Kultur [Textfassung a]
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Kultur

[106:1] Begriff. Der sprachliche Ausdruck Kultur (von lateinisch
«cultura»
= Pflege, Bearbeitung, Bebauung) ist uneindeutig. Das macht ihn in vielerlei Sprachspielen verwendbar, bereitet aber der wissenschaftlichen Rede Schwierigkeiten. Vokabeln wie
«Sprachkultur»
,
«archaische Kultur»
,
«Alltagskultur»
,
«politische Kultur»
,
«Enkulturation»
,
«Kulturtechniken»
,
«Freizeitkultur»
,
«bürgerliche Kultur»
, ⟶
«Kulturpädagogik»
,
«Kulturgesellschaft»
...haben je besondere, teils historisch-empirische, teils theoretische Referenten, deren Kenntnis vorausgesetzt ist, will man die je mehr oder weniger bestimmte Wortbedeutung verstehen.
[106:2] Hilfreich ist die Erinnerung an den vermutlichen semantischen Ursprungsort der modernen Wortbedeutung bei Cicero (Tusculanae disputationes II,5): In einem Gleichnis wird dort die Einwirkung der Philosophie auf die menschliche Seele (das Gemüt, den Geist) analog zur Bebauung und Pflege des Ackers, damit er Frucht trage, beschrieben (
«cultura autem animi philosophia est»
). Fortan wurde die Bedeutung des zunächst nur auf den Ackerbau bezogenen Ausdrucks
«cultura»
zur Metapher für einen Grundsachverhalt menschlichen Zusammenlebens. Die doppelte Bedeutungsrichtung dieser Metapher, auf eine anthropologische Tatsache und auf eine Bildungsaufgabe verweisend, brachte es mit sich, daß sie sich über die Humanisten der Renaissance, über Herder, Simmel und Gehlen bis in die Gegenwart hinein halten konnte.
«Cultura animi»
ist, im Bedeutungskern, mithin und seitdem die historische Gestalt des Subjekts, diesem vermittelt über den ideellen Gehalt der symbolischen Formen; dem korrespondiert die seit der Frühaufklärung geläufig gewordene objektive Begriffskomponente in der Formel
«vitae cultura»
, Kultur der Lebensverhältnisse (Pufendorf). Sie war indessen schon in Ciceros Metapher enthalten, da die Belehrung (doctrina) der Seele durch die Philosophie, wie die Fruchtbarkeit des Ackers durch dessen Pflege, von der Güte der dabei verwendeten Mittel abhängt. Daran hält noch 1908 Simmel entschieden fest:
«Gewiß ist Kultiviertheit ein Zustand der Seele, allein ein solcher, der auf dem Wege über die Ausnutzung zweckmäßig geformter Objekte erreicht wird»
(Simmel 1984, S. 87)
.
[106:3] Begriffsvarianten und Hypothesen. Das derart vorläufig umschriebene Wortverständnis läßt indessen viele Auslegungsvarianten und -akzentuierungen zu. Sofern in allen Varianten das Verhältnis zwischen der
«cultura animi»
und der
«vitae cultura»
zum Ausgangspunkt des Fragens gemacht wird, enthält jede dieser Varianten auch ein für die Erziehungswissenschaft grundlegendes Problem: die Spielräume der ⟶ Bildung des Menschen im Rahmen historisch gegebener Gestalten des gesellschaftlichen Kontextes.
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[106:4] Philosophische Anthropologie. Die Exposition des Problems stammt, in ausgeführterer Fassung, von Herder: Zu untersuchen sei die
«zweite Genesis»
des Menschen, die, nach der biologischen Tatsache der Existenz der Gattung,
«sein ganzes Leben durchgeht»
und die wir
«von der Bearbeitung des Ackers Cultur oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen»
,
«die Kette der Cultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. Auch der Californier und Feuerländer lernte Bogen und Pfeile machen und sie gebrauchen: er hat Sprache und Begriffe, Übungen und Künste, die er lernte, wie wir sie lernen; sofern ward er also wirklich cultiviert und aufgekläret»
(Herder o.J., S. 228)
. Der Kultur-Begriff der philosophischen Anthropologie schließt, trotz mannigfacher interner Kontroversen, unmittelbar und ausdrücklich an den Gedankengang Herders an. Das gilt vor allem für Gehlen (vgl. 1950, 1956); er nimmt die Problemstellungen Herders auf, vor allem im Hinblick auf
«Sprache»
und
«Übungen»
, und erläutert sie zur objektiven Seite einer Kulturtheorie hin, als
«Philosophie der Institutionen»
(Gehlen 1956, S. 9)
, als Beschreibung des anthropologisch notwendigen
«Außenhaltes»
, dessen der Mensch, seines Instinktmangels wegen, zum Überleben bedarf. Demgegenüber entwickelt Plessner (vgl. 1981) die kulturtheoretische Problemstellung näher am Subjekt: Weniger über die durch die
«Mangelhaftigkeit»
der biologischen Ausstattung notwendig zu erzeugenden Objektivationen/Institutionen als vielmehr im besonderen Selbstverhältnis des Menschen sei ein Verständnis der
«cultura animi»
und ihrer Gestalten zu erreichen; die eigentümlich menschliche Weise, zugleich bei sich und außer sich zu sein, sich zu empfinden und dieses Empfinden zum Thema zu machen, die Sphäre des
«Ich»
und die des
«Wir»
einerseits zu konstituieren, andererseits aufeinander zu beziehen, sei die Grundkonstellation, aus der sich Kultur und Geschichte entfalte.
[106:5] Die in dieser Verschiedenheit des Nachdenkens über Kultur – institutionenzentriert dort, subjektphilosophisch hier – gesetzte Differenz ist für Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts folgenreich geworden; sie wird aufgenommen (beispielsweise) in den Formeln
«Arbeit und Interaktion»
oder
«System und Lebenswelt»
(vgl. Habermas 1968, 1981). Arbeit, Werkzeug, strategisches Handeln, Recht, Kirche, Schule und ähnliche Objektivationen menschlicher Tätigkeit gehören hier eher der System-Seite der Kultur zu; Selbstempfindungen, expressive Darstellungen, Sinn-Verständigungen, alltagsweltliche Ad-hoc-Inszenierungen, Ich-Definitionen, wohl auch
«Archetypen»
und symbolische Repräsentanten eher der Lebensweltseite. Schon Simmel hatte am Jahrhundertbeginn herausgearbeitet, wie eine Kulturanalyse derartige Problemkomponenten und die damit gegebenen Zusammenhänge aufklären könne; er diagnostizierte ein Auseinanderklaffen von
«cultura animi»
und
«vitae cul|a 902|tura»
(vgl. Simmel 1900, S. 477) und operierte mit der Unterstellung, daß die anthropologische Differenz zwischen der Subjekt- und der Objektseite der Kultur die normative Erwartung erheische, beide in Kontinuität zu setzen.
[106:6] Kulturanthropologie. Von dieser Kontinuitätsannahme geht auch die vor allem im Rahmen der Ethnologie entwickelte cultural anthropology aus (vgl. Benedict 1955, König/Schmalfuss 1972). Im Sinne sozialwissenschaftlicher Empirie wird hier die Frage gestellt, wie die je kulturspezifische
«basic personality structure»
beschaffen ist und wie sie den Einrichtungen, Produkten und routinisierten Handlungen des gesellschaftlichen Milieus entspricht beziehungsweise von diesen erzeugt wird (Riten, Mythen, Werkzeuge, Praktiken der Kinderaufzucht, Verwandtschaftssysteme). Gleichviel ob dies in evolutionistischer oder kulturrelativistischer Einstellung erfolgt: Für pädagogische Problemstellungen wurde diese Richtung der empirischen Kulturforschung insofern bedeutsam, als sie (hypothetisch) erlaubte, signifikante Lebensmilieus auf die Modalitäten des Generationenverhältnisses und damit auf die Bildung funktionaler Dispositionen des heranwachsenden Individuums zu beziehen; derartige Hypothesen werden bis in – andernorts als
«ursprünglich»
angenommene – Körpererfahrungen hinein geltend gemacht (vgl. Douglas 1981) und haben sich nicht nur im Vergleich kleiner Ethnien bewährt, sondern auch in der Anwendung auf die Kulturgeschichte der europäischen Moderne (vgl. Foucault 1977).
[106:7] Historische Anthropologie. Daß ein Kulturbegriff, der in der bildungsbürgerlichen Version auf Kunst, Literatur und intellektuelle Produktion verengt und zumal in der deutschen Fassung auch noch von
«Zivilisation»
unterschieden wurde, auf die Dauer unbefriedigend sein würde, darauf machte nicht nur die philosophische und die Kulturanthropologie aufmerksam; dies ging schon aus den Erörterungen Herders hervor. Aber erst neuerdings – in Frankreich allerdings schon seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts – haben sich Geschichtsschreibung und Sozialwissenschaft energischer der Aufklärung elementarer Kulturphänomene auch innerhalb der europäischen Geschichte und unserer Gegenwart zugewandt, und zwar unter verschiedenen Stichworten: Innerhalb der Sozialgeschichtsschreibung (vgl. Schieder/Sellin 1986/1987) richtet sich die Aufmerksamkeit auf die
«civilisation materielle»
(vgl. Braudel 1985), in der Volkskunde auf die Kultur der unteren sozialen Schichten und deren Lebensformen (vgl. Jeggle u. a. 1986), in der historischen Soziologie auf die Genese der Grundmuster von Einstellungen oder Haltungen (vgl. Elias 1939), in der empirischen Sozialwissenschaft auf |a 903|die Rekonstruktion oder Beschreibung von Alltagswelten (vgl. Hammerich/Klein 1978) und deren kategoriale Bestandteile, in der Erziehungswissenschaft schließlich auf die, trotz aller ⟶ Aufklärung, der diskursiven Begründung entzogenen, gleichsam selbstverständlichen und deshalb
«mythisch»
genannten Grundmuster des Umgangs mit der nachwachsenden Generation (vgl. Lenzen 1985) oder auf den Kontakt zwischen Kultur und Bildungsgeschichte (vgl. Mollenhauer 1983). Soweit wissenschaftstheoretische Probleme bei derartigen Forschungsbemühungen eine Rolle spielen – die Schwierigkeit also, die sich aus der Frage ergibt, wie denn nicht nur anthropologisch allgemein, sondern historisch konkret
«cultura animi»
und
«vitae cultura»
erklärt und aufeinander bezogen werden könnten –, kommt Marx/Engels (vgl. 1969), G. H. Mead (vgl. 1968) und Schütz/Luckmann (vgl. 1979) ein prominenter Part zu. Denn bei aller Historizität der Problemstellungen ist die Schwierigkeit unabweislich, die sich daraus ergibt, daß einerseits die ermittelten Kulturmuster (in Einstellungen, Handlungen, Produkten) von Individuen akzeptiert werden müssen, andererseits die Individuen selbst als Kulturproduzenten tätig sind.
[106:8] Kulturelle Codes. Ob indessen wirklich von den Individuen als
«Produzenten»
von Kulturmustern gesprochen werden kann, ist fraglich. Zwar ist unstrittig, daß Kinder, Jugendliche und Erwachsene beständig sich in der Weise kulturproduktiv verhalten, daß sie ihr Inneres veräußern, in Produkten oder in deren Konsumtion vergegenständlichen; strittig ist hingegen, ob diese Tätigkeiten nichts anderes sind als ein Einfädeln individueller Antriebe in historisch bereitstehende Kulturmuster, zusätzlich noch unter der Bedingung, daß bereits diese Antriebe durch die je herrschenden Körper-Konzepte präformiert sind. Diese für pädagogische Problemstellungen fundamentale Schwierigkeit ist im Hinblick auf Trieb-Komponenten (vgl. Freud 1955), auf kognitive Stile (vgl. Bernstein 1970) und auf das Verhältnis zwischen Sozialstruktur und kulturellen Objektivationen (vgl. Bourdieu 1982) zum Thema gemacht worden. Im
«Habitus»
-Begriff Bourdieus, im Versuch,
«im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken»
(Bourdieu 1974, S. 132
, vgl. auch Mollenhauer 1972), treffen diese Fragerichtungen zusammen:
[106:9] Nicht intentional produzierende Subjekte seien es, die den Kulturzustand regieren, sondern symbolische und strukturelle Codes. Bildung ist demnach eine intersubjektiv-allgemeine Repräsentanz von Kultur oder Kulturfraktionen im Individuum (vgl. Bourdieu 1979).
[106:10] Eine für Europa bedeutsame Codierung liegt bereits, über Klassenunterschiede hinaus, in den nationalen Terminologien, die das Problemfeld je anders strukturieren: Der französische Terminus
«civilisation»
|a 904|grenzt diachron, in der Dimension der Verhaltensmodellierung, das Frühere vom Späteren ab; der deutsche Terminus
«Kultur»
grenzt synchron, in der Dimension der Produkte, das Höhere vom Niederen ab (vgl. Elias 1939). Wohin also gehört die Kochkunst?
[106:11] Bildungstheoretische und -praktische Fragen. Wenn der Begriff eines handlungsfähigen Subjektes (Praxis) weiterhin in Geltung bleiben und seinen kritischen Sinn behalten soll; wenn die Aneignung von symbolischen Formen weiterhin als ein Wechselspiel von Akkomodation und Assimilation (Piaget) gedacht werden muß; wenn der Ausdruck ⟶
«Bildung»
wenigstens in der Hinsicht nicht strittig sein sollte, daß er das im Individuum inkorporierte kulturelle (oder subkulturelle) Allgemeine und zugleich den Vorgang der Inkorporation bedeutet; wenn endlich
«Kultur»
als ein Sammelname für ziemlich Verschiedenartiges (Einstellungen, Wissen, Künste, Werkzeuge, Moden, Mythen, Inszenierungen) gelten darf – dann stellen sich an der Bruchlinie zwischen Struktur und Praxis, kultureller Formation und Bildungsprozeß,
«vitae cultura»
und
«cultura animi»
verschiedene Fragen für die moderne Theorie der Bildung.
[106:12] Bürgerliche Kultur. Der soziologischen Neigung, Kulturprobleme auf solche der Sozialstruktur zu reduzieren oder auch sich darauf zu beschränken, vornehmlich deren Homologien zu diskutieren, kann mit Gründen widersprochen werden (vgl. Tenbruck 1986), mindestens vom Selbstverständnis der bürgerlichen Moderne her. Nicht nur im Hinblick auf den ideellen Entwurf, wie von Herder musterhaft vorgetragen, sondern auch faktisch, wie an Lebensläufen und Produkten mannigfach belegbar, etablierte sich spätestens im 18. Jahrhundert die Kultursphäre als ein System von Weltdeutungen, das sich gegenüber den materiellen und sozialstrukturellen Lebensnöten verselbständigte. Dieser Vorgang, dessen Anfänge sich bis in die italienischen Städte der Renaissance zurückverfolgen lassen (vgl. Burke 1984), brachte den neuen Sachverhalt der
«kulturellen Vergesellschaftung»
(Tenbruck 1986, S. 278)
hervor, als relativ autonom gegenüber Sozialstruktur und Religion, von Diderot, Lessing und Herder beispielhaft vorgeführt.
[106:13] Dekulturation. Unter dieser Bedingung wurden auch Vorgänge wie Kulturzerfall oder -zerstörung, Vorstellungen von dominanten und (opponierenden) Subkulturen begrifflich zugänglich, die vordem nur als Barbarei oder Häresie begriffen wurden, nun aber in der neuen Opposition von Kultur und Natur eine andere Bedeutung erhielten:
«Dekulturation»
(vgl. Thurn 1986), als Komponente kulturellen Wandels, ist selbst ein Bestandteil von Kulturentwicklung, und zwar wegen der nicht nach |a 905|Maßgabe der kulturellen Vergesellschaftung restlos kalkulierbaren Antriebe und Selbstentwürfe (⟶
«Subjektivität»
). Die Moderne verfügt über verschiedene solcher Dekulturationsprojekte: im Hinblick auf das bildungstheoretisch zentrale Ich-Projekt von der Poesie Baudelaires zu den Bildern Francis Bacons; im Hinblick auf die Stabilität des Generationenverhältnisses vom
«Anton Reiser»
des Ph. Moritz zur ⟶
«Antipädagogik»
; im Hinblick auf die Kräfte des Unbewußten von den
«Caprichos»
Goyas zu der Bildnerei der Geisteskranken; im Hinblick auf die Mode vom Schillerkragen zu den Punk-Inszenierungen. Demgegenüber gibt es auch die Dekulturation
«von oben»
, als kulturelle Enteignung: Kolonialisierung, missionarische Pädagogik, Gefängnisse, psychiatrische Anstalten, Zwangsintegration von Ausländerkindern, Zerstörung regionaler Teilkulturen,
«Gehirnwäsche»
. Die Beunruhigung, die von der ersten Form von Dekulturation ausgeht, und das Herrschaftsinteresse, das sich in der zweiten Form Geltung verschafft, verweisen darauf, daß mit dem Begriff der
«bürgerlichen Kultur»
nicht nur Teilhabe-, sondern auch Loyalitätserwartungen verknüpft sind. Kultur ist demnach (auch) ein Reservoir von Legitimationen für herrschende Zustände und gewünschte Entwicklungen. Das war schon in der organologischen Wachstums-Metapher und ihrer Verbindung mit der Fortschritts-Idee enthalten (vgl. Herder o. J.), insofern sie eine Rechtfertigung des bürgerlichen Kulturideals darstellte.
[106:14] Werte. Vorgänge der Dekulturation erscheinen nicht nur deshalb bedrohlich, weil sie soziale ⟶ Integration gefährden oder ⟶ Identitäten zerstören, sondern auch deshalb, weil sie Wertorientierungen diffundieren (vgl. Benjamin 1980). In diesem Zusammenhang sind zwei Problemkomponenten bildungstheoretisch bedeutsam: Erstens: Der in Richtung auf Dekulturation zielende Angriff Rousseaus (vgl. 1955) auf die herrschenden Formen von Kultur wurde von ihm sogleich durch das anthropologische Konstrukt der
«Perfectibilitée»
kompensiert; Schleiermachers (vgl. 1983) Konstruktion einer Pluralität der verschiedenen Kultursphären wurde von ihm in die Annahme eines evolutionistischen und vernünftig konvergierenden Geschichtsverlaufs eingebaut; im Umkreis der Lebensphilosophie und des Neukantianismus galt Wertverwirklichung und Wertsteigerung als Zentrum der
«Kulturpädagogik»
(vgl. Cohn 1914, Hönigswald 1959, Spranger 1927); dieser historischen Kontinuität der pädagogisch interessierten Theorien scheint zu entsprechen, daß ⟶ Erziehung und Bildung zunächst immer auch
«Enkulturationen»
sind, das heißt Einweisungen und Einübungen in das je geltende Symbolsystem und seine Codes (die Regeln der Sprache, der Schrift, des Rechnens, der Eßgewohnheiten, des geselligen Verkehrs, des Güterkonsums, des Werkzeuggebrauchs, der
«Sprachen»
ästhe|a 906|tischer Medien), für die es naheliegt, das Verstehen, Aneignen und Können nach besser und schlechter zu unterscheiden. – Zweitens: Innerhalb eines
«klassizistischen»
Rahmens kultureller Praxis, in der materiale und formale Bildung als problemlos korrespondierend und zukunftsfähig geltend gemacht werden (vgl. kritisch Benner 1987, S. 123 ff), sind auch Kategorien wie
«Vervollkommnung»
,
«Höherbildung»
,
«Wertsteigerung»
plausibel; nehmen indessen, wie seit den Athenäums-Fragmenten Schlegels (vgl. 1967) beobachtbar, Dekulturationstendenzen zu, dann werden die kulturellen Codes strittig, die jenen Wertungen zugrunde liegen (vgl. Sahlins 1981, S. 235 ff); die Folgen für die Pädagogik können verschieden sein: Verkindlichung der kulturellen Ansprüche (
«Der Genius im Kinde»
), universalistisch-unhistorische Theorieproduktionen zum Kind-Kultur-Verhältnis, pädagogische Anpassung an kulturell wechselnde Moden, gewalthafte Kriminalisierung/Psychiatrisierung von Code-Abweichungen (Kulturpolitik des Nationalsozialismus), Rückzug in didaktisch-intellektuelle Attitüden (Kunstunterricht als Lesen-Lernen von Waren-Ästhetik), neoklassizistische Verordnung traditioneller Curricula, Herstellung
«alternativer»
Lernfelder für Neu-Codierungen, Erfindung neuer Professionalisierungswege (Studiengänge) für
«Kulturpädagogen»
(vgl. Kulturpädagogik 1987). Damit steht nicht nur die Wertfrage, sondern das sie erst sinnvoll machende System kultureller Klassifikationen und seiner Inkorporierung, der
«Habitus»
, zur Diskussion.
[106:15] Kulturgesellschaft. Ein Begriff von kulturellem Zusammenhalt kann mittels verschiedener gesellschaftlicher Strategien aufrechterhalten werden: über mythische Erzählungen, Alltagsrituale, circensische Inszenierungen, Kirchen, Städte-, Siedlungs-, Kleider- und Armenordnungen oder auch über den universalisierten Warentausch. Daß dieser pädagogisch folgenreich ist, ergibt sich beispielsweise schon aus der Einführung der Dreisatzrechnung in den Kaufmannsschulen der Frührenaissance, unübersehbar um 1800 aus der industriellen Massenproduktion von Spielwaren, der Verbindung von Verkaufs- und Volksbildungsstrategien in den Welt- und regionalen Gewerbeausstellungen des 19. Jahrhunderts, der vom
«Bauhaus»
weitergeführten Entwicklungen des Industrie-Designs, den zeitgenössischen Interieurs und Exterieurs von Wohnungen, Schulen, Spielplätzen, Städten. Angesichts des durch den Markt (Tourismus, Freizeit-Entertainment, museale Großprojekte, Bild- statt Lesekultur) erzeugten
«Veranstaltungscharakters der Kultur»
und abstrakter Teilhabe an
«inszenierten Wirklichkeiten»
(Tenbruck 1986, S. 282)
, die nicht selten den besonderen Sinn eines Exponats im hyperrealen Inszenierungssinn verschwinden lassen, ergeben sich eine
«Fragmentierung der betroffenen und beteiligten Subjekte, die eine |a 907|Identität nur noch zeit- und probeweise zustande bringen»
(Kamper/Wulf 1987, S. 31)
, ein Erfahrungsschwund zugunsten von Ereignisgewinn. Die Passagen des 19. und die Fußgängerzonen gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den Metropolen scheinen, alltagssymbolisch, derartige Beobachtungen und Deutungen ebensogut zu repräsentieren wie, im pädagogischen Feld,
«Friedensprojektwochen»
, die Präsentation von
«Spurensuche»
regionaler Kulturgeschichte, die Volksbildungsveranstaltung der Kasseler
«Documenta»
oder für Freizeit-Animationen ausgebildete Diplom-Pädagogen. Kultur scheint also zu einem ausgezeichneten Medium der Vergesellschaftung des Menschen zu avancieren, ohne allerdings an seine materielle Lebenspraxis und also auch seine individuelle Lebensgestalt (
«cultura animi»
) zuverlässig rückgebunden zu sein. Werckmeister (vgl. 1988) nennt diesen, sich gegen kritische Impulse abpanzernden, aber gleichwohl abstrakt-vergesellschaftenden, aktuell-kulturellen Typus treffend
«Zitadellenkultur»
.
[106:16] Kulturpädagogik. In zwei Hinsichten ist dieser Ausdruck obsolet: Erstens: Gattungsgeschichtlich läßt sich keine Bemühung um das Heranwachsen der je nächsten Generation denken, die nicht wesentlich eine Einübung in die kulturellen (symbolischen) Repräsentationen der jeweiligen gesellschaftlichen Formation wäre; insofern handelt es sich also um einen Pleonasmus, denn: was könnte eine erzieherische Bemühung anderes bezwecken als die Teilhabe an der je gegebenen Kultur? – Zweitens: Aktuell würde, wenn die referierten Thesen zur
«Kulturgesellschaft»
zutreffen sollten, Kulturpädagogik nur bekräftigen, was ohnehin geschieht, freilich verdoppelt in einer Art pädagogisch gemeinter Unterhaltungsindustrie, in Schulen, Ferienlagern, Museen, Volkshochschulen, Spielplätzen; unschädlich zwar, aber keiner besonderen ⟶ Professionalisierung, zumal keiner dafür zu erfindenden
«Theorie»
bedürftig. Damit wäre allerdings suspendiert, wie das Problemfeld zwischen Subjektivität und Kulturation argumentationszugänglich zu machen sei. Das aktuelle Projekt einer
«Kulturpädagogik»
hat also, zwischen Phänomenologie und Habitus-Theorie, mindestens mit Schwierigkeiten zu rechnen. Bleiben überhaupt noch Problemstellungen verfügbar, die
«pädagogisch»
genannt werden dürfen und anderes sind als Beschreibungen dessen, was der Fall ist? Mindestens bleibt – für Pädagogen, die auch der Kulturgeschichte in der Regel immer ein Stück hinterhereilen – die Aufgabe, der nachwachsenden Generation die Lesbarkeit der kulturellen Symbolwelten zu erschließen (vgl. Frank 1977). Das impliziert semiologische Arbeit von Pädagogen und Kindern. Semiologisch kann aber nur tätig sein, wer die kulturellen Zeichen letzten Endes noch einem sinnlichen Substrat zurechnen kann (vgl. Barthes 1964), das Design der Funktion, das objektive Produkt dem subjektiven Ausdrucksbedürfnis, |a 908|die
«vitae cultura»
der
«cultura animi»
konfrontieren kann. Das aber ist, erziehungswissenschaftlich gesprochen, nichts anderes als die allgemeinste Fassung der Bildungsaufgabe.
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