Brief an Jürgen Blandow aus dem Jahr 1989 [Textfassung a]
|a 15|

Brief an Jürgen Blandow aus dem Jahr 1989

[V90:1]
Pädagogisches Seminar der Universität 3400 Göttingen,
Prof. Dr. Klaus Mollenhauer Hainholzweg 32
Ruf 41589
[V90:2] Herrn Professor
Dr. Jürgen Blandow
Universität Bremen
Fachbereich 12
Postfach 330440
2800 Bremen 33
[V90:3] Karfreitag 1989
[V90:4] Lieber Herr Blandow,
herzlichen Dank für Ihren Brief und den Text Ihres Referats. Ihre Frage stürzt mich allerdings in Verlegenheit. Unsere
Diagnose
-Idee ist methodisch noch unausgeführt. Wir haben es nach der Manier der alten Meisterlehre gemacht: Zunächst beliebige Texte oder Textausschnitte von Jugendlichen, die ich interpretierte, dann haben die beiden Mitarbeiter versucht, es nachzumachen, dann haben wir die entstandenen Deutungen diskutiert, dann sie verbessert usw. Dennoch blieb das ganze nicht pure
Intuition
, sondern es konturierten sich einige Regeln. Und die will ich nun einmal versuchen aufzuschreiben.
[V90:5] Zweierlei möchte ich vorausschicken:
  1. [V90:6]
    1.
    Ich glaube nicht, daß
    strenge
    Methodik in diesem Feld das halten kann, was sie anderenorts mit guten Gründen verspricht. Die Verfahrensregeln lassen sich eigentlich nur im Sinne von Maximen formulieren. Jede Pedanterie führt allzu leicht zu zwar detaillierten, aber irrelevanten Ergebnissen. Das Wichtigste scheint mir – peinlich zu sagen – in
    kontrollierter Einfühlung
    zu bestehen (ähnlich wie bei der Interpretation von Kunstwerken).
  2. [V90:7]
    2.
    Das meiste daran – davon bin ich überzeugt – ist Übung, und zwar an immer anderen Materialien. Meine beiden Mitarbeiter haben sich einen Teil der Übung in ihren Examensarbeiten verschafft: der eine durch die |a 16| Interpretation von Kinderspielzeug, der andere durch die Interpretation einiger Texte von Salzmann. Im übrigen haben wir viel autobiographische Literatur studiert.
[V90:8] Aber nun zu den
methodischen
Fragen, zu unseren
Regeln
:

1. Prämissen, Annahmen, Unterstellungen

  • [V90:9]
    Wir vermeiden, soweit es geht, kausal-analytische Konstruktionen, die in die Vergangenheit des Jugendlichen zurückreichen.
  • [V90:10]
    Wir interessieren uns also weniger dafür, ob X die Ursache für Y ist, als vielmehr dafür, wie die Bedeutung von X mit der Bedeutung von Y zusammenhängt (daran können Sie eine gewisse Nähe zu zeichentheoretischen und strukturalistischen Interessen erkennen).
  • [V90:11]
    Wir nehmen an, daß es im Hinblick auf Jugendliche unserer Fallgruppe, im Hinblick auf ihre Lebenssituation, weniger wichtig ist, ihren Lebenslauf datengenau zu kennen als vielmehr die
    symbolisierenden
    Repräsentanzen ihres derzeitigen Erlebens.
  • [V90:12]
    Als Indikatoren für dieses
    Selbst- und Welterleben
    (Sie bemerken hier sicherlich – um einen theoretischen Hinweis zu geben – eine gewisse Nähe zur Phänomenologie und Lebensweltanalyse) sind uns besonders wichtig: Vorlieben für und Abneigung gegen bestimmte Tätigkeiten, also gleichsam
    körpernahe
    Informationen; die Lebhaftigkeit, Farbigkeit, Bewegtheit von Situationsschilderungen; die verwendeten Metaphern; die stereotyp bleibenden Gesprächsbestandteile; die lustvoll oder eher unangenehm erinnerten Erzählteile.
  • [V90:13]
    Schließlich unterstellen wir, daß jeder Jugendliche mit einer begrenzten Zahl relevanter Lebensthemen beschäftigt ist, daß es also zwischen den vielen von ihm mitgeteilten Erinnerungen, Beschreibungen, Projektionen thematische Verwandtschaften gibt.
[V90:14] Das mag vorerst genug sein. Sie sehen also: unsere Voraussetzungen bewegen sich in einem Feld relativ selbstverständlicher pädagogischer Bildung, wenngleich natürlich die Stichworte theoretisch detaillierter ausgeführt und begründet werden könnten. – Nun zu den
Regeln
für die Interviews bzw. Gespräche mit den Jugendlichen.

2. Gesprächs-Regeln

[V90:15] Dies ist das Schwierigste, denn wir können keine eindeutig reproduzierbaren Regeln angeben, höchstens – wie gesagt – einige grobe Maximen. Das dies den Sozialforscher stören könnte, stört uns nicht, und zwar aus folgendem Grund: Wir haben zwar ergiebige und weniger ergiebige Gesprächsprotokolle, aber keins, das völlig unergiebig wäre – obwohl die Gespräche zum Teil von Leuten geführt wurden, die unsere Vorüberlegungen nicht kannten. In einem Fall, als ein Gespräch mit einem Jugendlichen nicht möglich war, haben wir einen Schulaufsatz von ihm interpretiert; später, als |a 17|er zu einem Gespräch bereit war, zeigte sich, daß die Deutung des Aufsatzes in der gesamten Tendenz richtig war. Daraus folgern wir allerdings nicht Beliebigkeit in jeder möglichen Richtung von
Protokoll-Produktion
. Daß tatsächlich Gespräche stattfinden, ist wesentlich – und wie sie geführt werden, ist für das Verstehen des Jugendlichen keineswegs unerheblich. Also arbeiten wir mit folgenden Regeln:
  • [V90:16] Dauer des Gesprächs: mindestens 60, höchstens 90 Minuten (d.h. 20 – 30 Seiten transkribiertes Gesprächsprotokoll). Diese Zeitangaben sind grob kalkulierte Erfahrungswerte.
  • [V90:17] Setting: Privates Ambiente; vertraute Dialog-Situation
  • [V90:18] Wichtig scheint ein interessierender Gesprächs-Fokus zu sein. In unserem Fall war es die erwartete/erhoffte/befürchtete/gewünschte etc. Teilnahme an dem
    Erziehungskurs
    . Es muß dem Jugendlichen plausibel sein, das der Gesprächspartner nicht aus irgendeinem anonymen Sozialforschungs- oder Begutachtungsinteresse mit ihm spricht, sondern an der Zukunft dieses Jugendlichen wirklich interessiert ist. Wir hatten und haben den Vorteil, daß wir ein solches Interesse nicht zu simulieren brauchten, denn uns ist an dem Erfolg der Erziehungskurse sehr gelegen.
  • [V90:19] Thematische Streuung der Gesprächsinhalte: Das geht nur mit
    Fingerspitzen-Gefühl
    , mit Takt gegenüber dem Jugendlichen – und ist schwer organisierbar. Unsere Erfahrung: mit dem
    Fokus
    beginnen, oder wenn das nur wiederholende Rhetorik sein sollte, mit Lebenserinnerungen (wie alt? woher? Wie war das damals?); auf Chronologie achten, aber nicht darauf bestehen; den Jugendlichen in der Erinnerung hin- und her springen lassen: bei wichtig erscheinenden Themen/Situationen Erzählpassagen nachfragen (
    Wie war das genau, kannst Du Dich noch erinnern?
    Was war denn das Schlimme daran?
    Erinnerst Du Dich noch, wie Du Dich dabei gefühlt hast?
    Und wie denkst Du heute darüber?
    usw.).
  • [V90:20] Besonders wichtig (für uns!): nach Könnens-Erfahrungen fragen. Worin bist Du gut? Was liegt Dir weniger? Wo zeigt sich Selbstsicherheit, wo Unsicherheit oder Ängstlichkeit. Dies mit Berufsphantasien verknüpfen.
  • [V90:21] Grundregel dabei: keine
    Einschüchterungen
    versuchen, etwa durch Hinweis auf
    unrealistische
    Phantasiegehalte. Allenfalls vorsichtiges Zu-Bedenken-Geben, z.B.:
    Glaubst Du, daß Du mit diesem Wunsch klarkommst? Hast Du nicht vorhin gesagt, Du kannst das eigentlich nicht besonders gut?
    usw.
  • [V90:22] Da Beziehungsprobleme sehr häufig nur stereotyp etikettiert werden (Lehrer X konnte mich nicht leiden; mein Vater war ein Schwächling; meine Mutter hat sich nicht um mich gekümmert; Erzieher Y war ein ekelhafter Typ; wenn mir einer dumm kommt, schlag ich zu; der Z war toll, dem konntest Du alles sagen usw. usw.), scheint uns sehr wichtig, hier immer, wenn möglich, um Beispiel-Schilderungen zu bitten.
  • |a 18|
  • [V90:23] Niemals ausdrücklich die Partei der Eltern, Pflegeeltern, Lehrer, Erzieher ergreifen, etwa nach dem Muster:
    Versetze Dich doch mal in deren Lage!
    – aber ebenso: niemals verleugnen, dass man selbst ein Erwachsener ist, der durchaus auch Probleme haben könnte mit
    einem Typ, wie Du es bist
    ! Der erwachsene Gesprächspartner sollte sich als
    vernünftiger Pädagoge
    verhalten, der zwar Ansprüche, Erwartungen hat, diese aber nicht unbedingt
    durchdrücken
    will. Oder anders gesagt: Eine
    laisser-faire
    -Attitüde produziert tendenziell irrelevante Äußerungen des Jugendlichen, eine pädagogisch-pedantische-realistische produziert stereotype.
[V90:24] Sie sehen, das ist alles ziemlich grob gesprochen, auch wohl wenig originell; eigentlich kaum mehr, als was, für mich, der Name
pädagogisch-hermeneutische Einstellung
besagt. Man kann das freilich durch die jüngsten Entwicklungen theoretisch dekorieren: Tiefenhermeneutische Interviews, narrative Gesprächsführung, gesprächstherapeutische Variablen usw. usw. Diese Pflicht-Übung unserer Wissenschafts-Kultur erspare ich mir hier. Ganz unorthodox und freilich sehr angreifbar will ich in diesem Brief nur sagen:
[V90:25] Wenn es mir gelingt, in einem solchen Gespräch mit dem Jugendlichen aufrichtig zu reden; wenn es mir gelingt, für ihn und sein Schicksal Sympathie (Mitleiden) aufzubringen und mich so auf ihn einzustellen, wenn ich weiß, wie schwierig Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Einbildungskraft, Selbstbehauptung und Selbsterhaltung, Lebensentwurf und Resignation bei diesem Jugendlichen ineinander verwoben sind; wenn ich dann vielleicht auch noch einige gute Theorien über psychosoziale Genesen, Interaktionen und die gesellschaftliche Produktion von
Jugendlichkeit
in unserer historischen Lage im Kopf habe – dann können solche Gespräche oder
Interviews
nicht schiefgehen. (Meine Idealvorstellung besteht allerdings darin, daß derartige Gespräche durch Beobachtungen ergänzt werden, besonders auch durch
ästhetische Produktionen
der Jugendlichen, sei dies nun Kleidung, Frisur, ihre Körperbewegung, ihre zeichnerischen oder malerischen Versuche, ihre Musikvorlieben usw. usw.)

3. Interpretationsregeln

[V90:26] Liegt das derart hervorgebrachte Protokoll-Material (ein wörtliches Transkript ist unerläßlich) vor, dann ist zu fragen, wie man es interpretiert (deutet, auswertet, analysiert). Die
Dimensionen
oder
Kategorien
oder wie man sonst so etwas anspruchsvoll zu nennen beliebt, also jedenfalls unsere Gesichtspunkte sind unter
1. Prämissen ...
eigentlich schon formuliert. Dennoch lassen sich einige darüber hinausgehende oder präzisierende Maximen angeben. Z.B.:
  • [V90:27] Negativ gilt, daß keine psychologischen Konstrukte, und wenn, dann nur höchst vorsichtig, ins Spiel gebracht werden (man muß sie freilich ken|a 19|nen, um keine schlimmen Fehler zu machen). Außerdem gilt negativ, daß die mitteleuropäisch-gegenwärtigen Standarderwartungen und Chancen für Jugendliche nicht zum unreflektierten Bezugs- oder Fluchtpunkt der Deutungen gemacht werden. Man muß sich, in Solidarität mit den Jugendlichen, auch
    archaische
    Projekte gestatten
  • [V90:28] Das setzt für die Interpretation voraus, daß man über einige Kenntnis der Geschichte der Lebensdeutungen (europäisch und voreuropäisch, gar archaisch, auch ethnologisch usw.) verfügen sollte. In dieser Hinsicht sind wir noch ziemlich ungenügend. Wir können uns gerade noch mit dem Bildungssinn vorindustrieller Tätigkeiten vertraut machen. Aber eigentlich müßte man da tiefer gehen (z.B.: Ist
    Trebe
    die moderne Variante der
    Bildungsreise
    oder verwandt mit Parsifal, Odysseus, mit mittelalterlichen
    Vaganten
    etc. ? Mir sind solche Fragen pädagogisch ziemlich wichtig.)
  • [V90:29] Beide Maximen stehen im Dienste der Annahme, daß die
    Lebensthemen
    der Jugendlichen und ihre Selbstentwürfe (vgl. Sartre) im Zwischenfeld zwischen Begehren und Realitätsanpassung liegen (das ist freilich trivial). Daraus, wenn man das nicht nur als wohlfeile wissenschaftliche Rhetorik versteht, folgt für die Interpretation: Jeder Begehrenshinweis (der theoretische Hintergrund dafür liegt, wie sie wissen, irgendwo zwischen Buñuel, Lacan, Mannoni, Beuys usw.) ist deshalb ernst zu nehmen, insbesondere dann, wenn er mit leibhaften Tätigkeiten, Vorlieben oder Ängstlichkeiten verknüpft ist; jeder Realitätshinweis ist ernst zu nehmen als ein Kompromißbildungsversuch, in dem das Begehren aufgehoben/transformiert oder auch verleugnet werden kann (wie die schnelle Antwort mancher Jugendlicher: Na ja – ich mache nun den Hauptschulabschluß – wir wissen, daß er schon dies nicht schaffen wird – dann Berufsgrundbildungsjahr und dann werde ich Kfz-Mechaniker).
  • [V90:30] Für die Interpretation folgt daraus die Maxime: Wir versuchen, das Begehren gegen die
    Realität
    geltend zu machen, – und wir versuchen, die möglichen Realitätsspielräume im Lichte des Begehrens zu ermitteln.
  • [V90:31] Diese Maximen im Kopf, gehen wir in der Text-Deutung bzw. Text-Transformation in drei Schritten vor. Auch diese Schritte sind, ihrer formalen Regel nach, nicht originell. Sie finden sich, von Schleiermachers Hermeneutik bis zur qualitativen Sozialforschung, überall wieder. Wir machen davon allerdings einen relativ trivialen Gebrauch – was uns solange nicht geniert, als dabei passable Ergebnisse herauskommen (wir sind also nicht, wie beispielsweise Oevermann und andere, an einer irgendwie eindrucksvollen Theorie sozialwissenschaftlicher Interpretation interessiert, sondern nur an der praktischen Relevanz dessen, was die Geschichte der Hermeneutik schon lange bereithält). In diesem Sinne also operieren wir mit drei Transformationsstufen, und zwar im Hinblick auf den praktischen Zweck, eine Empfehlung für die Hilfe auszusprechen, die dem Jugendlichen gegeben werden könnte. Darüber hinaus haben wir keinen theoreti|a 20|schen oder szientifischen Ehrgeiz (das ist nicht unwichtig, auch und besonders meiner eigenen wissenschaftskritischen Einstellung wegen). Also:
  • [V90:32] Erster Schritt: Aus dem transkribierten Gesprächsprotokoll exzerpieren wir alles, was irgendwie thematisch interessant sein könnte. Wir ordnen das, relativ naiv, nach den auffälligen Erzählteilen des Jugendlichen und deren
    Gegenständen
    . Die Ordnung folgt nicht der Chronologie des Gesprächs, sondern der Thematik, in der Art eines Problemprotokolls (also z.B.: Mutter und Vater, Erwachsene überhaupt, Schule und Institutionen, Weglaufen oder Bleiben, Freunde, Berufswünsche, Beziehung zu Gleichaltrigen, eigene Fähigkeiten, Selbstkritik, Heim X, Pflegestelle Y, Psychiatrie Z, Schulschicksale usw.). Dies alles ungeordnet, d.h. nicht systematisiert, quer über das ganze Protokoll, der Diktion des Jugendlichen einerseits und der behutsam ordnenden Fähigkeit des Interpreten folgend. Das ergibt in der Regel 10 – 20
    kleinthematische
    Einheiten, nicht mehr als 5 – 6 Seiten; aber noch ganz beschränkt auf die jeweils wichtigsten wörtlichen Zitate, ohne Interpretationen. Die Interpretationsleistung in diesem Schritt besteht nur in der klein-thematischen Ordnung. Pro Gesprächsprotokoll beträgt die dafür aufzuwendende Arbeitszeit (bei ca. 25 Seiten Material) ungefähr 5 Stunden bei mir, gut das Doppelte bei den Mitarbeitern (man muß die Protokolle mehrfach lesen, vor und zurück, mit Randnotizen, Unterstreichungen usw.).
  • [V90:33] Zweiter Schritt: Jetzt haben wir also einen Text von ca. 5–7 Schreibmaschinenseiten (manchmal weniger), geordnet in 10–20
    Items
    , jedes
    Item
    dokumentiert durch wörtliche Zitate aus dem Transkript. Es kommt nun darauf an, aus dieser Sammlung das herauszulesen, was wir
    Lebensthemen
    nennen. Unsere (ziemlich pragmatische) Regel: mindestens drei, höchstens fünf sollten es sein. (Fragen Sie mich nicht, warum gerade diese Zahlen: Lebenserfahrung!) Innerhalb dieser altväterlichen
    Regel
    aber sollte es strenger zugehen: Jedes der identifizierten Lebensthemen muß durch wörtliche Verweise auf die im ersten Schritt mitgeteilten Protokollzitate belegt werden. Und an ihnen muß außerdem erwiesen werden, daß sie die Vielfalt der im ersten Schritt ermittelten Mitteilungssorten zu integrieren vermögen. Das ist eine schwierige Prozedur, weil nun die Deutungsfähigkeit des Interpreten voll ins Spiel kommt. An dieser Stelle möchte ich folgende Maximen geltend machen: (1) Allergrößte Zurückhaltung gegenüber handelsüblichen Theorien, allerdings ohne sie zu ignorieren, also keine subsumtionslogischen Kurzverfahren; (2) immer wieder Rückgriff auf das Primärmaterial, sich (methodisch) mit dem Jugendlichen identifizieren, seine Redeweise, seine Metaphorik, seine Projektionen sich (methodisch) zu eigen machen; (3) sich nicht scheuen, eigene Assoziationen, auch geschichtliche, archaische Erinnerungen ins Spiel zu bringen; (4) nun aber doch die Verträglichkeit mit bekannten
    Theorien
    , mit sozialwissenschaftlicher Kenntnis usw. prüfen – und erst |a 21|dann (5) die lebensthematische Deutung niederschreiben. Das Ganze ist wahrhaftig nicht mehr als ein aufgeklärtes, ein gebildetes Ratespiel. (Ich halte übrigens alle, die behaupten, wir könnten mehr oder gar Zuverlässigeres leisten, für Scharlatane! Gerade, während ich diesen Brief schreibe, höre ich die Johannis-Passion von Bach: das ist auch so ein Ratespiel, wenngleich auf die Gattung bezogen; das eine ist so wichtig wie das andere!! Und beides hat miteinander zu tun!) Jedenfalls: dieser zweite Schritt, die
    lebensthematische Diagnose
    sollte drei oder vier Seiten umfassen, nicht mehr. Das ist mir wichtig, weil ich fürchte, daß alle mögliche Praxisrelevanz verspielt wird, wenn wir uns an dieser Stelle wissenschaftlicher Geschwätzigkeit überlassen. Nach meinen Erfahrungen brauche ich für diesen zweiten Schritt zwischen 5 und 10 Stunden Arbeitszeit. Dabei ist der Teilschritt (3) der schwierigste. Ich merke da immer wieder, wie dürftig und unzureichend unsere Ausbildung (auch meine eigene) ist und wie anmaßend, die Themen des Lebens eines anderen wirklich verstehen zu wollen. Aber diese skeptische Selbstkonfrontation ist, für mich jedenfalls, wissenschaftlich ziemlich produktiv.
  • [V90:34] Dritter Schritt: Dieser letzte Schritt ist nun theoretisch völlig unbelastet. Hier ist nur noch, wenn ich so sagen darf, lebensweltliche Phantasie vonnöten. Wir versuchen, aus den verschiedenen Erinnerungen und Perspektiven – sie müssen nicht
    perspektivisch
    sein, mit identifizierbaren Fluchtpunkten und dergleichen, sondern dürfen auch schweifen, ohne gestaffelte Tiefen usw. , wie man das seit Cezanne in der Malerei kennt ... Ich verwende das Wort
    Perspektive
    also in dem Sozialwissenschaftlichen Modesinn als
    irgendwie
    auf Zukunft gerichtetes und bin damit nicht gerade zufrieden – wir versuchen also aus derartigem Phantasie-Material eine pädagogische Empfehlung zu machen, den Umriß einer sinnvollen
    Tätigkeits-Figur
    . Das ist eine schwierige und riskante Aufgabe. Man muß hier nun alles zusammenbringen: die Kenntnis des Jugendlichen, die mögliche pädagogische oder therapeutische
    Potenz
    von Tätigkeiten, die eigenen Erfahrungen und Vermutungen, ihr Verhältnis zu dem, was gesellschaftlich realistisch genannt werden mag usw. Es ist aber der eigentlich pädagogische Schritt; denn wir müssen (oder wir sollten) ja eine Entscheidung treffen im Hinblick darauf, was morgen (wörtlich!) diesem Jugendlichen ermöglicht werden sollte (ihn in eine Einrichtung überweisen, hieße ja nur, nicht konkret entscheiden, was gut für ihn wäre, sondern abwarten, was geschieht – das übliche Spiel). Ich bin so arrogant zu behaupten: Das versammelte Arsenal von Kriminologie, Psychiatrie, Sozialpsychologie, Psychoanalyse, Sozialpädagogik, Soziologie etc. ist nicht in der Lage, einen manierlichen Vorschlag zu machen. Sie empfehlen nur abstrakt-institutionelle Versorgungsmodi. In einer solchen Lage ist es nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten, konkrete (wie auch immer falsche) Vorschläge zu machen und diese Vorschläge gegen andere zu verteidigen. Wenn mir, nach guter Kenntnis ei|a 22|nes Jugendlichen, sinnvoll scheint, daß man ihm DM 800,-- monatlich zahlen soll, damit er auf
    Trebe
    (Bildungsreise) gehen kann (das wäre entschieden weniger als ein Viertel dessen, was wir für Heimunterbringung zu zahlen hätten), dann bin nicht ich (mit meiner vielleicht intellektuell-ärmlichen Phantasie) für den Sinn der Maßnahme rechenschaftspflichtig, sondern der, der vier oder fünfmal soviel bezahlen will, ohne zuverlässiges prognostisches Wissen – von der Wissenschaft ganz zu schweigen. Also: In diesem dritten Schritt sind pädagogische Phantasien erlaubt, weil niemand klüger ist. Wir müssen diese Phantasien/Vorschläge/Empfehlungen/prognostischen Vermutungen wagen, auch wenn sie als konkretistisch etikettiert werden mögen, wenn wir aus dem abstraktifizierenden Kreislauf der Institutionen herauskommen wollen. Also: Am Ende, als dritter Schritt, eine pädagogische Folgerung im Hinblick auf das, was (als problemorientierte Tätigkeit) dem Jugendlichen helfen könnte. Keine Angst vor Fehler-Risiken! Die Fehlerquoten der anderen sind mindestens gleich groß!
[V90:35] Na – das war ein ziemlich langer Brief, lieber Herr Blandow! Der Länge haben sie vielleicht mein Engagement entnommen. Ich habe bei der Gelegenheit auch endlich einmal (Dank sei Ihrer Frage!) zu formulieren versucht, welches eigentlich unsere Prinzipien oder Maximen sind. Es hat mir auch wohlgetan, gerade Ihnen zu schreiben, dachte ich doch schon seit langem, daß Sie meinen wissenschaftlichen Bemühungen eher skeptisch gegenüberstehen. Vielleicht habe ich nun die Skepsis eher verstärkt. Das wäre dann mein Risiko.
[V90:36] Mit herzlichem Gruß
Ihr
Klaus Mollenhauer
[V90:37] Anlage
[V90:38] (Alle Hervorhebungen im Original)