[105:1] Begriff und Problemstellung. Die aus dem
Griechischen stammende Vokabel Ästhetik (von aisthesis respektive aisthanomai) bedeutete dort die sinnliche Wahrnehmung
überhaupt beziehungsweise empfinden, bemerken, aber auch innewerden,
urteilsfähig werden. An diese semantischen Anfänge schloß noch Kant bei der
Erörterung des ästhetischen Urteils nach
«objektiver»
und
«subjektiver Empfindung»
hin an
(Kant 1974,
S.
119)
, auch Plessner mit dem Projekt einer
«Ästhesiologie
des Geistes»
(Plessner
1980) und Zur Lippe (vgl. 1987) in dem Bemühen, ästhetische
Theorie an das ⟶ Bewußtsein des Menschen von seiner Sinnestätigkeit
überhaupt zu binden. Daneben gibt es, seit Baumgarten, einen eingeschränkten Sprachgebrauch,
nach dem als
«ästhetisch»
nur sogenannte Kunstprodukte
bezeichnet werden, zudem häufig eingeschränkt nach Maßgabe der semantischen
Konnotationen des Adjektivs
«schön»
. Die Bedeutung des
Ausdrucks
«ästhetische Bildung»
oder
«ästhetische Erziehung»
schwankt also zwischen einem weitesten
Verwendungssinn als Bildung der Sinnestätigkeit überhaupt samt deren
Bewußtsein auf der einen und einem engsten als didaktische Veranstaltung in
bezug auf die Medien der visuellen Künste auf der anderen Seite.
[105:2] Würde sich der erziehungswissenschaftliche Sprachgebrauch auf die
erste, weiteste Wortbedeutung festlegen, wäre das Adjektiv
«ästhetisch»
entbehrlich; die Terminologie der Wahrnehmungstheorien
wäre hinreichend. Würde andererseits ästhetische Bildung/Erziehung nichts
anderes bedeuten als Theorie und Praxis des Unterrichtsfaches
«Kunsterziehung»
, gingen Problemstellungen verloren, die
der antiken Paideia-Lehre (vgl. Jaeger 1959) trotz der Einwände des
späten Platon gegen alles
Mimetische – noch selbstverständlich waren, im
«Habitus»
-
und
«Forma»
-Begriff Thomas von Aquins eine wesentliche Rolle spielten
(vgl. Klünker
1987), in der italienischen Frührenaissance (vgl. Baxandall
1977), aber auch von Diderot (vgl. 1984), Lessing (vgl. 1974), Kant (vgl.
1974), Herbart (vgl. 1964), Schopenhauer (vgl. 1938) und
anderen aufrechterhalten wurden; die Hypothese, daß es eine ästhetische
Weise der Weltauffassung gebe, die nicht einfach nur durch äußere
Wahrnehmungsakte bestimmt sei, sondern durch die Form der wahrgenommenen
Objekte und die Form der damit nahegelegten Weise der Apperzeption. Diese
Problemstellung, wie immer sie beantwortet werden mag, betrifft die Theorie
der ⟶ Bildung des Menschen überhaupt; sie hat in einer ⟶Fachdidaktik
höchstens eine ihrer Konkretisierungen; sie ist eine Frage nach der
ästhetischen Dimension von Lebensformen, mithin eine Frage nach den
ästhetischen Komponenten von Bildungsprozessen.
|a 223|
[105:3] Die Aktualität und Vertretbarkeit einer derart verallgemeinerten
Bedeutung des Ausdrucks
«ästhetische Bildung/Erziehung»
wird dadurch bekräftigt, daß seine Anwendung auf Felder wie die der
Wohnumwelt Jugendlicher, der Jugendkultur, der Jugendmusik, der
Kunstpsychiatrie bis hin zu den Überformungen alltäglicher Lebenswelten
durch großräumige
«Ästhetisierung der Politik»
(Benjamin
1980) oder quasi-alltägliche
«Waren-Ästhetik»
(Haug
1971) kaum noch bestritten wird.
[105:4] Unter derartigen Bedingungen sollte der Begriff
«ästhetische Bildung»
zwischen subjektiv bestimmter Leiberfahrung und den
im engeren Sinne ästhetischen (künstlerischen) Kulturprodukten lokalisiert
werden, zwischen den alltäglichen Inszenierungen der
Sinnenwelt und den politisch-öffentlichen Repräsentationen, zwischen den quasi-spontanen Symbolisierungen in
sinnlichen Medien und den Formen organisierter Instruktion der Fachdidaktik.
Die Bildungsbedeutung ästhetischer Ereignisse wäre demnach, neben der
theoretischen und der praktischen, eine Dimension des
Bildungsvorgangs überhaupt (vgl.
Schiller 1895). Wird in der
theoretischen Dimension die Erkenntnisfähigkeit, in der praktischen die
Handlungsfähigkeit des in Bildung begriffenen Individuums zum Thema, so in
der ästhetischen Dimension die Reflexion des Verhältnisses seiner
subjektiven Befindlichkeit als Leib-Seele-Wesen zum kulturell oder
gesellschaftlich Allgemeinen (vgl. Boehm 1978, Kant 1974,
Schopenhauer
1938).
[105:5] Zur Geschichte ästhetischer Bildung/Erziehung.
Dieses Reflexionsverhältnis hat sich seit der Renaissance vor allem an den
sogenannten Kunst-Produkten artikuliert (vgl. zum Beispiel Baxandall
1977, Burke 1984, Panofsky 1978) und wurde dann im 18.
und beginnenden 19. Jahrhundert ausdrücklich in den Kanon derjenigen
Orientierungen aufgenommen, die für die kulturelle Bildung des Menschen
geltend gemacht wurden. Philosophische Begründung in einer Theorie des
ästhetischen Urteils (Baumgarten, Moritz, Kant,
Schopenhauer),
kulturtheoretische Lokalisierung im Rahmen der Volksaufklärungsbemühungen
der bürgerlichen Gesellschaft (Diderot, Lessing, Herder) und speziell bildungstheoretische
Argumentationen (Schiller, Goethe, Schleiermacher) gingen dabei derart ineinander über, daß
zusammenfassend von einer für die bürgerliche Kultur typischen
bildungstheoretischen Argumentationsfigur gesprochen werden kann, die die
folgenden Annahmen enthielt: die Bildung des Menschen, als äußere Gestalt,
könne den Hervorbringungen der
«bildenden Künste»
analog
gedacht werden (Moritz); die
ästhetische Charakteristik derartiger Vorgänge bestehe darin, daß, von
«bestimmenden Verstandesurteilen»
relativ unabhängig
(Kant), das
reflektierende Subjekt seiner Freiheit innewerde und es sich so in kritische
Distanz zur gesellschaftlichen Praxis, zu allem
«Nütz|a 224|lichen»
setzen könne (Schiller); dieser Differenz zwischen dem
«Schönen»
und dem
«Nützlichen»
wegen
dürfe der Auseinandersetzung mit Kunstwerken eine besondere bildende Wirkung
zugeschrieben werden (Moritz), weil sie im Medium der Sinnlichkeit einen
«dritten Charakter»
zu erzeugen vermögen, der
«von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft
der Gesetze einen Übergang bahnte und, ohne den moralischen
Charakter an seiner Entwicklung zu verhindern, vielmehr zu einem
sinnlichen Pfand der unsichtbaren Sittlichkeit diente»
(Schiller
1895, S.
177)
.
[105:6] Diese Komponenten der Argumentationsfigur ästhetischer
Bildung/Erziehung – in den
«Salons»
Diderots (1984) und im
«Laokoon»
Lessings
(1974) war ihnen schon vorgearbeitet – zielten auf
Subjektivitätserfahrungen im Zusammenhang von Lebensweisen und deren
ästhetischer Objektivationen. Es handelte sich um eine, von Schiller ausdrücklich
hervorgehoben, utopische Diskursfigur, die in der Folge in mehreren
Varianten in die Kultur- und Bildungs-Problematik eingefädelt und verändert
wurde: Einerseits wurde der utopisch-kritische Gehalt aufgegeben in der
didaktischen Schrumpfung auf Zeichen- und Kunstunterricht (vgl. Kerbs
1976); andererseits wurde die ganze Figur dem Ideologieverdacht
preisgegeben, beispielsweise in klassentheoretischen
«Basis-Überbau»
- oder
«Widerspiegelungs»
-Annahmen
oder in der Argumentationsfigur der
«Affirmation»
(Marcuse
1965). Eine weitere historische Variation bezog sich auf die
«Genie»
-Annahmen: In der klassischen Periode wurde das
«Genie»
noch vorzugsweise als eine existentiell
höchst riskante Form eines (erwachsenen!) Individuums begriffen (vgl. zum Beispiel Diderot 1984, b, S. 538), in seiner Nähe zum Wahnsinn der
Möglichkeit nach ununterscheidbar zwischen Devianz und produktiv-kritischer
Potenz lokalisiert; der
«Genius im Kinde»
(Hartlaub
1922), als Teilsumme aus der Kunsterziehungsbewegung zu Beginn
des 20. Jahrhunderts, ist demgegenüber nicht nur eine Didaktisierung,
sondern auch eine Verkindlichung der Problemstellungen ästhetischer Bildung.
Schließlich hat die klassizistische Version der Kunst- und Kulturtheorie
(vgl. Goethe
1954, v. Humboldt 1961) eine Stilisierung ästhetischer Objekte
zu Kulturgütern dergestalt zur Folge gehabt, daß ästhetische Bildung mit
kunsthistorischer Kenntnis beziehungsweise feinem Geschmack häufig
gleichbedeutend war.
[105:7] Aus derartigen Verengungen von Problemstellungen ästhetischer
Bildung führten neue Impulse seit dem Ende des 19. Jahrhunderts heraus. Nach
der von W. Morris (1834–1896)
propagierten Annäherung von Kunst und Handwerk, der neuen Thematisierung von
Körperlichkeit vor allem im Wiener Jugendstil, der gleichzeitigen
Versachlichung des Designs von Gebrauchsgütern – von der Architektur bis zum
Löffel – an |a 225|den
«Wiener Werkstätten»
(A. Loos, J. Hoffmann), der Gründung des
«Deutschen
Werkbundes»
1907 (vgl. Kölnischer Kunstverein 1984), der niederländischen Kunst- und
Architekturgruppe
«De
Stijl»
(seit 1917), stellt die Gründung der gewerblichen
Hochschule / Kunstakademie
«Das Bauhaus»
(1919–1933, Weimar, Dessau,
Berlin) durch W. Gropius
einen Höhepunkt und zugleich eine Bündelung jener neuen Tendenzen dar (vgl.
Wick
1982, Wingler 1975): Ästhetische Produkte und ihre
Hervorbringung wurden als eine alltägliche Dimension modernen Lebens
verstanden; sie wurden zudem auf die zeitgenössische industrielle
Waren-Produktion bezogen und sollten damit zugleich ästhetische
Gütekriterien für alle Bevölkerungsschichten
(demokratisch) geltend machen (Breuer, Gropius,
Meyer); solche Kriterien
sollten das soziale Leben derart durchdringen, daß der funktionale und der
symbolische Charakter kultureller Objekte im Gleichgewicht bleibt; dies
sollte durch eine Industrieform realisiert werden, die einerseits den
Gebrauchscharakter, andererseits die verschiedenen Sinne des Menschen
respektiert (Moholy-Nagy);
dem korrespondierte (im Ausbildungsgang), daß der Vorgang der Objektivierung
subjektiv bestimmter Leiberfahrungen, also die Bildung von kommunizierbaren
Ausdrucksgesten, als ein Fundamentalproblem ästhetischer Bildung betrachtet
wurde (Itten, Kandinsky, Klee). In der
schwierigen Verbindung dieser Komponenten gelang, zum ersten Mal in der
europäischen Geschichte, wenigstens eine Annäherung an oder Kontinuität mit
Schillers Idee von
«Ästhetischer Erziehung»
auf dem Niveau demokratischer
Industriegesellschaft und im Hinblick auf die Verschiedenheit der Sinne,
denkt man beispielsweise auch an die gleichzeitige
musikalisch-kompositorische Zwölfton-Lehre (Schönberg, Berg, Webern)
oder an die neuen Entwicklungen in Tanz und Choreographie.
[105:8] Die weitere Entwicklung brachte Gegenbilder und
Ausdifferenzierungen hervor. Mit der Schließung des
«Bauhauses»
1933 begann zugleich in Deutschland eine Ära
der Instrumentalisierung ästhetischer Ereignisse für politische Strategien.
Einige Jahre früher wurde das revolutionsästhetische
Volksbildungs-Experiment der neuen Sowjetunion (Höhere künstlerisch-technische Werkstätten,
Wchutemas), das Kontakte zum Bauhaus unterhalten hatte (El Lissitzky), beendet und wurden auch dort
ästhetische Vorgänge in den Dienst staatlicher Propaganda genommen.
Demgegenüber sind, seit Ende des Zweiten Weltkrieges, zwei
Ausdifferenzierungen des dem
«Bauhaus»
inhärent gewesenen Konzeptes zu beobachten, die
bildungstheoretisch bedeutsam sind:
[105:9] Zum einen: Die Aufgabe der
«Lesbarkeit»
ästhetischer Produkte einer Kultur ist, nachdem die
Elemente einer möglichen Semantik ästhetischer Zeichen, wenigstens in bezug
auf die visuellen Medien, erarbeitet wurden (vgl. Kandinsky
1959, Klee o. J., Panofsky 1978), in |a 226|mehreren Hinsichten plausibel: die ästhetischen Komponenten der
Zeichenwelt der Geschichte müssen als symbolische Repräsentanten von
Lebenswelten lesbar gemacht werden; der darin möglicherweise enthaltene
anthropologische Sinn von leibhaften Äußerungen des Menschen muß
diskutierbar bleiben; die sinnlichen Repräsentanzen einer warentauschenden
Gesellschaft, die damit gegebenen Wahrscheinlichkeiten der Überwältigung von
kritischem Selbstbewußtsein durch die ästhetische Suggestion der
verschiedenen sinnlichen Medien müssen für Analyse zugänglich sein (vgl.
Haug
1971, Otto/Otto 1987).
[105:10] Zum anderen: Ebenso plausibel ist die dazu
komplementäre Seite, die Bearbeitung der
«ästhesiologischen»
Leib-Seele-Erfahrungen und ihrer Funktionen im
Bildungsprozeß (vgl. Kamper/Wulf 1982, Pothast 1987, Rumpf 1981,
ZurLippe 1987), besonders akzentuiert in der
kunsttherapeutischen Diskussion vorgetragen (vgl. Prinzhorn
1922, Kramer 1978, Hartwig/Menzen 1984).
[105:11] Bildungstheoretische Problemstellungen.
Probleme ästhetischer Bildung/Erziehung/Therapie sind zunächst solche der
Praxis. Die ästhetische Bildung des Menschen ist von seiner Geburt an
einfach der Fall. Sie findet statt als Grundsachverhalt gesellschaftlicher
Praxis, deren Komponenten, vor jeder Form von
Erkenntnis oder der ausdrücklichen Setzung von Handlungszwecken, einen
Habitus (vgl. Bourdieu 1974) erzeugen, der den Umgang des Menschen
mit seiner sinnlichen Ausstattung bedingt. Auf diese Einbettung ästhetischer
Ereignisse in praktische Lebensformen richtet sich der größte Teil der
Bemühungen zur ästhetischen Bildung/Erziehung von der Museums- und
Kunstdidaktik bis zur sogenannten ⟶ Freizeitpädagogik (vgl. Daucher/Sprinkart
1979, Liebich/Zacharias 1987, Matthies u. a. 1978) oder zur
Musik-, Bewegungs- und Poesie-Therapie (vgl. zum Beispiel Feldenkrais
1982, Priestley 1983, v. Werder 1986). Schließlich scheint
auch die Sensibilität von Eltern für die ästhetische Dimension ihrer
pädagogischen Aufgabe zu wachsen. Die theoretisch zuverlässige Beurteilung
derartiger Erscheinungen der Praxis fällt noch schwer. Im Anschluß an die
Theorie-Diskussion der letzten Jahrzehnte lassen sich immerhin folgende
Probleme ausmachen: Erstens: Die allgemeine Rede von
«Ästhetischem»
vernachlässigt die je besondere
Bildungsbedeutung der verschiedenen Sinne (vgl. Plessner 1980). Dem auditiven
und dem visuellen Organ beispielsweise ist eine spezifische Spürensweise
eigen, die es, im Hinblick auf ästhetische Bildung, nahelegt, nicht nur von
«subjektiven Empfindungen»
,
«Gefühlen»
(Kant
1974) überhaupt zu reden, sondern ihre differentielle
Charakteristik herauszuarbeiten (vgl. Mollenhauer
1988). Erst in der Kontinuität neurophysiologischer,
phänomenologischer und kulturtheoretischer Kenntnisse ist dann auch eine |a 227|zuverlässige Bestimmung der Bildungsbedeutung jedes
einzelnen Sinnes möglich.
[105:12] Zweitens: Was so im Hinblick auf die
Bildungsbedeutung der verschiedenen Sinne als Problem erscheint, zeigt sich
in den ästhetischen Medien noch deutlicher. Die
«Sprachen
der Kunst»
(Goodman
1973) sind einerseits an die Vielheit der Sinne, andererseits an
deren unterschiedliche Symbolfähigkeit gebunden. Sinn, Medium und
Symbolisierungsmöglichkeit stehen also vermutlich in einem prekären
Verhältnis zueinander (vgl. Mollenhauer
1988), wie beispielsweise Hören, Ton-Folgen bei einer
«Aufführung»
, Notation. Ob überhaupt und wie
vielleicht ästhetische Figurationen ästhetisches Empfinden, den
«Innengrund»
(Pothast
1987) und damit die reflexiven Motive des
«Selbst»
erreichen, ist ungewiß.
[105:13] Drittens: Davon unberührt bleiben die
Aufgaben einer ästhetischen
«Alphabetisierung»
und die
Klärung ihrer Probleme. Für eine in quasiautonome Segmente differenzierte ⟶
Kultur, mit Symbolsystemen, die der Möglichkeit nach nicht den gleichen
gemeinsam geteilten Mythos, sondern je besondere Sinnrichtungen
repräsentieren, liegt es, bei moderner Mündigkeits-Erwartung, nahe, auch die
ästhetischen
«Sprachen»
lesen zu lernen (vgl. Eco 1972;
vgl. Goodman
1973, 1984). Auslegen von
visuellem Material als pädagogische Aufgabe (vgl. Otto/Otto 1987), von Tonfolgen
(vgl. Schmidt
1986), von Bewegungs-Figuren und anderen kulturellen
Objektivationen von Sinnestätigkeit (historisch: vgl. Corbin 1984) sind,
wenn die Moderne denn fortsetzungsfähig sein sollte, plausible Aufgaben für
die erziehungswissenschaftliche Theorie in praktischer Absicht und im Sinne
einer Decodierung von Umwelten des Heranwachsens.
[105:14] Viertens: Da andererseits Decodieren,
semiologisches Lesenkönnen allein zur Selbstbezüglichkeit der ästhetischen Empfindung nicht notwendig
und also auch zum ästhetisch-reflexiven Urteilen schwerlich gelangt, wären
komplementär dazu Bedingungen der Verstehenschancen in der Leiberfahrung des
sich bildenden Subjektes aufzuklären: Wie ist das Verhältnis der
verschiedenartigen ästhetischen Zeichen/Symbole und der Vorgang ihres
Hervorbringens zum Individuum einerseits, zum repräsentierten Allgemeinen,
zur sinnlichen Figuration andererseits beschaffen? Wie ist es eingebettet in
historische und soziale Kontexte? Wie ist die Funktion ästhetischer Symbole
im Hinblick auf selbstreflexive Bildungsvorgänge zu denken? Das sind Fragen
einer ästhetischen Hermeneutik (vgl. Boehm 1978, Jauss 1977, Langer 1979, Plessner
1982, Ricœur 1974, ZurLippe 1987), in deren Umkreis man am ehesten
Antworten erwarten darf und die sich nicht nur mit der Auslegung von
Kunst-Produkten befassen, sondern ebenso die ästhetische Dimension des
alltäglichen menschlichen Weltverhältnisses betreffen (vgl. als erste |a 228|Beispiele Feldenkrais 1982, Flitner
1987, Hörmann 1986, Priestley 1983, Richter
1984, Schmidt 1986, v. Werder 1986) und die in der von
Adorno
vorgezeichneten schwierigen Beziehung zwischen falscher Bekräftigung,
authentischer ästhesiologischer Alltagserfahrung und kritischer
Herausforderung durch das gelungene ästhetische Produkt, durch das
Verhältnisspiel zwischen ⟶ Anthropologie, Bildungslehre und differentieller
ästhetischer Theorie zu differenzieren wären (vgl. Adorno 1973).
[105:15] Adorno, Th.
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