[101:1] Im Jahre 480 vor unserer Zeitrechnung – so jedenfalls erzählt es
Herodot –
erschienen die Kundschafter Athens beim Orakel von Delphi und baten um eine
Weissagung für die bevorstehende kriegerische Auseinandersetzung mit den
Persern. Die Weissagung fällt unerfreulich aus (
„Nicht das Haupt
bleibt ganz, noch der Leib, noch die Füße, / auch nicht die Hände, noch
bleibt ein Stück in der Mitte des Rumpfes / übrig, sondern vernichtet wird
alles“
).
„Als das die Gotteskundschafter hörten, ergriff
sie tiefe Trauer“
; sie kehrten noch einmal zum Orakel zurück und baten
„um einen besseren Spruch“
. Der nun ist zwar nicht mehr so
niederdrückend, dafür aber vieldeutig. Auf einer großen Versammlung in Athen
begann deshalb eine umständliche Diskussion der Frage, wie er auszulegen sei.
Wie man weiß, hatten die Athener Glück mit ihrer Auslegung: Sie vertrauten auf
die Schiffe und gewannen die Schlacht bei Salamis.
1. Wie sich
„Bildung“
in die
schulischen Institutionen einfädelt
[101:4] Was in den Schulen des klassischen Griechenland wirklich geschah,
weiß ich nicht. Aus der späteren Geschichte aber, bis in die Gegenwart
hinein, weiß ich, daß Schulkritik im Namen der Bildungstheorie ein
Dauerthema wurde. So wenig wie ich vermute, daß das hochfahrende
Bildungsprojekt des Herodot
und anderer – wie uns jene delphische Geschichte erzählt – auch in den
Schulen verwirklicht wurde, ebensowenig scheint mir in der neueuropäischen
Schulgeschichte verwirklicht, was Bildungstheoretiker vorgeschlagen haben
oder was man, aus den je repräsentativen Kulturprodukten unserer Epochen
folgernd, für die Wirklichkeit der Schulen sich hätte wünschen können. Das
liegt, wie mir scheint, in der Natur der Sache.
[101:5] Wer ernstlich über Bildung nachdenkt – und ich sehe dabei einmal ab
von der affirmativen Form dieses Nachdenkens im 19. Jahrhundert bis zum
Ersten Weltkrieg, auch von den neueren lerntheoretischen und curricularen
Zurichtungen der Problemstellung, auch von den Reduktionen des
Bildungsproblems auf
„Qualifikationsbedarf“
u. ä. – wer
also über derartige Engführungen hinaus über Bildung nachgedacht hat oder
nachdenkt, der hat Probleme im Sinn, die sich ungefähr und knapp so
formulieren lassen: Wer bin ich, und: Wer möchte ich sein;
wer kann ich sein; wie kann ich das, was ich sein möchte, im
Verhältnis zu anderen sein; wie kann ich das – und kann ich es
überhaupt – im Verhältnis zu den Traditionen sein; in welche
Form (Bildung = Formatio)
sollte ich mein Handeln und Denken bringen, damit diese Form auch der
Bildung der nachwachsenden Generation dienlich sei; wie also muß der
Umgang zwischen Menschen, besonders aber jener mit den jungen
Menschen beschaffen sein, damit derartige Fragen nicht verstummen, sondern
immer wieder artikulierbar werden? Es ist offensichtlich ziemlich viel
verlangt, derartige Problemstellungen zum Prinzip einer gesellschaftlichen
Einrichtung zu machen. Die Problemverluste sind absehbar.
[101:6] Schulen sind, wie wir alle wissen, gesellschaftliche Einrichtungen,
die den Sinn haben, das zukünftige Verhalten der nachwachsenden Generation
vorhersehbar zu machen. Wie jede empirische Prognose kann auch diese nur
gelingen, wenn die Komplexität möglicher Bildungsfragen reduziert
wird auf einen kalkulierbaren Kanon von Wissenswertem, Fähigkeiten und
einigen Haltungen, in denen manche Fragestellungen zugelassen, andere
ausgeschlossen werden. Für das Letzte sorgen vor allem die Muster der
pädagogischen Interaktion. Eine derartige Vorsorge der Gesellschaft für
ihren künftigen Bestand ist so lange relativ unproblematisch, wie den
Gesellschaftsmitgliedern eine humane Zukunft ihrer sozialen Formation gewiß
ist. Sie akzeptieren dann diese Einschränkungen. Anders ist es zu Zeiten, in
denen die ursprüngliche Bildungsfrage sich kräftiger meldet, sei es, daß die
institutionellen Charakteristika der tradierten Schule als zu einschnürend,
sei es, daß sie als ineffektiv für Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben emp|a 40|funden werden. Einige hervorragende Beispiele solcher
Kritik sind Augustinus, Erasmus von Rotterdam, Montaigne, Rousseau, Schleiermacher, Nietzsche bis hin zu
Ivan Illich
oder Hartmut von
Hentig.
[101:7] Die Kontinuität der Schulkritik als Kritik einer institutionell
reduzierten Form von Bildung hat es also mit einer Eigentümlichkeit dieser
gesellschaftlichen Einrichtung zu tun, die sich nach drei Richtungen hin
charakterisieren läßt: Aus der Fülle der Erfahrungen, auf die die Bildung
des Menschen angewiesen ist, werden alle jene ausgegrenzt, die den immer
eingeschränkten Schulzweck gefährden könnten (daraus folgt die curriculare
Reduktion); dieser Zweck muß in überschaubarem Zeitraum erreichbar sein
(daraus folgt die mehr oder weniger strenge zeitliche Gliederung);
schließlich muß, unter derart künstlicher Bedingung, Lern- oder
Bildungsmotivation immer neu erzeugt und gesichert werden (daraus folgen die
sozialen Settings, in denen Interaktion reguliert wird). Diese drei
Einschränkungen des Lebensfeldes von Kindern und Jugendlichen, die nicht nur
heute gelten, sondern für alle Gesellschaften, die sich zu derart formellen
Prozeduren entschließen, fordern gleichsam systematisch und permanent die
Kritik derer heraus, die an der kurz umrissenen Bildungsthematik
interessiert sind.
[101:8] Besondere Dramatik gewinnt diese Kritik, wenn die traditionellen
Fesseln der schulischen Einrichtungen angesichts einer noch zu gestaltenden
Zukunft (die nicht mehr nur als Verlängerung der Vergangenheit interpretiert
werden kann) besonders schmerzhaft empfunden werden. Das war beispielsweise
der Fall bei den franziskanischen Ordensreformationen des Bonaventura, bei den
Humanisten in Renaissance und Reformation, bei den Bildungstheoretikern und
Schulreformatoren im Zeitalter der bürgerlichen Revolution. Heute stecken
wir mitten drin in einer neuen Phase solcher Bildungs- und Schulkritik. Und
wie alle diese Phasen ihr spezielles Problemprofil hatten, das von der
Kritik erst herausgearbeitet werden mußte, stehen auch wir vor der Aufgabe,
diejenigen Konfliktlinien zu bestimmen, über die die Schule sich
hinausbegeben muß, wenn sie die skizzierte Bildungsthematik nicht nur
reduzieren (das tut sie notgedrungen), sondern den Kontakt zu ihr nicht
gänzlich verlieren will.
2. Bildung und Arbeit
[101:9] Einige der uns heute besonders aktuell scheinenden Themen sind
schon ziemlich alt. Das Grundprogramm einer Bildung zur Friedensfähigkeit
hat uns Lessing in
„Nathan der Weise“
vorgezeichnet. Das Projekt der
Einheitsschule oder Gesamtschule wurde von den preußischen Schulreformern im
Grundriß skizziert. Die Öffnung der Schule auf das Leben hin ist eine
Forderung, die uns seit Beginn unseres Jahrhunderts vertraut ist. Wir können
uns dabei auf ein respektables Reservoir von Argumenten beziehen. Inzwischen
aber ist Neues dazugekommen. Dazu gehört das Verhältnis von Bildung und
Arbeit.
[101:10] Die wenigen Andeutungen von Marx in dieser Hinsicht schlugen das Thema
nur an, die Konsequenzen in der sozialistischen Pädagogik waren allzusehr
auf den Bedarf des Arbeitsmarktes abgestellt (den einzigartigen Makarenko
ausgenommen). Kerschensteiner und Gaudig, Proponenten der sogenannten
Pädagogik der Arbeitsschule, ging es um die Integration bürgerlicher
Arbeitsmoral in den individuellen Charakter. Demgegenüber haben wir es
heute, in den westlichen kapitalistischen Ländern, mit einer Verschiebung
der Frage nach dem Bildungssinn der Arbeit zu tun. Es fällt uns schwer, die
gesellschaftliche Nützlichkeit von Arbeit ohne Umschweife mit einem
Bildungssinn für den einzelnen Menschen zu verbinden. Die Welt der Arbeit
kann nicht mehr, wie zur Zeit der frühbürgerlichen Stadtkultur oder der
Industrialisierungsepoche, eine bessere |a 41|Zukunft
versprechen. Das gilt für die Zukunft unserer Gesellschaft wie für die
Zukunft des einzelnen Lebenslaufs. Die Spuren der Arbeitswelt, ihrer Technik
und Ökonomie und was sie uns an Künftigem versprechen könnte, finden wir
heute am zuverlässigsten nicht mehr nur im Wohlstand und Gewerbefleiß,
sondern auch in Arbeitslosigkeit und Vergiftung der Umwelt. Die
paradiesischen Hoffnungen, die noch bei Jahrhundertbeginn die Phantasie der
Futuristen beflügelten, liegen uns heute wesentlich ferner als die
Befürchtung, der Globus könne zur Ruine werden.
[101:11] Derartige Eindrücke erzeugen eine Stimmung, die sich vom
gesellschaftlich geläufigen Typus von Arbeit zunehmend distanziert. Man
könnte verführt sein, dies als pubertären oder adoleszenten Hedonismus zu
denken. Ich halte eine solche Deutung für falsch, jedenfalls dort, wo es
sich um pädagogisch relevante Entwürfe des Verhältnisses von Leben und
Arbeit handelt: in den Freien Schulen, in Landkommunen, in alternativen und
kollektiv betriebenen Werkstätten mit
„sanfter
Technologie“
, in der Waldorf-Pädagogik, in Sekundarschulkonzepten,
die Kopf- und Handarbeit und damit auch solche Schüler über längere
Bildungszeiten hinweg zu integrieren versuchen, die vom herrschenden Typus
unseres Bildungssystems immer noch frühzeitig ausgesondert werden. In
Bemühungen dieser Art entdecke ich eine neue Suche nach der Antwort auf die
Frage, ob das Verhältnis von Arbeit und Lebenssinn, von Kopf- und
Handarbeit, von Produktivität und Rezeptivität, von Wissen und Handeln nicht
doch eine fundamentale Bildungsbedeutung hat. Vor allem drei Merkmale sind
es, die in solchen Versuchen, wie mir scheint, deutlich hervortreten:
-
•
[101:12] Der Begriff
„Arbeit“
wird vom System
industrieller Erwerbsarbeit gleichsam abgekoppelt. Damit verliert das
kapitalistisch-protestantische Arbeitsethos und mit ihm die hohe
Bewertung lebenslang gleicher Berufstätigkeit, die wohl ohnehin ihrem
Ende entgegengehen, an Kraft. Von Bedeutung wird nun vorwiegend, daß es
sich um Tätigkeit handelt, die als sinnvoll erfahrbar ist.
-
•
[101:13] „Sinnvoll ist eine Arbeit oder Tätigkeit dann, wenn sie in einem
überschaubaren
„Oikos“
lokalisiert ist.
„Selbstverwirklichung“
– um dieses modisch
strapazierte Wort hier einmal zu verwenden – wird nicht von materieller,
mühevoller und schweißtreibender Arbeit erwartet, sondern von
„vergesellschaftetem Tätigsein“
(Zimmerli), von
„lebendiger
Arbeit“
(Negt), von einer Art der Tätigkeit also, die mit
sinnorientierter Kommunikation verbunden ist – sei der Ort solcher
Kommunikation nun ein Haushalt, eine Nachbarschaft, eine dem Leben
geöffnete Schule, eine
„Alternativ“
- Werkstatt ...
Etwas zugespitzt könnte man sagen: Schwarzarbeiter, Hausfrauen,
Entwicklungshelfer, auf niedrigem materiellem Niveau tätige Kommunen,
Drogen-Therapie-Einrichtungen, Windmühlen-Bauer sind die Vorhut einer
neuen Arbeitsmoral, die der menschlichen Tätigkeit jenen Bildungssinn
zurückgibt, den sie im Laufe der expandierenden Industriegesellschaft
verloren hat.
-
•
[101:14] Das führt noch einmal auf die fundamentale Frage nach dem
Verhältnis von Kopf- und Handarbeit zurück. Daß Kinder und Jugendliche
etwas mit ihren Händen tun, daß sie Gelegenheit zu Tätigkeiten haben,
durch die sie in die gegenständliche Welt gestaltend eingreifen, ist
keine Marotte von Reformpädagogen oder Philanthropen. Es hat einen
anthropologischen Sinn. Paläontologen belehren uns darüber, daß es in
der Evolution unserer Gattung offenbar ein Wechselspiel gibt zwischen
der sensumotorischen Tätigkeit der Hände und der Ausbildung des
Zentralnervensystems. Und auch für die Ontogenese wird dem von
Gehirn-Physiologen nicht widersprochen. Die Tätigkeit der Hände – über
das Drücken von Knöpfen und das Führen von Kugelschreibern hinaus – ist
für die Zukunft der Bildung unserer Kinder vielleicht wichtiger als
diese oder jene |a 42|Arbeits- und Leistungsmoral.
(Etwas Derartiges hatte vielleicht schon Parmigianino im Sinn mit seinem im
Kunsthistorischen Museum
aufgehängten Bild, als er,
um 1523, seine Hand und seinen Kopf mit subtiler Genauigkeit, alles
übrige aber in der Verzerrung des Wölbspiegels malte.)
4. Die Irritation des Ichs
[101:21] Das nun hat etwas mit dem zu tun, was wir uns als unser
„Ich“
vorstellen. Die traditionelle Bildungstheorie
hatte damit keine besonders großen Schwierigkeiten. Sie konnte sich darauf
verlassen, daß die räumliche Umwelt menschenfreundlich bleiben, die
geschichtliche Zukunft besser werden würde. Die Autobiographien des 15. bis
19. Jahrhunderts lesen sich zwar nicht wie pure Erfolgsmeldungen; aber sie
zeigen doch, daß das frühbürgerliche Ich sich in den Dimensionen Raum und
Zeit zuverlässig entwerfen konnte.
[101:22] Seit der Literatur von Baudelaire und Nietzsche, den Bildern van Goghs und
Francis
Bacons und der Musik Weberns ist das anders. Die
Bildungstheorie hat zwar einige Jahrzehnte lang sich mit dem
Verlegenheitsbegriff
„Identität“
aus derartigen Krisen
herauszuhalten versucht. Zwar wurden vielerlei Identitäts-Probleme
ausgemacht, die wir mit uns und besonders die Jugendlichen mit sich haben;
der Taschenbuchmarkt zu dieser Frage ist kaum noch zu überschauen. Aber: Daß
der Heranwachsende in irgendeiner Weise mit sich (Was ist das?) und seinen
Bezugsgruppen übereinstimmen solle, bleibt die scheinbar zweifelsfreie
Unterstellung. Warum eigentlich?
[101:23] Von den noch behutsam vorgetragenen Destruktionsphantasien
Rousseaus
bis zu den Jugendkrawallen unserer Tage zieht sich die Linie einer
Zerstörungsmetapher, die das Ich aus allen relevanten sozialen Bezügen
herauslöst und schließlich auch die punktuellen Gewißheiten dieses Ichs
selbst ergreift. Sozialgeschichtlich konkret beginnt diese Bewegung im
Proletariat des 19. Jahrhunderts: räumlich von den neuen Industriezentren
abhängig und zeitlich-zukünftig auf bloße Lohnarbeit angewiesen, schien ein
befriedigender Ich-Entwurf nur als revolutionäre Zukunft möglich zu sein.
Inzwischen hat sich diese Lage weit über die Ränder der sozialen Bewegungen
hinaus verbreitert. Nur daß heute selbst die revolutionäre Utopie uns nicht
mehr als bessere Alternative erscheint. Der in der Bundesrepublik
Deutschland kürzlich propagierte parteipolitische Slogan
„Weiter so, Deutschland!“
bringt das Problem auf eine eindrückliche
Formel. Allerdings wird damit dem traditionellen Bildungsdenken der Boden
entzogen: Bildung nämlich – so glaubten wir, und so haben wir von Fichte, Humboldt und Schleiermacher, auch
noch von der Reformbewegung des Jahrhundertbeginns gelernt – ist als
dynamisches Geschehen in der Zeit davon abhängig, daß das bildende Ich sich
als neue Möglichkeit in die Zukunft hineindenkt – einer der Kerngedanken im
Werk Robert Musils
übrigens. Die Formel
„Weiter so“
vernichtet nicht nur
substantielle Vorstellungen unserer gesellschaftlichen Zukunft, sondern
nimmt, auf der Ebene des einzelnen jungen Menschen, seiner Bildungsbewegung
jeden Sinn. Es bleibt dann nur noch: Ich, hier, jetzt.
[101:24] Unter solchen Umständen ist es eigentlich gar nicht besonders
erstaunlich, wenn die Ich-Entwürfe sich zunehmend auf die eigenen
Leiberfahrungen konzentrieren (sei es in der Selbsterfahrung des bloßen
Steinewerfens, der Meditationsübung, des sentimental-ästhetischen
Augenblicksgenusses) und sich aus den sozialen Beziehungen, die auch
zukünftige Zuverlässigkeit erheischen, eher heraushalten (tauschbare
Kontakte, wechselnde Bezugsgruppen, vermiedene Verpflichtungen). Was gilt,
ist dann nur noch die Echtheit, die Authentizität der Selbstdarstellung, das
augenblickliche Spüren meines Selbst, die Gewißheit, daß ich, trotz allem,
wenigstens noch lebendig bin.
[101:25] Aber was heißt
„lebendig“
? Vielleicht liegt
hier die schwierigste Herausforderung unseres Bildungsdenkens.
„Lebendig“
nennen wir solche Phänomene oder Ereignisse,
denen eine Möglichkeit innewohnt; das unterscheidet den Samen vom Stein. Auf
die |a 45|menschliche Kultur angewandt hieße das: Nur eine
solche Kultur, eine solche Schule können wir lebendig nennen, die über ihren
gegenwärtigen Zustand hinaus eine Bewegung in die Zukunft hinein zu
entwerfen vermag. Dem entspricht die individuelle Bildungsbewegung des
Kindes. Ohne Vorgriffe auf seine lebensgeschichtliche Zukunft würde es zwar
auch
„Ich“
sagen. Aber was für ein Ich wäre das, das nur
noch sich selbst empfindet und darüber hinaus vielleicht nur noch seine
verschiedenartigen Funktionsweisen in diesen oder jenen gesellschaftlichen
Kontexten?
[101:26] Hier liegen die Grenzen meines Vorstellungsvermögens. Zugleich
sind es aber auch Grenzen einer noch als lebendig denkbaren
gesellschaftlichen Formation. Das Individuum kann, auf Dauer, nicht aus sich
heraus erschaffen, wofür es in der Gesellschaft keinen Rückhalt gibt. In
einer Gesellschaft, die partout so bleiben will, wie sie ist, und sei es um
den Preis der Selbstzerstörung, gibt es für Bildungstheorie keine Chance
mehr. Es wäre dann aufrichtiger, sie umzubenennen, beispielsweise in
„Adaptations-Strategien“
, an was auch immer das Kind
dabei angepaßt werden soll. In dieser Frage also bin ich entschieden
konservativ. Ich mag nicht die Idee aufgeben, daß, um zu einer
befriedigenden lebenslangen Existenz zu gelangen, dreierlei notwendig ist:
eine Selbstlokalisierung im sozialen Raum, in verbindlichen Beziehungen
also, ein Ich-Projekt im Bezug auf eine bessere Zukunft, und ein
wahrhaftiges Selbstverhältnis. In Shakespeares
sagt Polonius, als er seinen Sohn
verabschiedet:
„Dies über alles: sei dir selber treu. / Und daraus
folgt, so wie die Nacht dem Tage, / Du kannst nicht falsch sein
gegen irgendwen.“
Ludwig Wittgenstein
hat, ohne sich auf Shakespeares hervorragende Formel zu beziehen, den
gleichen Gedanken gedacht. Er notierte:
„Sich über sich selbst belügen, sich über die eigene
Unechtheit belügen, muß einen schlimmen Einfluß auf den Stil haben;
denn die Folge wird sein, daß man in ihm nicht Echtes von Falschem
unterscheiden kann ... Wer sich selbst nicht kennen will, der
schreibt eine Art Betrug.“
Inwiefern darin nicht einfach eine ältere Tradition fortgesetzt,
sondern dem Bildungsbegriff auch ein anderes Verhältnis zur geschichtlichen
Zeit zugemutet wird, deutet sich in einer fast gleichzeitig geschriebenen
Passage Walter
Benjamins an, der diesen Gedanken gleichsam weiterdenkt in
der Vorstellung vom
„destruktiven Charakter“
:
„Weil er (der destruktive
Charakter, Anm. d. Hrsg.) überall Wege sieht, steht er
selber immer am Kreuzweg. Kein Augenblick kann wissen, was der
nächste bringt. Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der
Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie
hindurchzieht.“