Ist der überlieferte Bildungsbegriff zukunftsfähig? [Textfassung a]
|a 38|

Ist der überlieferte Bildungsbegriff zukunftsfähig?

[101:1] Im Jahre 480 vor unserer Zeitrechnung – so jedenfalls erzählt es Herodot – erschienen die Kundschafter Athens beim Orakel von Delphi und baten um eine Weissagung für die bevorstehende kriegerische Auseinandersetzung mit den Persern. Die Weissagung fällt unerfreulich aus (
Nicht das Haupt bleibt ganz, noch der Leib, noch die Füße, / auch nicht die Hände, noch bleibt ein Stück in der Mitte des Rumpfes / übrig, sondern vernichtet wird alles
).
Als das die Gotteskundschafter hörten, ergriff sie tiefe Trauer
; sie kehrten noch einmal zum Orakel zurück und baten
um einen besseren Spruch
. Der nun ist zwar nicht mehr so niederdrückend, dafür aber vieldeutig. Auf einer großen Versammlung in Athen begann deshalb eine umständliche Diskussion der Frage, wie er auszulegen sei. Wie man weiß, hatten die Athener Glück mit ihrer Auslegung: Sie vertrauten auf die Schiffe und gewannen die Schlacht bei Salamis.
[101:2] Diese Geschichte ist eine der Geburtsurkunden des europäischen Nachdenkens über Bildung, und zwar in mehreren Hinsichten: Die Quelle der Mehrdeutigkeit des Orakelspruchs ist im Arrangement der Orakel-Prozedur symbolisiert, indem nämlich die Pythia während der Befragung auf einem Dreifuß über einem Erdspalt sitzt, aus dem Dämpfe aufsteigen; derart den Kräften der Erde, der vitalen Tiefe, ausgesetzt, ist das Heiligtum aber andererseits Apollon geweiht, dem licht- und maßvollen Gott; dieser Gegensatz erzeugt eine schwer deutbare Rede. Er erzeugt aber auch bei den Athenern einen Akt der Emanzipation: Statt sich auf das Walten der Gottheiten zu verlassen, müssen sie nun ihre eigene Auslegungsarbeit ins Spiel bringen, eine praktische Urteilsfähigkeit ausbilden; hätten sie die Schlacht bei Salamis verloren, dann hätten sie, nach diesem Arrangement, nicht dem Orakel die Schuld geben können, sondern nur dem Versagen ihrer eigenen Auslegungskraft; sie selbst also sind verantwortlich. Wer das akzeptiert, muß sich zunächst der eigenen Bestände versichern; die Mehrdeutigkeit des Orakelspruchs fordert geradezu diese selbstreflexive Bewegung heraus, da dessen Auslegung nun von nichts anderem mehr abhängt als von der eigenen Vernunfttätigkeit. Deshalb stand über dem Tempeleingang von Delphi der Satz:
Erkenne dich selbst
.
[101:3] Diese Geschichte, die vielleicht wie von allzuweit hergeholt erscheint, habe ich hier zitiert, um anzudeuten, daß wir uns beim Nachdenken über Bildung und den Bildungssinn der Schule in einer Tradition befinden, die nicht so verbraucht ist, wie es bisweilen scheinen mag. Andererseits aber ist das, was für die Athener ein historisch-konkreter Schritt ihrer eigenen geschichtlichen Bewegung, ihrer Emanzipation aus den archaisch-traditionalen Sinnhorizonten war, für uns heute fast zur Selbstverständlichkeit geworden, zur allzu abstrakten Aufforderung angesichts dessen, was die konkreten Bildungs|a 39|probleme unserer Gegenwart uns abverlangen. Ich möchte deshalb im folgenden keine abendländische Bildungstheorie präsentieren, sondern einige Problemstellungen skizzieren, die sich zwar auf der Oberfläche unserer Bildungseinrichtungen und im bildungspolitischen Alltag nicht immer sofort zeigen, ihnen aber – wie ich meine – in der Tiefe gleichsam zugrundeliegen. Die Geschichte vom delphischen Orakel dient mir dabei als Hintergrund, denn nach wie vor müssen wir unsere Vernunftskräfte bemühen, um die Zeichen der Welt auszulegen, und muß die junge Generation diese Kräfte immer wieder neu hervorbringen. Ich ordne meine Gedanken in den folgenden Schritten: Institutionalisierung der Bildung (1), Arbeit (2), Leibhaftigkeit (3) und Irritationen des Ich (4).

1. Wie sich
Bildung
in die schulischen Institutionen einfädelt

[101:4] Was in den Schulen des klassischen Griechenland wirklich geschah, weiß ich nicht. Aus der späteren Geschichte aber, bis in die Gegenwart hinein, weiß ich, daß Schulkritik im Namen der Bildungstheorie ein Dauerthema wurde. So wenig wie ich vermute, daß das hochfahrende Bildungsprojekt des Herodot und anderer – wie uns jene delphische Geschichte erzählt – auch in den Schulen verwirklicht wurde, ebensowenig scheint mir in der neueuropäischen Schulgeschichte verwirklicht, was Bildungstheoretiker vorgeschlagen haben oder was man, aus den je repräsentativen Kulturprodukten unserer Epochen folgernd, für die Wirklichkeit der Schulen sich hätte wünschen können. Das liegt, wie mir scheint, in der Natur der Sache.
[101:5] Wer ernstlich über Bildung nachdenkt – und ich sehe dabei einmal ab von der affirmativen Form dieses Nachdenkens im 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, auch von den neueren lerntheoretischen und curricularen Zurichtungen der Problemstellung, auch von den Reduktionen des Bildungsproblems auf
Qualifikationsbedarf
u. ä. – wer also über derartige Engführungen hinaus über Bildung nachgedacht hat oder nachdenkt, der hat Probleme im Sinn, die sich ungefähr und knapp so formulieren lassen: Wer bin ich, und: Wer möchte ich sein; wer kann ich sein; wie kann ich das, was ich sein möchte, im Verhältnis zu anderen sein; wie kann ich das – und kann ich es überhaupt – im Verhältnis zu den Traditionen sein; in welche Form (Bildung = Formatio) sollte ich mein Handeln und Denken bringen, damit diese Form auch der Bildung der nachwachsenden Generation dienlich sei; wie also muß der Umgang zwischen Menschen, besonders aber jener mit den jungen Menschen beschaffen sein, damit derartige Fragen nicht verstummen, sondern immer wieder artikulierbar werden? Es ist offensichtlich ziemlich viel verlangt, derartige Problemstellungen zum Prinzip einer gesellschaftlichen Einrichtung zu machen. Die Problemverluste sind absehbar.
[101:6] Schulen sind, wie wir alle wissen, gesellschaftliche Einrichtungen, die den Sinn haben, das zukünftige Verhalten der nachwachsenden Generation vorhersehbar zu machen. Wie jede empirische Prognose kann auch diese nur gelingen, wenn die Komplexität möglicher Bildungsfragen reduziert wird auf einen kalkulierbaren Kanon von Wissenswertem, Fähigkeiten und einigen Haltungen, in denen manche Fragestellungen zugelassen, andere ausgeschlossen werden. Für das Letzte sorgen vor allem die Muster der pädagogischen Interaktion. Eine derartige Vorsorge der Gesellschaft für ihren künftigen Bestand ist so lange relativ unproblematisch, wie den Gesellschaftsmitgliedern eine humane Zukunft ihrer sozialen Formation gewiß ist. Sie akzeptieren dann diese Einschränkungen. Anders ist es zu Zeiten, in denen die ursprüngliche Bildungsfrage sich kräftiger meldet, sei es, daß die institutionellen Charakteristika der tradierten Schule als zu einschnürend, sei es, daß sie als ineffektiv für Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben emp|a 40|funden werden. Einige hervorragende Beispiele solcher Kritik sind Augustinus, Erasmus von Rotterdam, Montaigne, Rousseau, Schleiermacher, Nietzsche bis hin zu Ivan Illich oder Hartmut von Hentig.
[101:7] Die Kontinuität der Schulkritik als Kritik einer institutionell reduzierten Form von Bildung hat es also mit einer Eigentümlichkeit dieser gesellschaftlichen Einrichtung zu tun, die sich nach drei Richtungen hin charakterisieren läßt: Aus der Fülle der Erfahrungen, auf die die Bildung des Menschen angewiesen ist, werden alle jene ausgegrenzt, die den immer eingeschränkten Schulzweck gefährden könnten (daraus folgt die curriculare Reduktion); dieser Zweck muß in überschaubarem Zeitraum erreichbar sein (daraus folgt die mehr oder weniger strenge zeitliche Gliederung); schließlich muß, unter derart künstlicher Bedingung, Lern- oder Bildungsmotivation immer neu erzeugt und gesichert werden (daraus folgen die sozialen Settings, in denen Interaktion reguliert wird). Diese drei Einschränkungen des Lebensfeldes von Kindern und Jugendlichen, die nicht nur heute gelten, sondern für alle Gesellschaften, die sich zu derart formellen Prozeduren entschließen, fordern gleichsam systematisch und permanent die Kritik derer heraus, die an der kurz umrissenen Bildungsthematik interessiert sind.
[101:8] Besondere Dramatik gewinnt diese Kritik, wenn die traditionellen Fesseln der schulischen Einrichtungen angesichts einer noch zu gestaltenden Zukunft (die nicht mehr nur als Verlängerung der Vergangenheit interpretiert werden kann) besonders schmerzhaft empfunden werden. Das war beispielsweise der Fall bei den franziskanischen Ordensreformationen des Bonaventura, bei den Humanisten in Renaissance und Reformation, bei den Bildungstheoretikern und Schulreformatoren im Zeitalter der bürgerlichen Revolution. Heute stecken wir mitten drin in einer neuen Phase solcher Bildungs- und Schulkritik. Und wie alle diese Phasen ihr spezielles Problemprofil hatten, das von der Kritik erst herausgearbeitet werden mußte, stehen auch wir vor der Aufgabe, diejenigen Konfliktlinien zu bestimmen, über die die Schule sich hinausbegeben muß, wenn sie die skizzierte Bildungsthematik nicht nur reduzieren (das tut sie notgedrungen), sondern den Kontakt zu ihr nicht gänzlich verlieren will.

2. Bildung und Arbeit

[101:9] Einige der uns heute besonders aktuell scheinenden Themen sind schon ziemlich alt. Das Grundprogramm einer Bildung zur Friedensfähigkeit hat uns Lessing in
Nathan der Weise
vorgezeichnet. Das Projekt der Einheitsschule oder Gesamtschule wurde von den preußischen Schulreformern im Grundriß skizziert. Die Öffnung der Schule auf das Leben hin ist eine Forderung, die uns seit Beginn unseres Jahrhunderts vertraut ist. Wir können uns dabei auf ein respektables Reservoir von Argumenten beziehen. Inzwischen aber ist Neues dazugekommen. Dazu gehört das Verhältnis von Bildung und Arbeit.
[101:10] Die wenigen Andeutungen von Marx in dieser Hinsicht schlugen das Thema nur an, die Konsequenzen in der sozialistischen Pädagogik waren allzusehr auf den Bedarf des Arbeitsmarktes abgestellt (den einzigartigen Makarenko ausgenommen). Kerschensteiner und Gaudig, Proponenten der sogenannten Pädagogik der Arbeitsschule, ging es um die Integration bürgerlicher Arbeitsmoral in den individuellen Charakter. Demgegenüber haben wir es heute, in den westlichen kapitalistischen Ländern, mit einer Verschiebung der Frage nach dem Bildungssinn der Arbeit zu tun. Es fällt uns schwer, die gesellschaftliche Nützlichkeit von Arbeit ohne Umschweife mit einem Bildungssinn für den einzelnen Menschen zu verbinden. Die Welt der Arbeit kann nicht mehr, wie zur Zeit der frühbürgerlichen Stadtkultur oder der Industrialisierungsepoche, eine bessere |a 41|Zukunft versprechen. Das gilt für die Zukunft unserer Gesellschaft wie für die Zukunft des einzelnen Lebenslaufs. Die Spuren der Arbeitswelt, ihrer Technik und Ökonomie und was sie uns an Künftigem versprechen könnte, finden wir heute am zuverlässigsten nicht mehr nur im Wohlstand und Gewerbefleiß, sondern auch in Arbeitslosigkeit und Vergiftung der Umwelt. Die paradiesischen Hoffnungen, die noch bei Jahrhundertbeginn die Phantasie der Futuristen beflügelten, liegen uns heute wesentlich ferner als die Befürchtung, der Globus könne zur Ruine werden.
[101:11] Derartige Eindrücke erzeugen eine Stimmung, die sich vom gesellschaftlich geläufigen Typus von Arbeit zunehmend distanziert. Man könnte verführt sein, dies als pubertären oder adoleszenten Hedonismus zu denken. Ich halte eine solche Deutung für falsch, jedenfalls dort, wo es sich um pädagogisch relevante Entwürfe des Verhältnisses von Leben und Arbeit handelt: in den Freien Schulen, in Landkommunen, in alternativen und kollektiv betriebenen Werkstätten mit
sanfter Technologie
, in der Waldorf-Pädagogik, in Sekundarschulkonzepten, die Kopf- und Handarbeit und damit auch solche Schüler über längere Bildungszeiten hinweg zu integrieren versuchen, die vom herrschenden Typus unseres Bildungssystems immer noch frühzeitig ausgesondert werden. In Bemühungen dieser Art entdecke ich eine neue Suche nach der Antwort auf die Frage, ob das Verhältnis von Arbeit und Lebenssinn, von Kopf- und Handarbeit, von Produktivität und Rezeptivität, von Wissen und Handeln nicht doch eine fundamentale Bildungsbedeutung hat. Vor allem drei Merkmale sind es, die in solchen Versuchen, wie mir scheint, deutlich hervortreten:
  • [101:12] Der Begriff
    Arbeit
    wird vom System industrieller Erwerbsarbeit gleichsam abgekoppelt. Damit verliert das kapitalistisch-protestantische Arbeitsethos und mit ihm die hohe Bewertung lebenslang gleicher Berufstätigkeit, die wohl ohnehin ihrem Ende entgegengehen, an Kraft. Von Bedeutung wird nun vorwiegend, daß es sich um Tätigkeit handelt, die als sinnvoll erfahrbar ist.
  • [101:13] „Sinnvoll ist eine Arbeit oder Tätigkeit dann, wenn sie in einem überschaubaren
    Oikos
    lokalisiert ist.
    Selbstverwirklichung
    – um dieses modisch strapazierte Wort hier einmal zu verwenden – wird nicht von materieller, mühevoller und schweißtreibender Arbeit erwartet, sondern von
    vergesellschaftetem Tätigsein
    (Zimmerli), von
    lebendiger Arbeit
    (Negt), von einer Art der Tätigkeit also, die mit sinnorientierter Kommunikation verbunden ist – sei der Ort solcher Kommunikation nun ein Haushalt, eine Nachbarschaft, eine dem Leben geöffnete Schule, eine
    Alternativ
    - Werkstatt ... Etwas zugespitzt könnte man sagen: Schwarzarbeiter, Hausfrauen, Entwicklungshelfer, auf niedrigem materiellem Niveau tätige Kommunen, Drogen-Therapie-Einrichtungen, Windmühlen-Bauer sind die Vorhut einer neuen Arbeitsmoral, die der menschlichen Tätigkeit jenen Bildungssinn zurückgibt, den sie im Laufe der expandierenden Industriegesellschaft verloren hat.
  • [101:14] Das führt noch einmal auf die fundamentale Frage nach dem Verhältnis von Kopf- und Handarbeit zurück. Daß Kinder und Jugendliche etwas mit ihren Händen tun, daß sie Gelegenheit zu Tätigkeiten haben, durch die sie in die gegenständliche Welt gestaltend eingreifen, ist keine Marotte von Reformpädagogen oder Philanthropen. Es hat einen anthropologischen Sinn. Paläontologen belehren uns darüber, daß es in der Evolution unserer Gattung offenbar ein Wechselspiel gibt zwischen der sensumotorischen Tätigkeit der Hände und der Ausbildung des Zentralnervensystems. Und auch für die Ontogenese wird dem von Gehirn-Physiologen nicht widersprochen. Die Tätigkeit der Hände – über das Drücken von Knöpfen und das Führen von Kugelschreibern hinaus – ist für die Zukunft der Bildung unserer Kinder vielleicht wichtiger als diese oder jene |a 42|Arbeits- und Leistungsmoral. (Etwas Derartiges hatte vielleicht schon Parmigianino im Sinn mit seinem im Kunsthistorischen Museum aufgehängten Bild, als er, um 1523, seine Hand und seinen Kopf mit subtiler Genauigkeit, alles übrige aber in der Verzerrung des Wölbspiegels malte.)

3. Bildung und Leibhaftigkeit

[101:15] Über den Leib gibt es nun freilich mehr zu sagen als nur, daß manuelle Tätigkeit mit Hand und Gehirn verbunden und wegen dieser Verbundenheit ein Bildungsthema ist. Seit mehreren Jahren schon wird, innerhalb und außerhalb der Pädagogik, die sogenannte
Wiederkehr des Körpers
diskutiert. Was ist das? Zunächst könnte man geneigt sein, dieses Thema einer der neo- oder paratherapeutischen Moden, den hedonistischen oder narzißtischen Fluchttendenzen zuzurechnen, einer postmodernen Attitüde im pädagogischen Feld, die sich nun, da die technologisch-rationalistischen Engführungen unserer Kultur zweifelhaft, ungewiß und ungemütlich zu werden scheinen, den Gewißheiten des Leibes und seiner Gemütlichkeit zuwendet. Indessen: So einfach ist das Thema nicht. So suggestiv sich die Apologeten einer
neuen Sinnlichkeit
ins Spiel bringen, das Thema enthält Schwierigkeiten, die dem Thema
Arbeit
entgegengesetzt sind: Droht im Hinblick auf Arbeit eine Zukunftsunfähigkeit eher durch allzu strenge begriffliche Festlegung auf überlieferte Konzepte der bürgerlichen Gesellschaft, so kann man im Falle des Leibes und seiner Sinne eher sagen: Gerade die begriffliche Diffusität, der Mangel an Unterscheidungen, die fehlende oder nur in sentimentalen Rückgriffen bestehende Bezugnahme auf Geschichte erschweren eine Zukunftsperspektive.
[101:16] Dennoch aber dürfen wir aus solcher Herausforderung lernen. Das Thema nämlich – die Wiederentdeckung des Körpers oder der Sinnlichkeit des Menschen – formuliert ein Schuldensaldo der überlieferten Aufklärungskultur. Das allerdings hatte schon Schiller als die Aufgabe
ästhetischer Erziehung
, Karl Philipp Moritz als das psychophysische Leiden des Kindes, der Maler Goya in seinen
Caprichos
als die Sprachlosigkeit der Vernunft in bezug auf ihren Leib angemahnt. Die pädagogische Behandlung des Themas im
Zögling Törleß
Robert Musils blieb für das öffentliche Bildungsdenken ohne Folgen. In diesen Jahrzehnten erst bricht es als Thema wieder auf, nun nicht mehr nur für eine bildungsbürgerliche Elite. Grund genug, das Thema ernstzunehmen, zumal es an die Leibhaftigkeit des delphischen Orakels, an seine vitalen Quellgründe und Irritationen erinnert.
[101:17] Aber ich will nicht, schon gar nicht in Wien, von der Trieb-Natur des Kindes reden. Es ist ein merkwürdiger Sachverhalt, daß, obwohl der allseits und unverdrossen und immer wieder hochgelobte Friedrich Schiller die ästhetische Erziehung zum Kernstück einer an gesellschaftlichem Fortschritt interessierten Bildungsbemühung erklärte und seitdem keiner unserer Kulturminister ihm offen und ausdrücklich widerspricht, seit 200 Jahren die ästhetische Bildung nach wie vor ein Schattendasein führt. Es gibt sicher viele Gründe dafür. Einer liegt darin, daß die klassisch-neuhumanistische Bildungstheorie zwar einen utopischen, in die Zukunft weisenden Begriff einer freien und vernunftgemäßen Gesellschaft hatte, die in der ästhetischen Erfahrung, so Schiller, antizipiert werden könne; aber gerade dies stellte andererseits die Möglichkeit bereit, den schönen Schein als Ornament der nicht so schönen Wirklichkeit zu mißbrauchen. Ästhetische Erziehung ist in unserem Bildungsdenken ein solches Ornament geblieben, das Adolf Loos schon am Jahrhundertbeginn für ein
Verbrechen
hielt.
[101:18] Seit einiger Zeit scheint sich die Lage zu ändern, und zwar von zwei Seiten her: In den |a 43|Diskussionen zur Reform des Curriculums – und das ist ja für den herrschenden Begriff von Bildung immer ein signifikanter Testfall – ist seit mehr als 10 Jahren schon eine Ausweitung und Akzentuierung der ästhetischen Bildungsaufgaben zu beobachten. Dem entspricht auch in der Wissenschaft eine neue, breite, über Fachgrenzen hinausgehende Erörterung von Problemen der ästhetischen Theorie, so als sei die Art der künstlerischen Produktivität der Gegenwart der interessanteste Testfall für die Zukunftsfähigkeit unserer kulturellen Bestände. Dem scheint – auf den ersten Blick und gleichsam am anderen, nicht-theoretischen Ende der Problemskala – die schon erwähnte neue Vorliebe für Körper- und Leiberfahrungen, häufig auch etwas undifferenziert
Sinnlichkeit
genannt, zu entsprechen: eine Konzentration auf das Hier und Jetzt des mir gegebenen Leibes, sein Verhältnis zum Seelischen, das Erfahrung oder Spüren des je eigenen Selbst, die besondere Aufmerksamkeit für die Nahsinne. Das alles wird, bisweilen subtil, inszeniert in Gruppendynamik, Encounter-Übungen, Selbsterfahrungs-Seminaren, Meditation, hinterläßt seine Spuren in den vielen Varianten von ästhetischer Alltagsproduktion bis zur Kunst-Therapie einerseits und zu den bisweilen die Sprachlosigkeit der primären Sinnesempfindungen zum Thema machenden theatralischen Inszenierungen andererseits.
[101:19] So unbezweifelbar sich in derartigen Erscheinungen Neues ankündigt: Warnungen erscheinen mir angebracht – wenn es um Konsequenzen für Erziehung und Bildung gehen soll. Die curriculare Dimension der ästhetischen Bildung wurde ziemlich rasch dem Begriff der Kommunikation zugeschlagen: Sprechen, Hören, Sehen, Sich-Bewegen, Tasten – alles galt als Kommunikation; Kunstunterricht gar sollte fortan
visuelle Kommunikation
heißen. In dieser Umbenennung aber wird das Problem verschenkt, vergeudet, vernichtet. Freilich gibt es auch eine
Ästhetik
des Waren-Marktes, der Werbung, der politischen Inszenierung innerhalb und außerhalb der Staatsgewalt, in öffentlicher und privater Kommunikation. Aber die Eigentümlichkeit ästhetischen Urteilens und ästhetischen Hervorbringens geht in solcher Perspektive verloren. Soll die ästhetische Seite unserer Leib-Existenz für die Bildungsaufgaben wirklich zukunftsfähig sein, dann – so scheint mir – ist es nützlich, sich an Kant und Schiller zu erinnern, oder an die im Hinblick auf die Leibhaftigkeit unserer Existenz exponierten Produkte Goyas, van Goghs, Francis Bacons oder Arnulf Rainers, die beides zugleich herausfordern: Empfindung und Urteil.
[101:20] Die Nivellierung ästhetischer Problemstellungen zur Seite der Kommunikation hin ist die eine, ihre Nivellierung zur bloßen subjektiven Empfindung hin die andere Gefahr. So richtig es ist, den Ausgang jeder Art von Bildung bei der Leibhaftigkeit des Menschen zu suchen, so problematisch scheint mir der Egozentrismus der
neuen Sinnlichkeit
zu sein. Die anthropologisch gegebene Dialektik von Fern- und Nahsinnen (Auge und Ohr versus Getast, Geruch usw.) setzt ja gerade dem Hier und Jetzt der Nahsinne das Dort und Dann der Fernsinne entgegen (durch das in die Ferne blickende Auge und durch das vergangene und erwartete Töne ins Verhältnis bringende Ohr). Das ist der Grund dafür, daß sich aus den Nahsinnen keine großen Künste entwickelt haben. Und eben dies ist unmittelbar bedeutsam für bildungstheoretische Fragen. Bildung ist immer – jedenfalls so lange wir an ihrem Begriff festhalten – ein dynamischer Vorgang in Raum und Zeit. Er nimmt zwar im Hier und Jetzt, bei diesem meinem Leib und seinen unmittelbaren Empfindungen, seinen Anfang, aber er wäre keine Bildung, wenn er diese Leibgrenzen nicht transzendieren würde. Ästhetische Erziehung, wenn sie nicht in Kommunikation verflachen oder in nostalgischer Leibzentriertheit verkümmern will, hätte nur in derartiger kritischer Perspektive eine Zukunft.
|a 44|

4. Die Irritation des Ichs

[101:21] Das nun hat etwas mit dem zu tun, was wir uns als unser
Ich
vorstellen. Die traditionelle Bildungstheorie hatte damit keine besonders großen Schwierigkeiten. Sie konnte sich darauf verlassen, daß die räumliche Umwelt menschenfreundlich bleiben, die geschichtliche Zukunft besser werden würde. Die Autobiographien des 15. bis 19. Jahrhunderts lesen sich zwar nicht wie pure Erfolgsmeldungen; aber sie zeigen doch, daß das frühbürgerliche Ich sich in den Dimensionen Raum und Zeit zuverlässig entwerfen konnte.
[101:22] Seit der Literatur von Baudelaire und Nietzsche, den Bildern van Goghs und Francis Bacons und der Musik Weberns ist das anders. Die Bildungstheorie hat zwar einige Jahrzehnte lang sich mit dem Verlegenheitsbegriff
Identität
aus derartigen Krisen herauszuhalten versucht. Zwar wurden vielerlei Identitäts-Probleme ausgemacht, die wir mit uns und besonders die Jugendlichen mit sich haben; der Taschenbuchmarkt zu dieser Frage ist kaum noch zu überschauen. Aber: Daß der Heranwachsende in irgendeiner Weise mit sich (Was ist das?) und seinen Bezugsgruppen übereinstimmen solle, bleibt die scheinbar zweifelsfreie Unterstellung. Warum eigentlich?
[101:23] Von den noch behutsam vorgetragenen Destruktionsphantasien Rousseaus bis zu den Jugendkrawallen unserer Tage zieht sich die Linie einer Zerstörungsmetapher, die das Ich aus allen relevanten sozialen Bezügen herauslöst und schließlich auch die punktuellen Gewißheiten dieses Ichs selbst ergreift. Sozialgeschichtlich konkret beginnt diese Bewegung im Proletariat des 19. Jahrhunderts: räumlich von den neuen Industriezentren abhängig und zeitlich-zukünftig auf bloße Lohnarbeit angewiesen, schien ein befriedigender Ich-Entwurf nur als revolutionäre Zukunft möglich zu sein. Inzwischen hat sich diese Lage weit über die Ränder der sozialen Bewegungen hinaus verbreitert. Nur daß heute selbst die revolutionäre Utopie uns nicht mehr als bessere Alternative erscheint. Der in der Bundesrepublik Deutschland kürzlich propagierte parteipolitische Slogan
Weiter so, Deutschland!
bringt das Problem auf eine eindrückliche Formel. Allerdings wird damit dem traditionellen Bildungsdenken der Boden entzogen: Bildung nämlich – so glaubten wir, und so haben wir von Fichte, Humboldt und Schleiermacher, auch noch von der Reformbewegung des Jahrhundertbeginns gelernt – ist als dynamisches Geschehen in der Zeit davon abhängig, daß das bildende Ich sich als neue Möglichkeit in die Zukunft hineindenkt – einer der Kerngedanken im Werk Robert Musils übrigens. Die Formel
Weiter so
vernichtet nicht nur substantielle Vorstellungen unserer gesellschaftlichen Zukunft, sondern nimmt, auf der Ebene des einzelnen jungen Menschen, seiner Bildungsbewegung jeden Sinn. Es bleibt dann nur noch: Ich, hier, jetzt.
[101:24] Unter solchen Umständen ist es eigentlich gar nicht besonders erstaunlich, wenn die Ich-Entwürfe sich zunehmend auf die eigenen Leiberfahrungen konzentrieren (sei es in der Selbsterfahrung des bloßen Steinewerfens, der Meditationsübung, des sentimental-ästhetischen Augenblicksgenusses) und sich aus den sozialen Beziehungen, die auch zukünftige Zuverlässigkeit erheischen, eher heraushalten (tauschbare Kontakte, wechselnde Bezugsgruppen, vermiedene Verpflichtungen). Was gilt, ist dann nur noch die Echtheit, die Authentizität der Selbstdarstellung, das augenblickliche Spüren meines Selbst, die Gewißheit, daß ich, trotz allem, wenigstens noch lebendig bin.
[101:25] Aber was heißt
lebendig
? Vielleicht liegt hier die schwierigste Herausforderung unseres Bildungsdenkens.
Lebendig
nennen wir solche Phänomene oder Ereignisse, denen eine Möglichkeit innewohnt; das unterscheidet den Samen vom Stein. Auf die |a 45|menschliche Kultur angewandt hieße das: Nur eine solche Kultur, eine solche Schule können wir lebendig nennen, die über ihren gegenwärtigen Zustand hinaus eine Bewegung in die Zukunft hinein zu entwerfen vermag. Dem entspricht die individuelle Bildungsbewegung des Kindes. Ohne Vorgriffe auf seine lebensgeschichtliche Zukunft würde es zwar auch
Ich
sagen. Aber was für ein Ich wäre das, das nur noch sich selbst empfindet und darüber hinaus vielleicht nur noch seine verschiedenartigen Funktionsweisen in diesen oder jenen gesellschaftlichen Kontexten?
[101:26] Hier liegen die Grenzen meines Vorstellungsvermögens. Zugleich sind es aber auch Grenzen einer noch als lebendig denkbaren gesellschaftlichen Formation. Das Individuum kann, auf Dauer, nicht aus sich heraus erschaffen, wofür es in der Gesellschaft keinen Rückhalt gibt. In einer Gesellschaft, die partout so bleiben will, wie sie ist, und sei es um den Preis der Selbstzerstörung, gibt es für Bildungstheorie keine Chance mehr. Es wäre dann aufrichtiger, sie umzubenennen, beispielsweise in
Adaptations-Strategien
, an was auch immer das Kind dabei angepaßt werden soll. In dieser Frage also bin ich entschieden konservativ. Ich mag nicht die Idee aufgeben, daß, um zu einer befriedigenden lebenslangen Existenz zu gelangen, dreierlei notwendig ist: eine Selbstlokalisierung im sozialen Raum, in verbindlichen Beziehungen also, ein Ich-Projekt im Bezug auf eine bessere Zukunft, und ein wahrhaftiges Selbstverhältnis. In Shakespeares
Hamlet
sagt Polonius, als er seinen Sohn verabschiedet:
Dies über alles: sei dir selber treu. / Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage, / Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.
Ludwig Wittgenstein hat, ohne sich auf Shakespeares hervorragende Formel zu beziehen, den gleichen Gedanken gedacht. Er notierte:
Sich über sich selbst belügen, sich über die eigene Unechtheit belügen, muß einen schlimmen Einfluß auf den Stil haben; denn die Folge wird sein, daß man in ihm nicht Echtes von Falschem unterscheiden kann ... Wer sich selbst nicht kennen will, der schreibt eine Art Betrug.
Inwiefern darin nicht einfach eine ältere Tradition fortgesetzt, sondern dem Bildungsbegriff auch ein anderes Verhältnis zur geschichtlichen Zeit zugemutet wird, deutet sich in einer fast gleichzeitig geschriebenen Passage Walter Benjamins an, der diesen Gedanken gleichsam weiterdenkt in der Vorstellung vom
destruktiven Charakter
:
Weil er (der destruktive Charakter, Anm. d. Hrsg.) überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg. Kein Augenblick kann wissen, was der nächste bringt. Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.