Die ästhetische Dimension der Bildung
Zur Einführung in den Themenkreis
-
–[111:2] Seit einigen Jahren schon gibt es Bemühungen, Fragen der„Ästhetik“, der„ästhetischen Erziehung“, der„ästhetischen Bildung“wieder zu fundieren in dem, was der Wortsinn ursprünglich besagte: in der Sinnentätigkeit überhaupt als einem Felde menschlicher Aneignung und Entäußerung, angesiedelt in den Erfahrungszonen zwischen Wahrnehmung und Kunst, von der gesagt wird, ihre Beurteilung sei„abgelöst von den Vorgängen ihres Entstehens wie den verwandten Vorgängen im übrigen Leben“(Zur Lippe 1987, S. 7)
-
–[111:3] Bekräftigt wird diese Suchbewegung durch die Erfahrungen der verschiedenen ästhetischen Therapien. Sowohl in den Berichten über bildnerische als auch in denen über musikalische therapeutische Praxis spielt der„Kunst“-Charakter der verwendeten oder hervorgebrachten Produkte eine verschwindend geringe Rolle. Ästhetische Tätigkeit wird als leibseelische Äußerung verstanden, in der sprachlich schwer zugängliche emotionale Gehalte zum Ausdruck kommen können und so der therapeutischen Bearbeitung zugänglich werden. Die Vermutungen hier reichen durchaus in fundamentale Schichten des Bildungsprozesses hinein, halten aber Distanz zu solchen Annahmen, die der ästhetischen (Kunst-)Erfahrung ein psychologisch unvergleichliches Anderssein zuschreiben.
-
–[111:4] Die zu beobachtende und in der letzten Zeit oft kommentierte Verbilderung der Welt, desgleichen die Allgegenwart der Unterhaltungsmusik folgt dem gleichen Habitus: Bild und Ton erscheinen als„Sprachen“, in deren Medium Informationen, Vorstellungen, Imagines transportiert werden, und zwar so, daß sie zugleich als Chiffren für Inneres gelesen werden können, real oder irreal, wahrhaftig oder ideologisch, authentisch oder stereotyp.
-
–[111:5] Verständlich ist, daß dies die Kunstdidaktik veranlaßt – in Gegenbewegung gleichsam zur Kunsttherapie –, ihr Ziel in einer, wenn auch besonderen,„ästhetischen Rationalität“zu suchen, in einer Weise des Erkennens gar, im Verstehen und Auslegen der ästhetischen Produkte der kulturellen Umwelt |a 466|(Otto/Otto 1987). So wie die Ubiquität der Rechnung im Kaufmannshaushalt der Frührenaissance zu einem Curriculum der bürgerlichen Rechenarten führte, so führt die Ubiquität des„Ästhetischen“in unserer Kultur zur Kunstdidaktik.
-
–[111:6] Von der kunstgeschichtlichen Seite herkommend schien gelegentlich, besonders für kritische Pädagogen, die Idee der Avantgarde bestechend: ästhetische Erfahrung sei die Verarbeitung der Konfrontation mit Neuem, sei so etwas wie Durchbrechen – oder welche Metaphern sonst dafür in Anspruch genommen werden – von Seh- und Hörgewohnheiten, sei die Eröffnung zukunftsfähiger Perspektiven von Welt- und Selbstwahrnehmung; das schien für die Theorie der Bildung relevant zu sein. Heute aber ist die Avantgarde klassisch, ihre Neuigkeiten sind museal, auf die nächste Pointe ist jedermann gefaßt; daß ästhetische Produkte schrecklich sein können, das Schreckliche schön zur Darbietung kommt, ist inzwischen bürgerlicher Bewußtseinsbesitz.
-
–[111:7] Schließlich hat im letzten Jahrzehnt sich ein breites Feld außerschulischer pädagogisch-ästhetischer Tätigkeiten entfaltet, in den pädagogisch-didaktischen Abteilungen von Museen, in Kulturzentren, der ambulanten Betreuung kulturell benachteiligter Regionen, Kindermalschulen, auch in den unzähligen„Selbsterfahrungs“-Aktivitäten, in denen immer häufiger weniger das Wort als vielmehr die Erfahrung im ästhetischen Medium zu dominieren scheint. Allmählich kommen solche Aktivitäten aus dem Genre bloßer Praxis-Berichterstattung heraus und beginnen mit dem Versuch, sich auch theoretisch zu konturieren und zu legitimieren (so etwa Liebich/Zacharias 1987).