielen muß, obwohl doch im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum ein Intellektueller ihn nicht gelesen hatte (Mortier 1967). Um diese Frage zu unterstreichen, genügen mir vorerst einige Stichworte.
[098:19] Einer der interessantesten Texte – eigentlich unnötig zu sagen, aber Pädagogen scheint er wenig vertraut zu sein – sind die
»Gespräche mit D’Alembert«
(1769). In dem Textteil, der mit
»D’Alemberts Traum«
überschrieben ist, geht es gleich in die Mitte einer möglichen Bildsamkeitstheorie hinein: D’Alembert träumt und spricht im Traum von der Evolution:
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[098:20]
»Der Elefant, diese riesige Masse von organischem Bau, ein plötzliches Produkt der Gärung! Warum nicht? Der Unterschied zwischen diesem großen Vierfüßer und seiner Urmutter ist kleiner als der Unterschied zwischen dem Würmchen und dem Mehl-Molekül, das es hervorgebracht hat; aber das Würmchen ist nur ein Würmchen ... Das heißt, die Winzigkeit, die Ihnen seinen organischen Bau verbirgt, nimmt ihm das Wunderbare ... Das Wunder – das ist das Leben, das ist die Empfindlichkeit.«
(P.S. I, S. 534)
[098:21] Dies ist ein wesentlicher Punkt: Die Differenzierung von
»Empfindlichkeit«
(Sensibilitée) hat offenbar etwas mit der Bildungsfähigkeit des Menschen zu tun, gattungsspezifisch. Aber das ist nur die eine Seite der Sache. Die andere Seite ist das
»Ich«
; und das taucht in der Dialog-Form des Textes – mit D’Alembert als träumendem Dritten, der die Stichworte gibt – gleich doppelt auf: als dialogführender Gesprächspartner, in einer Situation wechselseitiger Belehrung, und als das empirische Ich, das Gegenstand des Dialogs ist; die vielen Empfindungen, wie und von welcher Instanz werden sie zusammengehalten! Mademoiselle de Lespinasse antwortet darauf nicht weniger klug als – letzten Endes – viele Interaktionstheoretiker heute, selbst bei psychoanalytischer Bildung: Derartige Fragen seien
»klar«
, bedürften keiner besonderen Untersuchung,
»zum Beipiel die Fragen meiner Einheit, meines Ich. Wahrhaftig, mir scheint, daß man nicht so viele Worte zu verlieren braucht, um festzustellen, daß ich jedenfalls ich selbst bin, daß ich immer ich selbst gewesen bin und daß ich nie eine andere sein werde«
(P.S. I, S. 536)
. Aber sollte man nicht die nicht zu bezweifelnde Darstellung einer Selbst-Empfindung zu erklären versuchen?
[098:22] Gewiß! Der erste Schritt dahin wäre die Beantwortung der Frage, was es denn sei, das den Namen Selbst-Empfindung verdiene und infolgedessen auch mit der ersten Person singularis zusammenfassend bezeichnet werden könne. Descartes identifiziert dieses
»Etwas«
im cogitare. Diderot, der Repräsentant des aufgeklärten 18. Jahrhunderts, identifiziert es anderswo – vielleicht zur Überraschung manch aufklärungskritischer Autoren unseres Jahrzehnts:
»Wie ging«
– so fragt der Arzt Bordieu in jenem Dialog, als die Zusammenführung der vielen
»empfindlichen Moleküle«
in der Einheit des Ich erörtert werden sollte – aus alledem
»das Bewußtsein des Ganzen hervor?«
Mademoiselle de Lespinasse antwortet:
»Mir scheint, die bloße, unmittelbare Berührung genügt schon ... Wenn ich meine Hand auf meinen Schenkel lege, fühle ich zuerst ganz deutlich, daß meine Hand nicht mein Schenkel ist; aber einige Zeit danach...«
(A.a.O., S. 536)
. Das ist nun fast ein Rousseau-Zitat. 1762 schrieb Rousseau den
»Pygmalion«
. In dem Moment, in dem die Marmorstatue (Galathée) zum Leben und zum Bewußtsein ihrer selbst erwacht, sagt sie nicht
»ich denke«
, sondern es heißt:
»Galathée se touche, et dit:
Moi... Galathée
, se touchant encore,
c’est moi!
«
(Rang 1959, S. 175)
. An die Stelle der kognitiven Ich-Gewißheit des Descartes tritt hier also die sensuelle;
»ich fühle, also bin ich«
. Strittig war unter den – heute gelegentlich so hart attackierten Aufklärern – nur, welcher Sinn denn in diesem ursprünglichen Selbst-Gewißheits-Erlebnis die Führung übernimmt, der Augen- oder der Tastsinn.
[098:23] Aber das bleibt immer noch offen, ob es, gegenüber derartigen Oberflächen-Beobachtungen und phänomenalen Selbstempfindungen, eine Instanz gibt, die sie |a 40|allererst möglich macht. Daß die Frage nicht einfach durch idealistische Konstruktionen zu erledigen ist, dachte – in dieser Hinsicht von Diderot gar nicht so weit entfernt – auch Ludwig Wittgenstein, als er sich fragte, ob es denn sinnvoll sei, des Morgens beim Aufstehen, sich zu vergewissern, ob er denn wirklich die dazu nötigen zwei Beine habe und ob sie auch wirklich seine seien. Sinnvoll aber ist es heute und war es im 18. Jahrhundert, zu fragen, ob irgend etwas in unserer physiologischen Ausstattung diese Gewißheit hervorbringen könne. Locke und Hume, Condillac und Diderot, Rousseau und die Göttinger Professoren mochten sich mit den Formeln, hinter denen noch Chr.A. Wolff seine Metaphysik verbarg, nicht zufrieden geben. 10 Jahre nach den
»Gesprächen mit D’Alembert«
berichtete der Göttinger Mediziner Blumenbach über seine
»Entdeckung«
, den
»Bildungstrieb«
(Blumenbach 1971); er habe entdeckt, schrieb er,
[098:24]
»daß in allen belebten Geschöpfen vom Menschen bis zur Made und von der Ceder zum Schimmel herab, ein besondrer, eingebohrner, Lebenslang thätiger würksamer Trieb liegt, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann zu erhalten, und wenn sie ja zerstört worden, wo möglich wieder herzustellen. [098:25] Ein Trieb (oder Tendenz oder Bestreben, wie mans nur nennen will) der sowol von den allgemeinen Eigenschaften der Körper überhaupt, als auch von den übrigen eigenthümlichen Kräften der organisirten Körper ins besondre, gänzlich verschieden ist; der eine der ersten Ursachen aller Generation, Nutrition und Reproduction zu seyn scheint, und den ich hier um aller Misdeutung zuvorzukommen, und um ihn von den andern Naturkräften zu unterscheiden, mit dem Namen des Bildungs-Triebes (Nisus formativus) belege.«
(Blumenbach 1971, S. 12 f)
[098:26] Damit war freilich nicht das Problem erledigt, das die spätere Subjektphilosophie aufwarf; es war nur eine derjenigen Komponenten benannt, die, wenn wir Goethe folgen wollen (er hat sich ausdrücklich auf Blumenbach bezogen), für die Bildung des Menschen nicht unerheblich sei. Problemgeschichtlich handelt es sich jedenfalls um
»anthropologische«
Vorläufer der späteren Bestimmungen von Bildsamkeit bei Fichte und Herbart.
[098:27] Dieses Konzept eines
»Bildungstriebes«
ist auch in den Argumentationen Diderots enthalten, und zwar besonders im Hinblick auf
»Tendenz oder Bestreben, wie mans nur nennen will«
, eine sinnvolle funktionale
»Gestalt«
hervorzubringen. Als Metapher dient ihm die Spinne: Sie sitzt im Netz wie das Zentralnervensystem im Organismus. Damit ist auf zwei Problemstellungen hingewiesen: die Leibhaftigkeit, die organische Fundierung jeder Bildungsbewegung –
»Die Arten sind nichts anderes als Tendenzen zu einem gemeinsamen, ihnen eigentümlichen Ende ... Das Leben ist eine Reihe von Wirkungen und Rückwirkungen«
(P.S. I, S. 539)
– und die diese ganze organische Gestalt repräsentierende Funktion des Bewußtseins, dem – in einer schönen Metapher ausgedrückt – das organische
»Geflecht«
als
»Kissen dient und auf der es ruht, achtgibt, urteilt und entscheidet«
(a.a.O., S. 549)
.

4. Erweiterte Bild-Interpretation

[098:28] Was haben diese Versuche zu einer anthropologischen Bildsamkeitstheorie mit Chardin zu tun? Meine These ist: Sie sind der Grund dafür, daß Diderot von den |a 41|Bildern Chardins derart fasziniert war; sie erläutern, was Diderot meinte, als er, in nicht ganz selbstdurchsichtiger Rede, von deren
»Magie«
sprach. Das hier in Rede stehende Bild hat er nie kommentiert, vielleicht nie gesehen. Ich versuche es so zu verstehen, wie er es vielleicht hätte tun können.
[098:29] Um ein gutes Porträt zu malen, müsse der Maler sein Sujet gleichsam aus dessen Innerem heraus sehen, heißt es im
»Versuch über die Malerei«
. Was damit gemeint ist, bleibt nicht im Dunkel: Nachahmung der Natur, und darum handele es sich bei diesem Sich-in-das-Sujet-Hineinversetzen, bedeute nämlich, die Bildungsbewegung zu verstehen und darzustellen, in der sich der Porträtierte befindet,
»gemäß den Ursachen«
, den Wirkungen und Rückwirkungen, denen er ausgesetzt war; Kinder und Greise würden sich deshalb wenig für die Malerei eignen – eine, wie mir scheint, angesichts seiner
»Bildungstheorie«
wenig überzeugende Behauptung, der dann auch noch Goethe allzu rasch recht gab.
»Das Kind ist eine unförmliche (informe), flüssige Masse, die sich zu entwickeln strebt«
(Ä.S. I, S. 637)
. Der Jüngling oder die junge Frau haben, so meinen Diderot und Goethe, den entscheidenden Schritt ihrer Gestaltwerdung hinter sich, können also im Bild, oder in der Skulptur, im Hinblick auf den gelungenen Bildungsprozeß zur Darstellung gebracht werden.
[098:30] Chardin, mit den Augen eines recht verstandenen Diderot gesehen, belehrt ihn und uns eines Besseren: Die ästhetische Überzeugungskraft des Bildes beruht u.a. auf der Darstellung des Kindes: die Präsentation en face, das dominierend Runde der Formen, dann der angewinkelte Arm, die Zeigegeste der Hand, der aufmerksame Blick auf das Papier,
»Masse, die sich zu entwickeln strebt«
. Dies aber ist nicht nur gleichsam objektive Eigenschaft der bemalten Leinwand. Sensuelle Empfindungen sind auch das Material der Bildung des Betrachters: Die Farbe konterkariert die Perspektive. Perspektivisch im Hinter- oder Mittelgrund des Bildes lokalisiert, bringen die Rot-Töne das Kind nach vorn. Die Bildungsbewegung (
»Masse, die sich zu entwickeln strebt«
) wird auch im Betrachter stimuliert. Der sensuelle Widerspruch zwischen perspektivischer Zeichnung und gleichsam
»kontrafaktischer«
Farbe erzwingt eine Vergleichung der Sinneseindrücke – nach sensualistischer Meinung der Ursprung für die Bildung von Begriffen.
[098:31] Die junge Frau, Gouvernante oder ältere Schwester, ist in mehreren Hinsichten vom Kinde markant verschieden.
»Gemäß den Ursachen«
, d.h. der Bildungsgeschichte des Organismus, so würde Diderot sagen, ist sie, im Unterschied zum Kind, klar konturiert und so gemalt, als sei das Auge des Betrachters, wie eine Foto-Linse bei der Schärfeneinstellung, auf sie hin justiert; daß sie im Profil erscheint, bekräftigt diese Bildcharakteristik. Nach vorne wie nach hinten läßt die Schärfe nach. Die Verschiedenheit der beiden – en face und en profil, Unschärfe und Schärfe – wird zur Opposition in den Farben: Die Fleischfarben des Kindes und das Kleid der jungen Frau sind als komplementär komponiert. Man kann also sagen: Es geht in diesem Bild um Probleme der Perzeption, nicht um die
»Substanz«
dessen, was erscheint, sondern um die Weise des Erscheinens, um sinnliche Ereignisse, sowohl auf der Seite des Sujets als auch auf der Seite des Betrachters.
[098:32] Dazu steht, so scheint es, in Widerspruch die Tatsache, daß der
»Lehrgegenstand«
unbestimmt bleibt. Das ist um so überraschender, als er genau in der Bildfläche liegt, die nach der Gesamtkomposition – wenn man den Schnitt über Profillinie der |a 42|Frau zur Hand und Stricknadel hin legt – die größte Schärfe haben müßte. Vergleicht man damit frühere Malpraktiken, wo – z.B. bei Hans Holbein – die im Bild erscheinenden Lehrgegenstände derart genau,
»scharf«
, zur Darstellung gebracht werden, daß die Texte, Skizzen oder Noten exakt identifizierbar sind, zeigt sich der Unterschied. Eben dies, so scheint mir, ist hier ausdrücklich nicht der Fall: Nicht nur ist die – vom Betrachter her gesehen – rechte Buchseite diffus gemalt; für sie könnte noch geltend gemacht werden, daß sie ja gerade noch hinter der Bildebene mit der größten Schärfe liegt; die linke Buch- oder Heftseite, auf die die Spitze der Stricknadel trifft (zeigt sie, oder drückt sie die Seiten nur nieder?), ist gar nicht erkennbar; erkennbar – und zwar scharf, wenngleich in der von Diderot vermutlich bewunderten Abstufung zweier Bildungsgenesen – sind nur die beiden Zeigegesten. Worauf zeigen sie eigentlich?
[098:33] Sie zeigen auf etwas, das im Bild nicht gezeigt wird. Das ist eine didaktische Paradoxie, zu der sich die französischen und deutschen Pädagogen jener Zeit kaum entschlossen hätten; den Autoren des 17. Jahrhunderts wäre es vollends absurd erschienen. Möglich wäre eine solche Bildgeste nur dann gewesen, wenn der Maler erwarten durfte, daß dem Publikum ohnehin klar war, worauf gezeigt wird. Hier aber, bei Chardin, wird weder auf eine konventionalisierte Bedeutung der Geste angespielt, noch wird der Lehrgegenstand selbst eindeutig vorgeführt. Worauf, in einem genau gegenständlichen Sinn der Frage, sich die Aufmerksamkeit der beiden richtet, ist nicht eindeutig auszumachen. Deshalb könnte eine kleine Spekulation erlaubt sein. Der planimetrische Mittelpunkt des Bildes ist eine Leerstelle, leicht unterhalb des Blickraums, der die Beziehung zwischen Frau und Kind definiert. Chardin, von Veronese nachhaltig beeindruckt, bevorzugte in vielen seiner Bilder Diagonalkompositionen, in denen dann auch, um die planimetrische Bildmitte herum oder gar in ihr selbst, das thematisch Wichtige sich ereignet – oder, in Fällen planimetrischer
»Leere«
, das
»Objekt«
einer Bildungsbewegung (Spielkarten, Seifenblasen, ein Blick in den Spiegel, ein Ei, der Zeichenstift eines Jünglings usw.) in optischer Schärfe erscheint. Derartige Bilder Chardins sind indessen entweder solche, in denen eine Bewegung der Selbstbildung zur Darstellung gebracht wird (Kartenspiel, Zeichnen, Seifenblasen) oder das Kind als Teilnehmer bürgerlichen Alltagshandelns erscheint (Morgentoilette, Frühstück, Gang in den Keller, Wäschewaschen usw.). Die in dem hier besprochenen Bild dargestellte Lehr-Lern-Szene ist unter Chardins Bildern einzigartig in der Hinsicht, daß zwar, scheinbar, die von ihm bevorzugte Wahl des Sujets eingehalten wird, daß aber, andererseits, die von ihm sonst bevorzugte Art der Exposition der zentralen Bildthematik verlassen wird.
[098:34] Da der Gegenstand des Lernens im Unbestimmten bleibt, muß das Bestimmte an anderer Stelle gesucht werden. Ich treibe meine Spekulation noch einen Schritt weiter und sage: Chardin malte das Problem des Abstraktwerdens von Lehrgegenständen, in den diffus bleibenden Zeichen auf dem Papier, und lenkt den Blick auf Beziehung und Sinnlichkeit. Ebendies hatte Diderot im Sinn mit der literarischen Form des Dialogs und der sensualistischen Thematik. Wenn ich mir eine posthume Versöhnung der verfeindeten Freunde Rousseau und Diderot vorstelle, wäre es ein Diskurs über dieses Bild.
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5. Bildungstheoretischer Nachtrag

[098:35] Damit ist freilich nicht entfernt ausgeschöpft, was über dieses Bild zu sagen möglich wäre. Da ich indessen nicht als Kunsthistoriker, sondern als historisch interessierter Pädagoge mich diesem Gegenstand zuwende, bleibt noch zu präzisieren, wie es im pädagogischen Diskurs des 18. Jahrhunderts zu lokalisieren ist, und was Diderot, in Auseinandersetzung mit einer Malerei dieser Art, über die Organisation von Bildungsprozessen zu schreiben wußte. Beide, Chardin und Diderot, exemplizieren innerhalb der pädagogisch relevanten Argumentation dieser Phase der Aufklärung eine ambivalente, eine
»skeptische«
Position – wenngleich Diderot auch noch den Skeptizismus ironisierte bzw. als Ignoranz zu denunzieren suchte. Jedenfalls scheinen beide sich darin einig zu sein, daß der erkenntnistheoretische Problemgewinn der früheren Aufklärung, von Descartes zu Hume und Locke, nicht so rasch in ein Programm zur Bildung des Nachwuchses als Einübung in bürgerliche
»Utilität«
(Blankertz) umgesetzt werden könne, wie das, wenig später, die Philanthropisten meinten.
[098:36] Chardin – es läßt sich, angesichts der spärlichen Dokumente über sein Leben und Denken, nicht entscheiden, ob absichtlich oder nur für uns rekonstruierbar – lokalisiert sich in einem Dilemma John Lockes. Seine Bilder nehmen Partei für dessen erkenntnistheoretische Erörterungen der Frage, wie Perzeption und Begriffsbildung sich zueinander verhalten. Ebendies wird dem Betrachter buchstäblich vor Augen geführt. Das geschieht besonders nachdrücklich in seinen Stilleben (Abb. 2), die, aus gegenwärtiger Perspektive gesehen, eine Linie beginnen, die über
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Verre d'eau et cafetière« (1761) von Jean Baptiste Siméon Chardin zu sehen.
|a 44|Cézanne zu Morandi verläuft: Es geht um nichts anderes als darum, wie und ob aus den ästhetischen (perzeptiven) Qualitäten der Welt (eingeschränkt, um das Problem präzisieren zu können: aus den perzipierten Qualitäten von Stilleben-Objekten) Begriffe, Ideen gewonnen oder gebildet werden können. Auch Chardins Interieurs sind in diesem Sinne Stilleben (Nature morte); sie verlangen nichts von der allegorisch-traditionellen Erinnerung des Betrachters, aber alles von seiner sinnlich-begrifflichen Imagination. Insofern sind sie Lockes
»Essay concerning Education«
entgegengesetzt und machen die Ungereimtheit deutlich, die zwischen dessen Erkenntnistheorie einerseits und Erziehungstheorie andererseits besteht – jedenfalls in dem hier von mir gewählten Bild: eine, kaum zu leugnen, pädagogische Szene, von Chardin so gemalt, daß man die Lust am Bilden von Jüngeren eigentlich nur verlieren kann; höchst schwierig, ein solches Unterfangen; schmerzlich für beide Seiten; höchst ungewiß auch, ob der Abstraktionsgrad des
»Lehrgegenstandes«
noch irgendwie mit der sinnlichen Organausstattung und den persönlichen Zuwendungsgesten, den Beziehungen, zu tun hat; das
»Pädagogische«
,
»Didaktische«
schrumpft zur bzw. pointiert sich in der Zeigegeste der metallenen Stricknadel! Dieses Bild ist wie ein Geistesblitz, der die erkenntnistheoretische Bemühung John Lockes von seinen pädagogischen Trivialitäten trennt. Der eine oder andere in der Mitte des 18. jahrhunderts, selbst in Deutschland, hatte es geahnt: Die Markgräfin Karoline Luise von Baden erwarb vier Bilder Chardins – und sie war außerdem eine der wenigen Abonnenten von Grimms unglaublich teurer
»Correspondance«
, in der Diderot seine
»Salons«
publizierte.
[098:37] Der didaktisch-kritischen Bildgeste Chardins – das Zeigen auf einen abstrakten und sinnlich nicht identifizierbaren Lehrgegenstand – entspricht Diderots Folgerung, die er im
»Versuch über die Malerei«
im Hinblick auf die Bildung des Künstlers zog. Im Mittelpunkt seiner Attacke gegen die didaktischen Gewohnheiten der Maler-Akademie steht das
»Modell«
und die
»Manier«
.
[098:38]
»Die sieben Jahre, die man bei der Akademie zubringt, um nach dem Modell zu zeichnen, glaubt ihr die gut angewendet? Und wollt ihr wissen, was ich davon denke? Eben während dieser sieben mühseligen und grausamen Jahre nimmt man in der Zeichnung eine Manier an; alle diese akademischen Stellungen, gezwungen, zugerichtet, zurechtgerückt, wie sie sind, alle die Handlungen, die kalt und schief durch einen armen Teufel ausgedrückt werden und immer durch ebendenselben armen Teufel, der gedungen ist, dreimal die Woche zu kommen, sich auszukleiden und sich durch den Professor wie eine Gliederpuppe behandeln zu lassen, was haben sie mit den Stellungen und Bewegungen (actions) der Natur gemein?«
(Ä.S. I, S. 638)
[098:39] Das könnte nun tatsächlich auch von Rousseau geschrieben worden sein. Das Wort
»Natur«
aber hat hier einen etwas anderen, weniger fundamentalistischen Klang. Diderot denkt, wenn er in diesem Zusammenhang von Natur spricht, eher an die Mechanik/Organik des Alltags, an Bewegungen, Handlungen, ausdrucksvolle Gebärden, deren Ursache in der Materialität des sozialen Lebens, besonders des Petit Bourgeois, erkennbar wird, gleichsam
»soziale Natur«
:
»Der Mann, der in eurem Hofe Wasser aus dem Brunnen zieht«
,
»der Bauer, der vor Müdigkeit sich auf die Erde streckt«
(ebd.)
usw.. Rousseau ging bei seiner Suche nach
»Natur«
|a 45|nach innen, Diderot nach außen. Der Maler-Student solle, so sein Rat, mindestens zur Hälfte seiner Ausbildungszeit im Medium des sozialen Alltags sich bewegen und studieren. Die Arbeit nach dem
»Modell«
– auf das auch er nicht gänzlich verzichten mochte – kann nur Einsicht und Grundübung im Hinblick auf wenige kategoriale Fundamente vermitteln;
»richtige Begriffe (idées) ... über die wahre Bewegung der Lebenshandlungen«
(a.a.O., S. 639)
erschließen sich indessen, für den Maler wie für jede andere Bildung auch, in ihrer empirischen Wahrheit erst über die gesellschaftliche Teilnahme.
[098:40] Man kann das – weil hier auch, wenngleich nur unterschwellig, von der Dialektik der Aufklärung die Rede ist – auch lesen als eine vorweggenommene Kritik an Adornos pathetischer Behauptung, daß es
»ein wahres Leben im falschen«
nicht geben könne; Wahrheit oder Falschheit dieses Satzes sind gar nicht entscheidbar, solange man nicht Diderots Rat oder Chardins Bildern folgt, nämlich: die Frage angesichts der
»Lebenshandlungen«
zu prüfen. Tut man das nicht, dann geraten auch gut gemeinte Texte leicht zu säkularisierten protestantischen Predigten.
[098:41] Freilich war dies von Diderot noch in einer historischen Situation vorgebracht worden, in der jene, zwei Jahrzehnte später von Philipp Moritz im
»Anton Reiser«
in ersten Umrissen beschriebene psychische Deformation nur erst in der Gegenüberstellung von Konvention und Natur geläufig war.
»Manier«
und
»Stil«
sind denn auch, wie später bei Goethe, die beiden Vokabeln, mit denen das Bildungsdilemma benannt wird:
»Manier«
ist die allzufrühe Orientierung an dem gesellschaftlich für allgemein Gehaltenen;
»die Einbildungskraft füllt sich mit Handlungen, Stellungen und Figuren, die nicht falscher, zugeschnittener, lächerlicher und kälter sein könnten«
(Ä.S. I, S. 638)
:
»Stil«
dagegen ist eine Bildungsbewegung (und ihr Resultat), die das Allgemeine aus dem Individuellen heraus entwickelt.
»Vom Modell befreit zu werden«
(Ä.S. I, S. 639)
ist deshalb für Diderot der erste pädagogische Imperativ.
[098:42] Das ist indessen mißverständlich, denn Diderot setzt an die Stelle des verworfenen ein anderes
»Modell«
: die Alltagsverrichtungen des Petit Bourgeois. Er ahnte aber schon das nächste Problem:
»alle Attitüde ist klein und falsch, jede Handlung ist schön und wahr«
(Ä.S. I, S. 460)
. Daß auch diese, seine, theoretische Attitüde an ihr Ende kommen würde, konnte er freilich nicht ahnen. Aber vielleicht war Chardin ihm darin einen Schritt voraus? Das für Diderot (noch) nicht Sagbare, Chardin konnte es malen: eine bürgerlich-intime Szenerie, in der das ganze mit der Differenz von Manier und Stil befaßte Bildungsprojekt noch einmal um eine Reflexionsstufe bereichert oder erweitert wird. Auch der
»Stil«
steht unter dem Anspruch einer Wahrheitserwartung, der nach zwei Seiten hin entsprochen werden muß: nicht nur zur Seite des
»Allgemeinen«
, sondern auch zur Seite des subjektiv Empfundenen hin. Die
»Lebenshandlungen«
des Petit Bourgeois sind dafür nur der Anlaß; sie entsprechen ebensowenig der Wahrheit wie die Malerei des
»sozialistischen Realismus«
. Chardin malte gleichsam
»hinter«
derartigen ideologischen Fassaden, dadurch, daß er die visuelle Empfindsamkeit seiner Sujets und seiner Betrachter voll ins Spiel brachte.
»Wer Chardin studiert, ist wahr!«
(Ä.S. I, S. 644)

Zitate Diderots aus:

    [098:43] Denis Diderot: Ästhetische Schriften, 2 Bände, hrsg. von Friedrich Bassenge, Berlin 1984 (zit. als Ä.S.)
    [098:44] Denis Diderot: Philosophische Schriften, 2 Bände, hrsg. von Theodor Lücke, Berlin 1984 (zit. als P.S.)
    |a 46|
    [098:45] Baxandall, M.: Pattern of Intention. On the Historical Explanation of Pictures, New Haven/London 1985
    [098:46] Blumenbach, J.F.: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäft (1781), Stuttgart 1971
    [098:47] Conisbee, Ph.: Chardin, Oxford 1985
    [098:48] Mortier, R.: Diderot in Deutschland, 1750–1850, Stuttgart 1957
    [098:49] Rang, M.: Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959