[104:1] Das pädagogische Handeln und Denken hat es mit einer merkwürdigen
Paradoxie zu tun: einerseits ist es ganz elementar
auf Zukunft bezogen; jeder Bildungsschritt des Kindes ist, innerhalb unserer
Kultur, überhaupt nicht anders verstehbar als ein Schritt auf das Morgen zu.
Andererseits aber verlaufen diese Schritte im
Rahmen von Gesellschaftsformationen und kulturellen Beständen, die
vorgegeben sind, also nur wiederholen, was bereits der Fall ist; und
ebendies, was bereits der Fall ist oder der Fall sein kann, wird, auch
soweit es die geschichtliche Bewegung der Gesellschaft betrifft, nicht in
der Pädagogik oder in den Schulen entschieden, sondern andernorts.
[104:2] Die Formel, die vor gut 160 Jahren Friedrich Schleiermacher für dieses
Dilemma erfand, klingt immer noch einleuchtend, wenngleich sie die
Schwierigkeiten auch verdeckt, die sich bei dem Versuch ergeben, ihr zu
folgen: Es sei die Aufgabe der Pädagogik, die junge Generation in das
„bestehende Gute“
einzuführen und sie zugleich zu
befähigen, sich an der Verbesserung von Gesellschaft und Kultur
„mit Kraft“
zu beteiligen. Wie macht man das? Wie macht man das
zumal dann, wenn man bereit ist zuzugestehen, daß auch wir, die erwachsene,
erziehende Generation, im Gehäuse überlieferter Lebensformen und Urteile
sitzen, die nicht schon deshalb das
„bewahrenswerte Gute“
repräsentieren, weil wir uns darin eingerichtet haben – oder daß nicht schon
jeder neue Gedanke, der eine bessere Zukunft verspricht, auch einer
sorgfältigen Prüfung seines Versprechens standhalten könnte. Auf die Frage,
was der Beitrag der Pädagogik zu seiner verantwortbaren Zukunft sein könnte,
gab und gibt es deshalb auch zwei extreme und für unser Problem typische
Antworten:
[104:3] Alles, was in einer Gesellschaftsformation unbefriedigend,
ungerecht, lebensschädlich, be- oder unterdrückend sei, müsse in der
Gestaltung pädagogischer Verhältnisse eliminiert werden; der pädagogische
Raum, die pädagogische Provinz müsse die bessere Zukunft vorwegnehmen. Das
waren die Antworten Rousseaus und Fichtes, die der Erziehungsreformer der zwanziger Jahre in
Schul- und Heimerziehung, das sind heute die Antworten der
„antiautoritären“
Bewegung, der
„Antipäd|a 126|agogik“
, der Alternativschulen. – Auf der
anderen Seite der Skala liegen die Antworten derer, denen solche Sprünge
nach vorn Mißbehagen bereiten, und die, mit Schleiermacher zu sprechen, lieber am
bewährten
„Guten“
festhalten, darauf vertrauen, daß auch
die Gestaltung der Zukunft mit den überlieferten Mitteln und
Erziehungsformen gelingt. Dieser Meinung waren die frühneuzeitlichen
Humanisten, als sie auf die Zukunftsfähigkeit der antiken Schriftsteller
vertrauten, war die preußische Unterrichtsverwaltung, als sie die
Humboldtschen Reformen stoppte, waren Wiechern und Bischof Kettler, als sie die christlich
überlieferten Morallehren für zukunftsfähig hielten, dieser Meinung sind
wohl auch jene, die noch an den Sinn unseres dreigliedrigen Schulsystems
glauben, an den
„guten“
alten Curricula festhalten, die
Form der bürgerlichen Familie bewahren wollen, dem humanen Gehalt des
technischen Fortschritts vertrauen.
[104:4] Auf der einen Seite also spekulative Utopien, auf der anderen nicht
minder spekulatives Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des angeblich
Bewährten. Wenn nun aber ohnehin das, was die Pädagogik zur Zukunft
beizusteuern hätte, und wenn es mehr sein sollte als das pure subjektive
Wollen oder Wünschen, dem gesellschaftlichen Geschehen immer hinterherhinkt,
wenn sie also immer nur beisteuert, was bereits andernorts entschieden ist –
was bleibt dann in der hier interessierenden Frage zu tun? Ich sehe zwei
Wege: Den gegenwärtig zumeist beschrittenen will ich abkürzen und pointiert
„Modernitäts-Anpassung“
nennen, dabei handelt es sich
um Versuche, dem öffentlich erreichten Problembewußtsein nach und nach auch
im Erziehungs- und Bildungssystem Geltung zu verschaffen. Diese
Systemanpassung betrifft beispielsweise die Organisationsstrukturen, die
allmähliche Transformation des traditionellen Schulwesens zu gerechteren
Formen; sie betrifft curriculare Problemstellungen, wie beispielsweise die
Bildung zur Friedensfähigkeit und ökologische Bildung; sie betrifft
schließlich auch den gerechteren Umgang mit den, bzw. die echte Integration
der sogenannten Randgruppen, etwa in der
„Ausländerpädagogik“
, in der Jugendhilfe, in der Psychiatrie.
Wenngleich es sich bei derartigen Fragen um Elementaria der
politisch-pädagogischen Weiterentwicklung unserer Demokratie handelt, möchte
ich mich im folgenden auf eine andere Problemschicht konzentrieren. Zu
diesem Zweck erzähle ich zunächst zwei Geschichten.
[104:5] Im Jahre 480 vor unserer Zeitrechnung – so jedenfalls erzählt es
Herodot – erschienen die Kundschafter Athens beim
Orakel von Delphi und baten um eine Wegweisung für die bevorstehende
kriegerische Ausein|a 127|andersetzung mit den Persern. Die
Weissagung fällt unerfreulich aus (
„Nicht das Haupt bleibt
ganz, noch der Leib, noch die Füße, / auch nicht die Hände, noch bleibt
ein Stück in der Mitte des Rumpfes / übrig, sondern vernichtet wird
alles“
).
„Als das die Gotteskundschafter hörten,
ergriff sie tiefe Trauer“
; sie kehrten noch einmal zum Orakel zurück
und baten
„um einen besseren Spruch“
. Der nun ist zwar
nicht mehr so niederdrückend, dafür aber vieldeutig. Auf einer großen
Versammlung in Athen begann deshalb eine umständliche Diskussion der Frage,
wie er auszulegen sei. Wie man weiß, hatten die Athener Glück mit ihrer
Auslegung: Sie vertrauten auf die Schiffe und gewannen die Schlacht bei
Salamis.
[104:6] Diese Geschichte ist eine der Geburtsurkunden des europäischen
Nachdenkens über Bildung, und zwar in mehreren Hinsichten: Die Quelle der
Mehrdeutigkeit des Orakelspruchs ist im Arrangement der Orakel-Prozedur
symbolisiert, indem nämlich die Pythia während der Befragung auf einem
Dreifuß über einem Erdspalt sitzt, aus dem Dämpfe aufsteigen; derart den
Kräften der Erde, der vitalen Tiefe, ausgesetzt, ist das Heiligtum aber
andererseits Apollon geweiht,
dem licht- und maßvollen Gott; dieser Gegensatz erzeugt eine schwer deutbare
Rede. Er erzeugt aber auch bei den Athenern einen Akt der Emanzipation:
Statt sich auf das Walten der Gottheiten zu verlassen, müssen sie nun ihre
eigene Auslegungsarbeit ins Spiel bringen, eine praktische Urteilsfähigkeit
ausbilden; hätten sie die Schlacht bei Salamis verloren, dann hätten sie,
nach diesem Arrangement, nicht dem Orakel die Schuld geben können, sondern
nur dem Versagen ihrer eigenen Auslegungskraft; sie selbst also sind
verantwortlich. Wer das akzeptiert, muß sich zunächst der eigenen Bestände
versichern; die Mehrdeutigkeit des Orakelspruchs fordert geradezu diese
selbstreflexive Bewegung heraus, da dessen Auslegung nun von nichts anderem
mehr abhängt als von der eigenen Vernunfttätigkeit. Deshalb stand über dem
Tempeleingang von Delphi der Satz:
„Erkenne dich
selbst“
.
2. Traditionelle Bestände
[104:10] Von manchen Seiten wird uns heute die sogenannte
„Antipädagogik“
empfohlen, d. h. ein Verzicht auf reglementierendes
Eingreifen, äußerste Zurückhaltung beim Geltendmachen der eigenen
Wertüberzeugungen, extreme Bescheidenheit im Umgang mit Zukunftsprojektionen
für das Kind – stattdessen Konzentration auf das Hier und Jetzt, Ehrfurcht
vor den Bedürfnissen des Kindes, Sensibilität für die Gefühle, aus denen
allemal das Verhältnis der Generationen gemacht sei. Therapeuten oder
Para-Therapeuten knüpfen hier an: Unsere gesellschaftliche Existenz sei
pathologisch oder wenigstens pathogen geworden; die seelische Störung werde
allmählich zum Normalfall; die Lebensform der bürgerlichen Kleinfamilie
bekräftigte die Pathologie, unsere Schulen nicht minder. Die
„Alternativen“
(wie man sagt) haben deshalb Konjunktur,
zwar nicht faktisch (sie bekommen kaum Geld!), aber doch in der öffentlichen
Diskussion; die Frage, ob wir gut beraten waren, als wir die öffentliche Schulpflicht einführten anstelle einer bloßen Unterrichtspflicht, irritiert manch einen mit gutem
Grund. – Es scheint, als sei in der jüngeren Geschichte der bürgerlichen
Gesellschaft – Humboldt
konnte das noch nicht vorhersehen – einiges verkehrt gelaufen. Das ist der
springende Punkt für die Pädagogik, für die erste, die elementare Tatsache
des Generationsverhältnisses!
[104:11] Man muß den
„Antipädagogen“
, Therapeuten und
„Alternativen“
vielleicht nicht in allem Recht geben. In
einer Hinsicht aber treffen sie den Nerv dessen,
was Pädagogik genannt wird: Die Güte unseres Umgangs mit der jungen
Generation bemißt sich allemal und fundamental an der Güte unserer eigenen
Lebensform. Zwei ziemlich ehrliche |a 130|Zeugen unseres
Jahrhunderts formulieren das Dilemma, allerdings sehr pädagogisch intim und
mit Bezug auf ihre Väter, so:
[104:12]
„Es gibt keine guten Väter, das ist die Regel;
die Schuld daran soll man nicht den Menschen geben, sondern dem
Band der Vaterschaft, das faul ist. Kinder machen,
ausgezeichnet; Kinder haben, welche
Unbill! Hätte mein Vater weitergelebt, er hätte mich mit seiner
ganzen Länge überragt und dabei erdrückt. Glücklicherweise starb
er sehr früh; inmitten so vieler Männer, die gleich dem Äneas ihren Anchises auf dem
Rücken tragen, schreite ich von einem Ufer zum andern, allein
und voller Mißachtung für diese unsichtbaren Erzeuger, die ihren
Söhnen das ganze Leben lang auf dem Rücken hocken: ich ließ
hinter mir einen jungen Toten, der nicht die Zeit hatte, mein
Vater zu sein, und heute mein Sohn sein könnte. War es ein Glück
oder ein Unglück? Ich weiß es nicht; aber ich stimme gern der
Deutung eines bedeutenden Psychoanalytikers zu: ich habe kein
Über-Ich“
(J. P. Sartre, Die Wörter, 1965,
S. 14
f.)
.
[104:13]
„Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal
gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte
Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der
Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur
Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß
ich sie im Reden halbwegs Zusammenhalten könnte. Und wenn ich
hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur
sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und
ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des
Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit
hinausgeht.“
[104:14] Beide Texte demonstrieren, wie dicht die Form des Lebens und ihre
physischen intergenerationellen Folgen ineinander verwoben sind. Der erste
Beitrag, den also die Pädagogik – oder besser: unser Ich als Pädagoge – für
eine verantwortbare Gestaltung der Zukunft beizusteuern hätte, ist also
dieses: Richten wir unsere eigene Lebensform so ein, daß unsere Kinder, wenn
sie sie nachahmen, nicht in kaum noch lösbare Konflikte verstrickt werden.
Das erste, was Kinder tun, ist Nachahmung; das Schlimmste, was die
erwachsene Generation tun kann, ist deshalb, ihnen eine nicht
nachahmenswerte Kultur zu präsentieren. Die mit dieser Problemlage angelegte
ethische Selbstreflexion gehört seit der klassischen griechischen
Philosophie, gehörte für Augustinus und Comenius, für Kant und Schleiermacher zu den Elementaria pädagogischen Denkens und
Handelns. Ohne sie wird die Pädagogik kaum etwas beizutragen haben zu einer
verantwortbaren Zukunft.
|a 131|
[104:15] Im 16. Jahrhundert kam ein zweiter nach wie vor zukunftsfähiger
Grundgedanke hinzu: Daß durch Nachahmung der Kultur der Erwachsenen der
Bildungsprozeß des Kindes gelingen könne, wurde zweifelhaft. Die Gründe
dafür waren vielfach: Beginnende kapitalistische Ökonomie in den Städten;
Universalisierung des Geldverkehrs und damit abstrakter Tauschbeziehung;
Buchdruck und damit verbundene Alphabetisierungskampagnen; Notwendigkeit des
Erlernens der bürgerlichen Rechnungsarten; die Neuerfindung der Perspektiven
in der Malerei und damit die Verlegung des Fluchtpunktes der Weltbetrachtung
in das Auge des einzelnen Menschen; ohne Ausbildung eines
„diffizilen, theoretisch“
werdenden intellektuellen Instrumentarismus
zur Deutung der Welt, in dem das Verhältnis zwischen Wort und Sache durch
sorgfältige empirische Beobachtung reguliert wird – und ähnliches.
Derartiges läßt sich nicht mehr durch pure Imitation, durch Mitleben und
Teilnahme erlernen. Überhaupt werden jetzt
„Lehren“
und
„Lernen“
zu Schlüsselbegriffen. In der Einleitung zum
berühmt gewordenen
„Orbis pictus“
schreibt Comenius:
„Es ist, wie ihr sehet, ein kleines Büchlein: aber
gleichwohl ein kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen
Sprache“
. Seitdem gehört es zum neuzeitlichen pädagogischen Habitus, daß wir
den Kindern eine zweite, künstliche Welt konstruieren, in der
gesellschaftliche und kulturelle Wirklichkeit nur repräsentiert, in der auf sie nur verwiesen
wird. Auch in dieser pädagogischen Kunstwelt – Schulbanken, Curricula, die
didaktischen Apparaturen unserer Kinderzimmer, Spielplätze, therapeutische
Arrangements in Erziehungsheimen usw. – sind Erfahrungen möglich; aber wir
müssen nun sehen, daß sie zu den anderen Erfahrungen in der Erwachsenen weit
kategorial passen.
[104:16] Damit liegt der nächste Schritt, der nächste pädagogische
Grundgedanke eigentlich schon auf der Hand: Wenn nicht mehr den Lebensformen
selbst pädagogische motivbildende Kraft zugetraut wird und sich jene Welt
von Künstlichkeit zwischen Lebensform und Kind schiebt, dann entsteht die
Frage, wie denn unter solchen Bedingungen eine Motivation zu erzeugen sei, zumal ja nun möglichst viele,
möglichst alle sich jenes abstrakte Abbild der Kultur aneignen sollen. Die
Antriebe, die Möglichkeitsbedingung zur Bildung des Menschen, zum Lernen und
zum Lernenwollen mußten also im Individuum selbst, nicht in seinen Umständen
gesucht werden. Man mußte unterstellen, daß jeder in gleicher Weise bildbar
war, zumal es ja gerecht zugehen sollte, niemand
also durch Herkunft aus diesen oder jenen der ständischen Lebensformen vom
Zugang zur allgemeinen Kultur ausgeschlossen werden |a 132|sollte. Das 18. Jahrhundert wählte zur Bezeichnung dieser
Problemkonstellation die Ausdrücke
„Bildungstrieb“
und
„Bildsamkeit“
, um damit sowohl die
Spontanitäts-Komponente als auch die Rezeptivitäts-Komponente hervorzuheben.
Dies ist eine nicht nur historische, sondern zukunftsfähige
Problembeschreibung insofern, als auch für die Zukunft, aus allgemeiner
pädagogischer Verantwortung, unterstellt werden muß, daß es diesen Antrieb
und diese Plastizität in jedem Menschen gibt, daß
sich deshalb die Zuschreibung von unkorrigierbaren Begabungstypen verbietet,
gleichviel, ob sie in der Form von psychologischen, kulturellen,
rassistischen Urteilen ausgedrückt werden. Am Beispiel eines Sonderschülers
hat der Schweizer Lehrer Jürg
Jegge den gemeinten Sachverhalt in einer Geschichte so
beschrieben, wie eine Theorie es kaum besser könnte:
[104:17]
„
So kam er zuguterletzt in die Sonderklasse, ein
mißtrauischer, ängstlicher Bub, der mit
„Autoritäten“
(vor allem mit dem Vater) denkbar schlechte
Erfahrungen gemacht hatte. Nun werden auch seine
„Rudereien“
und seine Aggressionen mir gegenüber
verständlich: An mir verarbeitete er seine gemachten schlechten
Erfahrungen. In dem Maße, wie es mir gelang, nicht so zu reagieren,
wie er es gewöhnt war, in dem Maße, wie es mir gelang, ihm zu
zeigen, daß ich ihn trotz allem akzeptierte, kam es bei ihm langsam
zu einem Abbau seiner Ängste. Und erst als dieser Angstabbau
vollzogen war, waren bei Albert die Voraussetzungen
für das Lesenlernen geschaffen. Dann allerdings ging’s rasch voran.
Er hat in kurzer Zeit
„aufgeholt“
. [104:18] Bleibt noch nachzutragen, wie sich
bei Albert
die Bereitschaft zum Lesenlernen zum erstenmal ankündigte.
[104:19] Ich diktierte einer
Gruppe irgendeinen Text. Albi saß daneben und störte
dauernd. Schließlich nahm er einen Zettel in die Hand und rief:
„Ich schreibe auch mit.“
Wenig später gab er mir
den Zettel zur Korrektur. Eine Kuh war draufgeschmiert, daneben
irgendein Gekritzel. Ich schrieb auf den Zettel: ALBI =LÖLI. Gespannt wartete ich. Würde er das lesen
können? Er nahm den Zettel an sich und studierte ihn aufmerksam.
Dann fragte er mich:
„Wie schreibt man das Jegge-J?“
Ich
zeigte es ihm. Als ich das Blatt zurückerhielt, stand darauf: JEGE
SAFSEKEL. Noch kaum je hat mich
eine Schülerarbeit so gefreut wie dieses SAFSEKEL“
(Jürg Jegge, 1977, S. 37 f.)
.
[104:20]
„Lesen-Lernen“
ist nicht irgendein beliebiges
Beispiel. Es betrifft, wie wir aus den sogenannten Entwicklungsländern,
besonders auch aus der Arbeit Paolo Freires in Brasilien, wissen, fundamental die
Beteiligungs|a 133|chancen in modernen Demokratien. Der
demokratische Diskurs ist literarisch. Wer sich beteiligen will, muß lesen
können. Alphabetisierung, so technisch dieses Problem auch zunächst anmuten
mag, hat von Anfang an die Mündigkeit des Bürgers im Blick. Lesen- und
Schreibenkönnen (und heute vielleicht: einen Personal-Computer für eigene
Interessen einsetzen können) symbolisiert oder instrumentiert ein Problem,
das in seiner allgemeinsten Fassung, unter dem Erstdruck der bürgerlichen
Revolution,
„Selbsttätigkeit“
genannt wurde. Damit ist ein Verhältnis der Generationen, das noch als Imition, als kindliche oder jugendliche Nachahmung der Kultur der
Erwachsenen beschrieben werden könnte, endgültig verabschiedet.
„Selbsttätigkeit“
heißt nämlich, beispielsweise bei
Fichte und den
preußischen Erziehungsreformatoren zu Beginn des vorigen Jahrhunderts: die
Fähigkeit, den jedem Menschen eingeborenen
„Bildungstrieb“
im Hinblick auf die Verbesserung des Gemeinwesens zur
Geltung zu bringen! Genau dieser Gedanke ist es, der das Motiv darstellt für
die von mir eingangs zitierte Formel
Schleiermachers, es käme bei
der Bildung der jungen Generation darauf an, sie zu befähigen, das
bestehende Gute zu erhalten, im übrigen aber
„mit Kraft“
an der Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse sich zu beteiligen.
Das ist – wie wir inzwischen wissen – eine pädagogische Aufgabe, die im
Kinderzimmer beginnt und mit dem Abitur immer noch nicht endet. Es ist aber
zumal und besonders eine solche Aufgabe, die eine skeptische Selbstkritik
jeder pädagogischen Einflußnahme herausfordert. Das gesellschaftlich oder
kulturell Verbesserungsbedürftige, das sind ja wir
selbst, die Erwachsenen und die Welt, wie wir sie gemacht haben. Wenn also die von Schleiermacher und seinen neuhumanistischen
Kollegen gewünschte Selbsttätigkeit, das vernunfts-geleitete Eingreifen also
in die Verhältnisse des Gemeinwesens zum Zwecke seiner sittlichen
Weiterbildung zu gerechteren Formen, auch künftig in der jungen Generation
sich bilden soll – und ich wüßte kein Argument dagegen anzuführen –, dann
kommt offensichtlich beim Dialog der Generationen alles darauf an, die
Äußerungen jener Selbsttätigkeit zu respektieren und zu unterstützen.
[104:21] Diese vier hier nur knapp skizzierten Argumentationsfiguren zum
Umgang der Generationen miteinander – eben das, was wir landläufig
„Pädagogik“
nennen – scheinen mir Vergangenheit und
Zukunft zusammenzuhalten:
-
–
[104:22] Unsere eigene Lebensform muß, so gut wir es wissen und
können, überliefernswert sein.
- |a 134|
-
–
[104:23] Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird auch nächstens noch
derart komplex bleiben, daß wir einer vereinfachenden pädagogischen
Zeichenwelt bedürfen, die zwischen dem Kind und der Lebenswirklichkeit
Erwachsener vermittelt.
-
–
[104:24] Wir müssen die Bildsamkeit jeden
Kindes, ohne Ausnahmen unterstellen, um nicht vorschnell und
leichtfertig in die Fehler zu verfallen, Kinder und Menschen nur deshalb
von der Teilhabe an der ganzen und allgemeinen Kultur auszuschließen,
weil sie mit geringen Chancen ins Leben getreten sind.
-
–
[104:25] Wir müssen schließlich alles daran setzen, daß
Selbsttätigkeit und Kreativität sich nicht in privaten Zirkeln, in denen
freilich auch
„Selbsterfahrung“
und
„Selbstverwirklichung“
viel gelten mögen, einkapseln, sondern zu
Formen der öffentlichen Beteiligung gelangen, also zur Verbesserung der
Verhältnisse beitragen.
[104:26] Das ist nun ein ziemlich bescheidenes Ergebnis, jedenfalls ist es
nicht mehr, als die abendländische oder europäisch-neuzeitliche Geschichte
der Pädagogik hergibt. Insofern sind diese Prinzipien konservativ – obwohl
manch ein Bildungspolitiker unserer Tage, der sich selbst so versteht, ihnen
vielleicht nicht beipflichtet. Er liebt vielleicht nicht gerade Descartes, Comenius, Diderot, Lessing, Kant, Schiller, Schleiermacher usw., sondern andere. Wen? Jedenfalls ich denke, daß diese Prinzipien – allerdings muß man
sie alle zusammen deuten – den Grundkorpus an Argumentationen ausmachen, den
wir, die Pädagogen, in die Erörterung einer verantwortbaren Zukunft
einzubringen hätten.
3. Gegenwärtige Schwierigkeiten
[104:27] Blickt man nur mit diesem Ensemble von Problemstellungen auf das,
was sich gegenwärtig andeutet, und zwar mit der Frage, was denn, über jenen
traditionellen Bestand hinaus, in die Zukunft weisen, uns eine Erweiterung
oder Veränderung pädagogischer Perspektiven abverlangen könnte, dann stellt
sich das Panorama – ich wies eingangs schon darauf hin – ziemlich breit und
differenziert dar, breiter und differenzierter jedenfalls, als in einem
knappen Vortrag analysierbar. Ich beschränke mich deshalb auf die Skizze von
drei Problemen, die vergleichsweise weniger öffentliche Aufmerksamkeit
finden als Modernitäts-Anpassungen, curriculose Innovationen, Friedens- und
Umwelt-Erziehung, neue Herausforderungen an Moral und Sittlichkeit, die |a 135|aber, so punktuell sie erscheinen mögen, elementare Fragen des Umgangs mit der jungen Generation betreffen, nämlich: Arbeit, Leibhaftigkeit und Ich-Irritationen ...
Bildung und Arbeit
[104:28] Wir haben es heute, in den westlichen kapitalistischen
Ländern, mit einer Verschiebung der Frage nach dem Bildungssinn der
Arbeit zu tun. Es fällt schwer, die gesellschaftliche Nützlichkeit von
Arbeit ohne Umschweife mit einem Bildungssinn für den einzelnen Menschen
zu verbinden. Die Welt der Arbeit kann nicht mehr, wie zur Zeit der
frühbürgerlichen Stadtkultur oder der Industrialisierungsepoche, eine
bessere Zukunft versprechen. Das gilt für die Zukunft unserer
Gesellschaft wie für die Zukunft des einzelnen Lebenslaufs. Die Spuren
der Arbeitswelt, ihrer Technik und Ökonomie und was sie uns an Künftigem
versprechen könnte, finden wir heute am zuverlässigsten nicht mehr nur
im Wohlstand und Gewerbefleiß, sondern auch in Arbeitslosigkeit und
Vergiftung der Umwelt. Die paradiesischen Hoffnungen, die noch bei
Jahrhundertbeginn die Phantasie der Futuristen beflügelten, liegen uns
heute ferner als die Befürchtung, der Globus könne zur Ruine werden.
[104:29] Derartige Eindrücke erzeugen eine Stimmung, die sich vom
gesellschaftlich geläufigen Typus von Arbeit zunehmend distanziert. Man
könnte verführt sein, dies als pubertären oder adoleszenten Hedonismus
zu denken. Ich halte eine solche Deutung für falsch, jedenfalls dort, wo
es sich um pädagogisch relevante Entwürfe des Verhältnisses von Leben
und Arbeit handelt: in den Freien Schulen, in Landkommunen, in
alternativen und kollektiv betriebenen Werkstätten mit
„sanfter Technologie“
, in der Waldorf-Pädagogik, in
Sekundarschulkonzeptionen, die Kopf- und Handarbeit und damit auch
solche Schüler über längere Bildungszeiten hinweg zu integrieren
versuchen, die vom herrschenden Typus unseres Bildungssystems immer noch
frühzeitig ausgesondert werden. In Bemühungen dieser Art entdecke ich
eine neue Suche nach der Antwort auf die Frage, ob das Verhältnis von
Arbeit und Lebenssinn, von Kopf- und Handarbeit, von Produktivität und
Rezeptivität, von Wissen und Handeln nicht doch eine fundamentale
Bildungsbedeutung hat. Vor allem drei Merkmale sind es, die in solchen
Versuchen, wie mir scheint, deutlich hervortreten:
-
•
[104:30] Der Begriff
„Arbeit“
wird vom System
industrieller Erwerbsarbeit gleichsam abgekoppelt. Damit verliert
das kapitalistisch-protestantische Arbeitsethos und mit ihm die hohe
Bewertung lebenslang gleicher |a 136|Berufstätigkeit, die wohl ohnehin ihrem Ende entgegengehen, an
Kraft. Von Bedeutung wird nun vorwiegend, daß es sich um Tätigkeit
handelt, die als sinnvoll erfahrbar ist.
-
•
[104:31] Sinnvoll ist eine Arbeit oder Tätigkeit dann, wenn sie
in einem überschaubaren
„Oikos“
lokalisiert ist.
„Selbstverwirklichung“
– um
dieses modisch strapazierte Wort hier einmal zu verwenden – wird
nicht von materieller, mühevoller und schweißtreibender Arbeit
erwartet, sondern von
„vergesellschaftetem
Tätigsein“
(Zimmerli), von
„lebendiger Arbeit“
(Negt), von einer Art der
Tätigkeit also, die mit sinnorientierter Kommunikation verbunden ist
– sei der Ort solcher Kommunikation nun ein Haushalt, eine
Nachbarschaft, eine dem Leben geöffnete Schule, eine
„Alternativ“
-Werkstatt ... Etwas zugespitzt
könnte man sagen: Schwarzarbeiter, Hausfrauen, Entwicklungshelfer,
auf niedrigem materiellem Niveau tätige Kommunen,
Drogen-Therapie-Einrichtungen, Windmühlen-Bauer sind die Vorhut
einer neuen Arbeitsmoral, die der menschlichen Tätigkeit jenen
Bildungssinn zurückgibt, den sie im Laufe der expandierenden
Industriegesellschaft verloren hat.
-
•
[104:32] Das führt noch einmal auf die fundamentale Frage nach
dem Verhältnis von Kopf- und Handarbeit zurück. Daß Kinder und
Jugendliche etwas mit ihren Händen tun, daß sie Gelegenheit zu
Tätigkeiten haben, durch die sie in die gegenständliche Welt
gestaltend eingreifen, ist keine Marotte von Reformpädagogen oder
Philanthropen. Es hat einen anthropologischen Sinn. Paläontologen
belehren uns darüber, daß es in der Evolution unserer Gattung
offenbar ein Wechselspiel gibt zwischen der sensumotorischen
Tätigkeit der Hände und der Ausbildung des Zentralnervensystems. Und
auch für die Ontogenese wird dem von Gehirn-Physiologen nicht
widersprochen. Die Tätigkeit der Hände – über das Drücken von
Knöpfen und das Führen von Kugelschreibern hinaus – ist für die
Zukunft der Bildung unserer Kinder vielleicht wichtiger als diese
oder jene Arbeits- und Leistungsmoral.
Bildung und Leibhaftigkeit
[104:33] Über den Leib gibt es nun freilich mehr zu sagen als nur, daß
manuelle Tätigkeit mit Hand und Gehirn verbunden und wegen dieser
Verbundenheit ein Bildungsthema ist. Seit mehreren Jahren schon wird,
innerhalb und außerhalb der Pädagogik, die sogenannte
„Wiederkehr des Körpers“
diskutiert. Was ist das? Zunächst könnte
man geneigt sein, dieses Thema einer der neo- oder paratherapeutischen
Moden, den hedonistischen oder narzißtischen Fluchttendenzen
zuzurechnen, einer |a 137|postmodernen Attitüde im
pädagogischen Feld, die sich nun, da die technologisch-rationalistischen
Engführungen unserer Kultur zweifelhaft, ungewiß und ungemütlich zu
werden scheinen, den Gewißheiten des Leibes und seiner Gemütlichkeit
zuwendet. Indessen: So einfach ist das Thema nicht. So suggestiv sich
die Apologeten einer
„neuen Sinnlichkeit“
ins Spiel
bringen, das Thema enthält Schwierigkeiten, die dem Thema
„Arbeit“
entgegengesetzt sind: Droht im Hinblick auf
Arbeit eine Zukunftsunfähigkeit eher durch allzu
strenge begriffliche Festlegung auf überlieferte Konzepte der
bürgerlichen Gesellschaft, so kann man im Falle des Leibes und seiner
Sinne eher sagen: Gerade die begriffliche Diffusität, der Mangel an
Unterscheidungen, die fehlende oder nur in sentimentalen Rückgriffen
bestehende Bezugnahme auf Geschichte erschweren eine
Zukunftsperspektive.
[104:34] Dennoch aber dürfen wir aus solcher Herausforderung lernen.
Das Thema nämlich – die Wiederentdeckung des Körpers oder die
Sinnlichkeit des Menschen – formuliert ein Schuldensaldo der
überlieferten Aufklärungskultur. Das allerdings hatte schon Schiller als die Aufgabe
„ästhetischer Erziehung“
, Karl Philipp Moritz als das
psycho-physische Leiden des Kindes, der Maler Goya in seinen
„Capriccios“
als die Sprachlosigkeit der Vernunft in
bezug auf ihren Leib angemahnt. Die pädagogische Behandlung des Themas
im
„Zögling Törleß“
Robert
Musils blieb für das öffentliche Bildungsdenken ohne
Folgen. In diesen Jahrzehnten erst bricht es als Thema wieder auf, nun
nicht mehr nur für eine bildungsbürgerliche Elite. Grund genug, das
Thema ernstzunehmen, zumal es an die Leibhaftigkeit des delphischen
Orakels, an seine vitalen Quellgründe und Irritationen erinnert.
[104:35] Aber ich will nicht von der Trieb-Natur des Kindes reden. Es
ist ein merkwürdiger Sachverhalt, daß, obwohl der allseits und
unverdrossen und immer wieder hochgelobte Friedrich Schiller
die ästhetische Erziehung zum Kernstück einer an gesellschaftlichem
Fortschritt interessierten Bildungsbemühung erklärte und seitdem keiner
unserer Kulturminister ihm offen und ausdrücklich widerspricht, seit 200
Jahren die ästhetische Bildung nach wie vor ein Schattendasein führt. Es
gibt sicher viele Gründe dafür. Einer liegt darin, daß die
klassisch-neuhumanistische Bildungstheorie zwar einen utopischen, in die
Zukunft weisenden Begriff einer freien und vernunftgemäßen Gesellschaft
hatte, die in der ästhetischen Erfahrung, so Schiller,
antizipiert werden könne; aber gerade dies stellte andererseits die
Möglichkeit bereit, den schönen Schein als Ornament der nicht so schönen
Wirklichkeit zu mißbrauchen. Ästhetische Erziehung ist in unserem
Bildungsdenken ein solches |a 138|Ornament geblieben,
das Adolf
Loos schon am Jahrhundertbeginn für ein
„Verbrechen“
hielt.
[104:36] Seit einiger Zeit scheint sich die Lage zu ändern, und zwar
von zwei Seiten her: In den Diskussionen zur Reform des Curriculums –
und das ist ja für den herrschenden Begriff von Bildung immer ein
signifikanter Testfall – ist seit mehr als 10 Jahren schon eine
Ausweitung und Akzentuierung der ästhetischen Bildungsaufgaben zu
beobachten. Dem entspricht auch in der Wissenschaft eine neue, breite,
über Fachgrenzen hinausgehende Erörterung von Problemen der ästhetischen
Theorie, so als sei die Art der künstlerischen Produktivität der
Gegenwart der interessanteste Testfall für die Zukunftsfähigkeit unserer
kulturellen Bestände. Dem scheint – auf den ersten Blick und gleichsam
am anderen, nicht-theoretischen Ende der Problemskala – die schon
erwähnte neue Vorliebe für Körper- und Leiberfahrungen, häufig auch
etwas undifferenziert
„Sinnlichkeit“
genannt, zu
entsprechen: eine Konzentration auf das Hier und Jetzt des mir gegebenen
Leibes, sein Verhältnis zum Seelischen, das Erfahren oder Spüren des je
eigenen Selbst, die besondere Aufmerksamkeit für die Nahsinne. Das alles
wird, bisweilen subtil, inszeniert in Gruppendynamik, Encounter-Übungen,
Selbsterfahrungs-Seminaren, Meditation, hinterläßt seine Spuren in den
vielen Varianten von ästhetischer Alltagsproduktion bis zur
Kunst-Therapie einerseits und zu den bisweilen die Sprachlosigkeit der
primären Sinnesempfindungen zum Thema machenden theatralischen
Inszenierungen andererseits.
[104:37] So unbezweifelbar sich in derartigen Erscheinungen Neues
ankündigt: Warnungen erscheinen mir angebracht – wenn es um Konsequenzen
für Erziehung und Bildung gehen soll. Die curriculare Dimension der
ästhetischen Bildung wurde ziemlich rasch dem Begriff der Kommunikation
zugeschlagen: Sprechen, Hören, Sehen, Sich-Bewegen, Tasten – alles galt
als Kommunikation; Kunstunterricht gar sollte fortan
„visuelle Kommunikation“
heißen. In dieser Umbenennung aber wird
das Problem verschenkt, vergeudet, vernichtet. Freilich gibt es auch
eine
„Ästhetik“
des Waren-Marktes, der Werbung, der
politischen Inszenierung innerhalb und außerhalb der Staatsgewalt, in
öffentlicher und privater Kommunikation. Aber die Eigentümlichkeit
ästhetischen Urteilens und ästhetischen Hervorbringens geht in solcher Perspekte verloren. Soll die ästhetische Seite unserer Leib-Existenz für
die Bildungsaufgaben wirklich zukunftsfähig sein, dann – so scheint mir
– ist es nützlich, sich an Kant und Schiller zu
erinnern, oder an die im Hinblick auf die Leibhaftigkeit unserer
Existenz exponierten Produkte Goyas, |a 139|van Goghs, Francis Bacons
oder Arnulf
Rainers, die beides zugleich herausfordern:
Empfindung und Urteil.
[104:38] Die Nivellierung ästhetischer Problemstellungen zur Seite der
Kommunikation hin ist die eine, ihre Nivellierung zur bloßen subjektiven
Empfindung hin die andere Gefahr. So richtig es ist, den Ausgang jeder
Art von Bildung bei der Leibhaftigkeit des Menschen zu suchen, so
problematisch scheint mir der Egozentrismus der
„neuen
Sinnlichkeit“
zu sein. Die anthropologisch gegebene Dialektik von
Fern- und Nahsinnen (Auge und Ohr versus Getast, Geruch usw.) setzt ja
gerade dem Hier und Jetzt der Nahsinne das Dort und Dann der Fernsinne
entgegen (durch das in die Ferne blickende Auge und durch das vergangene
und erwartete Töne ins Verhältnis bringende Ohr). Das ist der Grund
dafür, daß sich aus den Nahsinnen keine großen Künste entwickelt haben.
Und eben dies ist unmittelbar bedeutsam für bildungstheoretische Fragen.
Bildung ist immer – jedenfalls so lange wir an ihrem Begriff festhalten
– ein dynamischer Vorgang in Raum und Zeit. Er nimmt zwar im Hier und
Jetzt, bei diesem meinem Leib und seinen unmittelbaren Empfindungen,
seinen Anfang, aber er wäre keine Bildung, wenn er diese Leibgrenzen
nicht transzendieren würde. Ästhetische Erziehung, wenn sie nicht in
Kommunikation verflachen oder in nostalgischer Leibzentriertheit
verkümmern will, hätte nur in derartiger kritischer Perspektive eine
Zukunft.
Die Irritation des Ichs
[104:39] Das nun hat etwas mit dem zu tun, was wir uns als unser
„Ich“
vorstellen. Die traditionelle Bildungstheorie
hatte damit keine besonders großen Schwierigkeiten. Sie konnte sich
darauf verlassen, daß die räumliche Umwelt menschenfreundlich bleiben,
die geschichtliche Zukunft besser werden würde. Die Autobiographien des
15. bis 19. Jahrhunderts lesen sich zwar nicht wie pure
Erfolgsmeldungen, aber sie zeigen doch, daß das frühbürgerliche Ich sich
in den Dimensionen Raum und Zeit zuverlässig entwerfen konnte.
[104:40] Seit der Literatur von Baudelaire und Nietzsche, den Bildern van Goghs und Francis Bacons und der Musik Weberns ist das anders. Die
Bildungstheorie hat zwar einige Jahrzehnte lang sich mit dem
Verlegenheitsbegriff
„Identität“
aus derartigen
Krisen herauszuhalten versucht. Zwar wurden vielerlei
Identitäts-Probleme gemacht, die wir mit uns und besonders die
Jugendlichen mit sich haben; der Taschenbuchmarkt zu dieser Frage ist
kaum noch zu überschauen. Aber: Daß der Heranwach|a 140|sende in irgendeiner Weise mit sich (Was ist das?) und seinen
Bezugspersonen übereinstimmen solle, bleibt die scheinbar zweifelsfreie
Unterstellung. Warum eigentlich?
[104:41] Von den noch behutsam vorgetragenen Destruktionsphantasien
Rousseaus bis zu den
Jugendkrawallen unserer Tage zieht sich deshalb die Linie einer
Zerstörungsmetapher, die das Ich aus allen relevanten sozialen Bezügen
herauslöst und schließlich auch die punktuellen Gewißheiten dieses Ichs
selbst ergreift. Sozialgeschichtlich konkret beginnt diese Bewegung im
Proletariat des 19. Jahrhunderts: räumlich von den neuen
Industriezentren abhängig und zeitlich-zukünftig auf bloße Lohnarbeit
angewiesen, schien ein befriedigender Ich-Entwurf nur als revolutionäre
Zukunft möglich zu sein. Inzwischen hat sich diese Lage weit über die
Ränder der sozialen Bewegungen hinaus verbreitert. Nur daß heute selbst
die revolutionäre Utopie uns nicht mehr als bessere Alternative
erscheint. Mit dem Verzicht auf produktive Erwartung würde allerdings
dem traditionellen Bildungsdenken der Boden entzogen: Bildung nämlich –
so glaubten wir, und so haben wir von Fichte, Humboldt und
Schleiermacher, auch noch von der Reformbewegung des
Jahrhundertbeginns gelernt – ist als dynamisches Geschehen in der Zeit
davon abhängig, daß das bildende Ich sich als neue Möglichkeit in die
Zukunft hineindenkt – einer der Kerngedanken im Werk Robert Musils übrigens. Ein
kulturelles Klima, daß Veränderungen in der Zeit nicht mehr erkennen,
neue Möglichkeiten nicht mehr denken läßt, vernichtet nicht nur
substantielle Vorstellungen unserer gesellschaftlichen Zukunft, sondern
nimmt, auf der Ebene des einzelnen jungen Menschen, seiner
Bildungsbewegung jeden Sinn. Es bleibt dann nur noch: Ich, hier,
jetzt.
[104:42] Unter solchen Umständen ist es eigentlich gar nicht besonders
erstaunlich, wenn die Ich-Entwürfe sich zunehmend auf die eigenen
Leiberfahrungen konzentrieren (sei es in der Selbsterfahrung des bloßen
Steinewerfens, der Meditationsübung, des sentimental-ästhetischen
Augenblicksgenusses) und sich aus den sozialen Beziehungen, die auch
zukünftige Zuverlässigkeit erheischen, eher heraushalten (tauschbare
Kontakte, wechselnde Bezugsgruppen, vermiedene Verpflichtungen). Was
gilt, ist dann nur noch die Echtheit, die Authentizität der
Selbstdarstellung, das augenblickliche Spüren meines Selbst, die
Gewißheit, daß ich, trotz allem, wenigstens noch lebendig bin.
[104:43] Aber was heißt
„lebendig“
? Vielleicht liegt
hier die schwierige Herausforderung unseres Bildungsdenkens.
„Lebendig“
nennen wir solche |a 141|Phänomene oder Ereignisse, denen eine Möglichkeit innewohnt; das
unterscheidet den Samen vom Stein. Auf die menschliche Kultur angewandt,
hieße das: Nur eine solche Kultur, eine solche Schule können wir
lebendig nennen, die über ihren gegenwärtigen Zustand hinaus eine
Bewegung in die Zukunft hinein zu entwerfen vermag. Dem entspricht die
individuelle Bildungsbewegung des Kindes. Ohne Vorgriffe auf seine
lebensgeschichtliche Zukunft würde es zwar auch
„Ich“
sagen. Aber was für ein Ich wäre das, das nur noch sich selbst empfindet
und darüber hinaus vielleicht nur noch seine verschiedenartigen
Funktionsweisen in diesen oder jenen gesellschaftlichen Kontexten?
[104:44] Hier liegen die Grenzen meines Vorstellungsvermögens. Zugleich
sind es aber auch Grenzen einer noch als lebendig denkbaren
gesellschaftlichen Formation. Das Individuum kann, auf Dauer, nicht aus
sich heraus erschaffen, wofür es in der Gesellschaft keinen Rückhalt
gibt. In einer Gesellschaft, die partout so bleiben will, wie sie ist,
und sei es um den Preis der Selbstzerstörung, gibt es für
Bildungstheorie, für Pädagogik keine Chance mehr. Es wäre dann
aufrichtiger, sie umzubenennen, beispielsweise in
„Adaptions-Strategien“
, an was auch immer das Kind dabei angepaßt
werden soll. Auch in dieser Frage also bin ich entschieden konservativ.
Ich mag nicht die Idee aufgeben, daß, um zu einer befriedigenden
lebenslangen Existenz zu gelangen, dreierlei notwendig ist: eine
Selbstlokalisierung im sozialen Raum, in verbindlichen Beziehungen also,
ein Ich-Projekt im Bezug auf eine bessere Zukunft, und ein wahrhaftiges
Selbstverhältnis. In Shakespeares
„Hamlet“
sagt Polonius, als er seinen Sohn
verabschiedet:
„Dies über alles: sei dir selber treu. / Und
daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage, / Du kannst nicht
falsch sein gegen irgendwen.“
Ludwig
Wittgenstein hat, ohne sich auf Shakespeares hervorragende Formel zu beziehen, den
gleichen Gedanken gedacht. Er notierte:
„Sich über sich selbst belügen, sich über die
eigene Unechtheit belügen, muß einen schlimmen Einfluß auf den
Stil haben, denn die Folge wird sein, daß man in ihm nicht
Echtes von Falschem unterscheiden kann ... Wer sich selbst nicht
kennen will, der schreibt eine Art Betrug.“
Inwiefern darin nicht einfach eine ältere Tradition fortgesetzt,
sondern dem Bildungsbegriff auch ein anderes Verhältnis zur
geschichtlichen Zeit zugemutet wird, deutet sich in einer fast
gleichzeitig geschriebenen Passage Walter Benjamins an, der diesen
Gedanken gleichsam weiterdenkt in der Vorstellung vom
„destruktiven Charakter“
:
„Weil er (der destruktive
Charakter, Anm. d. Hrsg.) überall Wege sieht, steht er
selber immer am Kreuzweg. Kein Augen|a 142|blick kann wissen, was der nächste bringt. Das Bestehende legt
er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges
willen, der sich durch sie hindurchzieht.“