Vorwort [zu Langer, Zwischen Biographie und Kultur] [Textfassung a]
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Vorwort

[V70:1] Dem hier vorliegenden Bericht über pädagogische Erfahrung auf der Grenzlinie zwischen Schule und Kunst ein Vorwort voranzustellen, ist eine schwierige Erwartung. Diese Grenzlinie ist – trotz einer schwer übersehbar gewordenen Diskussion über die Theorie der Ästhetik, trotz einer immer dichter gewordenen Erforschung von Problemen des unterrichtlichen Handelns, schließlich auch trotz der breiten Straße kunstdidaktischer Theorien und Modelle – eigentümlich unscharf geblieben. Versuche, die in diesem Bereich sich bewegen, können sich deshalb nicht auf bereits eingespielte und durch konventionalisierte Erfahrung
zuverlässig
gemachte Beurteilungsstandards berufen. Aber eben dies gehört zur Sache, gehört zu dem Problem, von dem in diesem Buch die Rede ist: nimmt man nämlich die schwierige Herausforderung ernst, die ästhetische Erfahrung allemal ist, jedenfalls in der Moderne, dann ist ja gerade die Differenz zwischen dem begrifflich Vermessenen und dem sinnlich Erfahrenen das Thema. Wie könnte man also Erfahrungen in diesem Zwischenfeld einem beurteilenden Vorwort zugänglich machen?
[V70:2] Ich denke, ich kann es (ich sollte es) nur dadurch tun, daß ich die Frage mir und dem Leser vor Augen zu führen versuche, von der die Rede sein wird. Es soll, dem Titel nach, die Rede sein von dem Verhältnis zwischen Biographie und Kultur.
Kultur
aber, das wissen die Autoren ziemlich genau, ist im Falle ästhetischer Objekte anders repräsentiert, als beispielsweise in Zangen, Hebebühnen, Waschmaschinen, Sitzmöbeln, Computerspielen, Gesetzestexten. Ob es sich bei Objekten der sogenannten
Kunst
wirklich um die
dichtesten
Manifestationen der Kultur handelt, wie Wolfgang Langer schon zu Beginn dieses Buches meint, möchte ich nicht entscheiden. Auch die immer noch funktionierende Zange eines Nürnberger Silberschmieds aus dem 16. Jahrhundert, auch das mit einer umweltschonenden Fäkalienumwandlung ausgestattete
Plumpsklo
, auch die Spielhalle in irgendeiner unserer Fußgängerzonen, der Werbespot manifestieren das, was jeweils Kultur genannt werden kann, ziemlich
dicht
. In dieser Hinsicht, so scheint mir, ist das, was wir Kunst nennen, von anderen Kulturobjekten nicht gar so verschieden: man sollte sie
lesen
, ihre Zeichen syntaktisch und semantisch decodieren, ihre Bedeutung in den sozialen Kontexten verstehen können.
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[V70:3] In anderer Hinsicht aber – und davon handelt dieses Buch vor allem – zeichnen sich ästhetische Objekte durch eine Eigentümlichkeit aus, die sie, über ihre kulturelle Lesbarkeit hinaus, für Erziehung und Bildung wichtig machen: sie können einen besonderen Bezug zu dem stiften, was wir
Subjektivität
nennen. Das ist von Kant ziemlich eindringlich beschrieben worden: Durch ästhetische Gegenstände, wenn sie gelungen seien, würden
die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung gesetzt
, und zwar dadurch, daß in derartigen Gegenständen
ästhetische Ideen
zur Darstellung kommen;
unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann
(Kritik der ästhetischen Urteilskraft, § 49)
. Genau dies ist das Thema der folgenden vier Beiträge. Sie alle gehen, unausgesprochen, von dieser Bestimmung Kants aus, gewinnen aus ihr ihre didaktischen Hypothesen und dokumentieren den dadurch angeregten Bildungsvorgang. Die Bildungsbewegung wird genau an dem Punkt, an der Bruchstelle ins Auge gefaßt, wo das begrifflich Vermessene, die schon
bestimmten Gedanken
, der Einbildungskraft konfrontiert werden, ihr
viel zu denken
geben. Dieses
Viel
, das über die eingespielten kulturellen Codes doch offenbar hinausgeht, sich
niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt
, das mehr denken läßt,
als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann
, das also an die Grenze des Sagbaren heranführt, gibt, wie Kant sagt, gerade deshalb dem Gemüt und der Einbildungskraft einen
Schwung
.
[V70:4] Dieser
Schwung
wird im folgenden das Thema sein. Hinter den Stichworten
Biographie
und
Kultur
steht die Frage, auf welche Weise und ob überhaupt das prekäre Verhältnis zwischen Begriff und Empfindung, Verstand und Sinnlichkeit, Logik und Einbildungskraft pädagogisch-didaktisch zugänglich ist und welche unterrichtspraktischen Wege eingeschlagen werden könnten, um diese Frage diskutabel zu machen. Sie ist, denke ich, in hervorragender Weise diskutabel geworden; es wurde nämlich in allen hier dargestellten Beispielen diejenige Problemstellung erreicht, in der sich ästhetische Theorie und Bildungstheorie allenfalls verknüpfen ließe: ich meine die Bildungsbedeutung von Metaphern und/oder Symbolen, in denen allemal jene Bruchlinie zwischen Verstand und Empfindung, kulturellen Mustern und leibhafter Erfahrung repräsentiert ist. Winnicott nannte, wenngleich nur auf die frühe Kindheit bezogen, Derartiges
Übergangsobjekte
, das heißt solche Objekte, die den Übergang des Kindes von primär-symbiotischer Leiberfahrung zu distanzierterem Umgang mit der personalen und dinglichen Welt ermöglichen. Ebendies aber, so lerne ich aus die|a 8|sem Buch, könnte die Bildungsbedeutung ästhetischer Ereignisse sein, weit über die frühe Kindheit hinaus: ein Diskurs in Metaphern, der einerseits die
Subjektivität
des Kindes erreicht, der aber andererseits – davon zeugen die gründlichen Objektanalysen – die begrifflich vermessene Welt, die kulturell eingespielten Muster von Deutung und Lebensführung nicht zu verleugnen sucht. Ästhetische Bildung, so scheint mir, hat doch noch eine Chance über die Grenzen der etablierten Fachdidaktiken hinaus.
[V70:5] Es gehört hier durchaus zur Sache, daß die dargestellten Beispiele vornehmlich auf solche Kinder sich beziehen, die innerhalb unseres Schulsystems weniger erfolgreich sind. Jenseits unserer
diagnostischen
Zuschreibungen sollte unstrittig sein, daß gerade sie sich schwer darin tun, ihre primären leibgebundenen Erfahrungen in ein balanciertes Verhältnis zur begrifflich bestimmten
Sagbarkeit
der Kultur zu setzen. Der ästhetische Gegenstand beseitigt freilich dieses Dilemma nicht. Eher treibt er es auf die Spitze. Diese Spitze aber – zum Beispiel wenn eine gemalte Metapher für
Hirbel
, eine Variation auf das Bild
Anna
, eine persönliche Konnotation zur Fabel von Frischs
Andorra
möglich wird – setzt, wie Kant sagte,
die Gemütskräfte in Schwung
, allerdings ohne daß wir prognostizieren könnten, wohin dieser Schwung führt. Aber: müssen eigentlich Pädagogen das immer und in jeder Hinsicht ihrer Tätigkeit wissen wollen?