Die vergessene Dimension des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie [Textfassung a]
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Die vergessene Dimension des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie

[114:1] Der Titel ist leichtfertig formuliert. Ob der merkwürdig substantivische Ausdruck
das Ästhetische
überhaupt sinnvoll ist, darf bezweifelt werden. Selbst wenn man gelten ließe, daß es sich dabei um ein nicht gerade glücklich gewähltes Synonym für Kunst handeln könnte, bleibt ziemlich ungewiß, ob das Gemeinte als
Dimension von Erziehungs- und Bildungsvorgängen
oder auch ihrer Theorie gelten könne; das ist, wie mir scheint, nichts weniger als plausibel; und die Behauptung schließlich, daß der im Titel
Dimension
genannte Teil der Bildung oder ihrer Theorie bisher
vergessen
wurde, kann mit einer ganzen Reihe von Hinweisen entkräftet werden. Gerade in dieser Hinsicht schleicht sich die Skepsis von zwei Seiten her an: von der professionellen Kunst-Didaktik bis zum gelegentlichen Psycho-Kitsch mit dem Namen
Selbsterfahrung
wimmelt es in Literatur und Praxis von angeblichen ästhetischen Ereignissen. Keine Rede also von Vergessen! Aber auch in einem ganz anderen Sinne dürfte – so ein entgegengesetzter Einwand – von Vergessen nicht die Rede sein: es gibt gute Gründe dafür, Pädagogik und Kunst strikt auseinanderzuhalten, die Grenzen nicht zu verwischen, sondern streng zu ziehen, die Differenz zwischen dem, was Kindern zugemutet werden darf, und dem, was Erwachsene sich abverlangen können, nicht zu verleugnen. Wenn also in dem jüngsten Versuch, eine
Allgemeine Pädagogik
zu schreiben (Benner 1987), die Kunst fast nur als Vokabel am Rande vorkommt, dann ist das vielleicht eine gerechtfertigte Selbstbeschränkung und nicht im mindesten ein
Vergessen
.
[114:2] Aus derartigen selbstverschuldeten Schwierigkeiten muß ich mich nun herausargumentieren. Ich beruhige mich vorerst damit, daß, da das Verhältnis von Kunst und Pädagogik schon immer glücklos war, auch ich aus der Schwierigkeit dieser Konnotation nicht werde ausbrechen können. Ich suche Trost bei Rousseau, einem beliebten pädagogischen Aufenthaltsort. In einer seiner Schriften über Musik aus dem Jahre 1753 heißt es:
Die Töne einer Melodie wirken auf uns nicht nur als |a 4|Töne ein, sondern auch als Zeichen unserer Bewegungen und Gefühle. Nur so ist es möglich, daß sie in uns die in ihnen ausgedrückten Gefühle erregen und wir dessen Darstellung erkennen
(Rousseau 1984, S. 145 f.)
. Robert Schumann bekräftigte das:
Das wäre eine kleine Kunst, die nur klänge, und keine Sprache noch Zeichen für Seelenzustände hätte!
(Schumann 1988, Bd. 1, S. 34)
. Wenn das so ist, und gar in der Musik, die im Hinblick auf Zeichen und Bedeutung die wohl schwierigsten Probleme aufgibt, wenn selbst sie Affekte, Gefühle, Seelenzustände nicht nur signifiziert, sondern in Bewegung bringt, dann ist der Weg von der Pädagogik zur Kunst vielleicht doch hin und her begehbar – denn welcher Pädagoge wollte nicht Seelenzustände in Bewegung bringen, solange sie moderat bleiben? Aber ist das so?
[114:3] Am Ende meines Textes werde ich in dieser Frage kaum klüger sein, denn mein Beitrag zum Problemfeld beschränkt sich auf drei mögliche Nahtstellen zwischen dem, was ich im folgenden
ästhetische Ereignisse
nenne, und dem, was schon im Titel
Erziehung und Bildung
heißt: Hoffnungen in der Vergangenheit im Hinblick auf die bildende Wirkung ästhetischer Ereignisse (1), das kritisch gemeinte Projekt einer kulturell-ästhetischen Alphabetisierung des gesellschaftlichen Nachwuchses (2) und die gebrochene Perspektive im Hinblick auf die möglichen Verschränkungen zwischen ästhetischen Ereignissen und solchen, die wir Bildung nennen (3).

1. Hoffnungen

[114:4] Der zeitweilige Freund Jean-Jacques Rousseaus, Denis Diderot, hätte der eingangs zitierten Behauptung zum Zeichencharakter musikalischer Ereignisse gewiß zugestimmt. Allerdings sah er Begründungsschwierigkeiten. Fünf Jahre früher nämlich, 1748 in den
Allgemeinen Prinzipien der Akustik
, diskutiert er die empirisch leicht zugängliche Beobachtung, daß ein und dieselbe musikalische Figur oder Tonfolge in verschiedenen Weltgegenden völlig anders erlebt wird. Um der Sache auf den Grund zu kommen, empfiehlt Diderot:
[114:5]
Bei allen Mutmaßungen über Dinge, bei denen unsere Sinne eine Rolle spielen, muß man ins Auge fassen: den Gegenstand; den Zustand der Sinne; das Bild (image) oder den Eindruck, der dem Geist vermittelt wird; die Beschaffenheit des Geistes in dem Augenblick, wo er diesen Eindruck empfängt; das Urteil, das er darüber fällt
(Diderot 1984, I, S. 18)
.
[114:6] Damit sind, ungefähr, diejenigen Dimensionen angegeben, nach denen man auch heute eine wissenschaftliche Untersuchung zur bildenden Wirkung ästhetischer Ereignisse organisieren würde. Aber was ist der
Gegenstand
? Zwar heißt es:
Der Gegenstand der Musik ist der |a 5|Ton
(S. 20)
; aber
der Ton
war für Diderot ein Moment innerhalb des seit Erfindung der europäischen Notenschrift organisierten
musikalischen Materials
, wie wir heute sagen. Und der Mathematiker Diderot konstruierte dazu eine Fortschrittslinie von Pythagoras zu Rameau, in der die
Barbaren
eher das Einfache, die Modernen dagegen eher das Komplizierte bevorzugen
(vgl. S. 19)
.
[114:7] Gut zehn Jahre später, nun allerdings in bezug auf Malerei, beginnt ihm die Vorstellung eines universalen Kanons des ästhetischen Materials zu schillern. In den Rezensionen zu den
Pariser Salons
, den periodischen Ausstellungen moderner Malerei im Louvre, zeigt er sich zwar begeistert von Vernet und Greuze, von deren realistisch-bürgerlichen Sujets, deren ästhetisches Material allerdings – wie bei Rameau – noch mit kulturell vertrauten Inhalten der Einbildungskraft operiert; Chardin dagegen scheint ihm etwas ganz anderes zu sein: Es blitzt bei Diderot – wenn ich so sagen darf – die Frage auf, ob unsere ästhetischen Urteile nicht im Gehäuse von Präferenzen und Gewohnheiten, im kulturell relativen ästhetischen Material befangen sein könnten. Er tut sich schwer mit der Erläuterung dieses Problems und erkennt sehr wohl, daß das, was nach den eingespielten Regeln kultureller Mode oder historisch bestimmten ästhetischen Geschmacks gefällt und Beifall verdient, nicht identisch sein muß mit dem, was eine bildende Wirkung hat. Eben dies glaubte er an Chardins Bildern erfahren zu können – und erfährt dabei seine eigene Spracharmut: an den Bildern Chardins erfahre man
die Magie der Farbe
(Diderot 1984, I, S. 376)
! Eine erstaunliche Formel für den sonst so resoluten Aufklärer.
[114:8] Mit
Pädagogik
aber hatte das nichts zu tun. Ästhetische Ereignisse von dieser
magischen
Art spielten in Diderots Vorschlägen für öffentliche Bildungseinrichtungen denn auch nicht die mindeste Rolle; auch die pädagogische Praxis der Maler-Akademien war ihm suspekt; er empfahl den angehenden Künstlern statt dessen die visuelle Auseinandersetzung mit dem Alltag der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Diderot 1984, II). Ästhetische Ereignisse sind offenbar eine Sache für Erwachsene. Sie zu pädagogisieren ist sentimentaler Quark.
[114:9] Probleme, die die Autoren ästhetischer Ereignisse oder Produkte haben, und Probleme, die Pädagogen mit ihrer Klientel haben, sind offenbar ziemlich verschieden. Diese Annahme galt jedenfalls jahrhundertelang. Beim Studieren der neuzeitlichen Quellen zur Schulgeschichte habe ich nicht gefunden, daß irgendwann zwischen 1520 und 1820 jemand empfohlen hätte, Holzschnitte Dürers, die Madrigale Hans Leo Haßlers, den
Simplizissimus
Grimmelshausens oder dergleichen in die schulischen Curricula aufzunehmen. Auch gibt es keine Hinweise darauf, daß es vernünftig sein könnte, Kinder in der Form des Unterrichts zu eigener |a 6|ästhetischer Tätigkeit aufzufordern, die mehr oder anderes gewesen wäre als akkurates Zeichnen, das Singen christlicher Choräle oder das gelegentliche Aufführen von Stücken religiösen Inhalts auf der Bühne. Schulen hatten, in jenen Jahrhunderten, Wichtigeres zu besorgen – zum Beispiel die Alphabetisierung und die Einführung in die Grundrechenarten. Selbst Schiller, obwohl von Theoretikern der ästhetischen Bildung immer wieder in Anspruch genommen, dachte nicht anders: Die
Briefe zur ästhetischen Erziehung
sind für die Selbstbildung des Erwachsenen geschrieben, nicht zur Verbesserung der Schulen oder überhaupt des Umgangs mit der jungen Generation. Sätze wie der folgende, im Hinblick auf den Sprachgestus gar nicht so sympathisch,
Es gibt keinen anderen Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht
(Schiller 1960, 23. Brief)
, derartige Sätze sind für spätere pädagogische Leser verführerisch geworden, so als gehöre das Ästhetische in die entwicklungslogische Reihe pädagogischer Machbarkeiten. Aber Schiller hatte weder Piaget gelesen, noch hatte er Derartiges im Sinn. Seine Verwendung des Ausdrucks
Erziehung
stand viel näher dem, was Lessing meinte, als er über die
Erziehung des Menschengeschlechts
schrieb.
[114:10] Schiller wie Diderot sind also, in jenem
pädagogischen Jahrhundert
, nicht so pädagogisch, wie manch einer, zwecks besserer Handhabung der Geschichte, gern hätte. Die von beiden Autoren angesprochenen Probleme – übrigens scheint mir, daß Schillers
Briefe
eine Erläuterung und Begründung dessen liefern, was Diderot, zwischen Sensualismus und ästhetischer Faszination hin- und hergetrieben,
Magie
nannte – setzen das urteils- und handlungskompetente erwachsene Subjekt voraus. Der Schein der Freiheit, im ästhetischen Ereignis, leuchtet nur dem, dem die epistemischen Zumutungen der Verstandesbegriffe vertraut und die Brauchbarkeitserwartungen der gesellschaftlichen Praxis geläufig geworden sind. Das ist nichts für Kinder, sondern ein Problem für unsereins.
[114:11] Indessen: Es gibt mindestens zwei Beobachtungen, die gegen meine apodiktisch formulierte Meinung ins Feld geführt werden könnten: Die Erörterungen Diderots und Schillers waren Bestandteil eines bürgerlichen Konzeptes von Kultur, in dem die Künste einen ausgezeichneten Platz hatten. Insofern nun dieses Konzept als allgemein, als universelles Instrument der Vergesellschaftung gedacht, also auf Teilhabe aller hin entworfen wurde, enthält es natürlich auch einen bildungspraktischen Anspruch, profilierte sich, jedenfalls bei Schiller, als republikanisch und kritisch – obgleich, wie wir wissen, nur ein Bruchteil der Bevölkerung erreicht wurde. Der Widerspruch wird in Diderots Ausstellungsrezensionen selbstanekdotisch pointiert: In der emphatischen Diktion der |a 7|Volksaufklärung, also der allgemeinen Menschenbildung, geschrieben, erschienen sie andererseits in kleinster Auflage zu Luxuspreisen in Grimms
Correspondence
. Aber immerhin: wohlwollende pädagogische Leser der Geschichte haben in jenen Jahrzehnten – bis hin zu Goethes
Pädagogischer Provinz
in den
Wanderjahren
– immer wieder den Beginn dessen gesehen, was 100 Jahre später in die Schulen hineinvermittelt werden sollte. Also doch eine Versöhnung von Kunst und Pädagogik, von Ästhetik und Erziehungsprozeß?
[114:12] Die zweite Beobachtung betrifft den Ausdruck
Magie
und die weiterführenden Argumente Kants und Schillers, nach denen im ästhetischen Ereignis sich eine eigentümliche Freiheit von Verstandeszumutungen und praktischen Handlungszwekken melde.
In Rücksicht auf Erkenntnis und Gesinnung
sei die Stimmung, in die ein ästhetisches Ereignis uns versetzt,
völlig indifferent und unfruchtbar
(Schiller 1960, 21. Brief)
. Derartiges, obwohl in der einschlägigen Literatur selten zitiert, führt zwar nicht geradenwegs, aber doch über Nebenpfade in die ästhetisch-therapeutischen Praktiken unserer Jahrzehnte hinein. Obwohl über liebevoll ausgestaltete Fallbeschreibungen hinaus kaum empirisch kontrollierbare Untersuchungen vorliegen, hält oder bekräftigt sich der Glaube an die heilende Wirkung des Schönen, in Rezeption und Produktion. Das hat – jenseits aller Beweisführung – vielleicht etwas für sich, ist doch die therapeutische oder paratherapeutische Situation unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß der Klient von Erkenntnis- wie von Handlungszwang freigestellt werden soll. Die einschlägig-inflationäre Vokabel heißt denn auch
Reflexion
, ein Vorgang, für den, wenn ich recht sehe, noch keine empirische Prüffigur erfunden worden ist. Dabei wäre gerade dies die Probe! Die seit der Kunsterziehungsbewegung vom Jahrhundertbeginn an geläufigen Ausdrücke
schöpferisch
oder
kreativ
vernebeln eher den für Kinder und Klienten relevanten Sachverhalt, die Frage nämlich, ob überhaupt und was denn genau die vermutete und erhoffte bildende Wirkung sein könnte. Es scheint also, als würde sich, gut 200 Jahre später, die Frage erneuern, ob es eine
Magie
ästhetischer Ereignisse gebe, eine Form der Konfrontation des Menschen mit der Hervorbringung seiner ästhetischen Zeichen oder der Auseinandersetzung mit den ästhetischen Zeichen anderer, die folgenreich ist, nicht nur für seine Kenntnis der kulturellen Umwelten, sondern für die Bildungsbewegung, in der er selbst sich befindet.

2. Lesarten

[114:13] Derartige Fragen haben, seit Beginn der Moderne, die verschiedenartigen
Ästhetiken
hervorgebracht. Und da die Frage, was ein ästhetisches Zeichen als ästhetisches signifiziert, nicht so leicht zu beantworten |a 8|ist, gibt es fast so viele Theorien der Ästhetik wie Autoren in dieser Sache. Es ist deshalb nützlich, einerseits bescheidener, andererseits entschieden historisch zu fragen. Denn: Wenn schon die Beteiligung der Bevölkerungen an den faktischen und möglichen ästhetischen Hervorbringungen der Kultur gewünscht wird, dann stellt sich ein Problem, das dem der Alphabetisierung ähnlich ist: ästhetische Ereignisse müssen
gelesen
werden können, und es ist, unter der Bedingung des Kulturprojektes der Aufklärung, mindestens plausibel, daß eine derartige Lesefähigkeit auch der je nachwachsenden Generation vermittelt wird.
[114:14] Wir sind allemal Opfer beschränkter Lektüre (vgl. zum folgenden Werckmeister 1971, S. 57 ff.): der eine gewinnt seine Kategorien aus den Platonikern oder von Rembrandt, der andere aus der Zwölftontechnik, ein dritter aus der Prinzhorn-Sammlung, ein vierter aus der mehr oder weniger zufälligen musealen Präsenz ästhetischer Dokumente. Diese Beschränktheit, verbunden mit dem Mißtrauen gegenüber universalisierenden Theorien, ist nicht unproduktiv, sofern sie zu historisch-philologischer Kritik führt, zu der Frage, was ein bestimmtes ästhetisches Zeichen im Kontext einer Lebensform, einer gesellschaftlichen Formation bedeutet. Mindestens dies also können wir aus der Historie und ihrer Kritik gewinnen: Universalistische Behauptungen über das Schöne überhaupt, über das Mimetische in der Kunst, über die Wirkung ästhetischer Ereignisse, über die gesellschaftliche Funktion von Kunsterzeugnissen, über die Bedeutung ästhetischer Tätigkeiten von Kindern und so fort sind mit Vorsicht zu genießen. Demgegenüber scheint mir, daß es der Aufklärung dienlicher ist, Fragen wie etwa die folgenden zu stellen: Welche historisch bestimmten Bedeutungen werden durch ästhetische Objekte akzentuiert oder hervorgebracht? Wie profilieren sich solche Bedeutungen im je gegebenen kulturellen Umfeld und für bestimmte soziale Gruppen? Welche Wirkung haben die gleichsam stummen ästhetischen Zeichen unserer Wohn- und Lebensumwelten? Was haben Theorien über das, was Kunst sei oder sein sollte, damit zu tun? Wie muß man eine Punkfrisur lesen und unter welchen Bedingungen ginge das überhaupt? Welches sind die charakteristischen Zeichen eines gesellschaftlich erzeugten Leibhabitus, in welche Medien wird er transformiert, wofür, beispielsweise, können Tanzschritte ein Indikator sein?
[114:15] Die subjektiven, besser wohl die je individuellen Gewißheitserlebnisse, die der Liebhaber ästhetischer Gegenstände beim Betrachten oder die das Kind beim Herstellen derartiger Objekte haben mag, sind eine mögliche Quelle theoretischer Verführung. Da die eigenen Empfindungen für den, der sie empfindet,
evident
sind und Zweifel unangebracht erscheinen, liegt es näher, solche Evidenzerlebnisse zu universalisieren, das heißt sie als zur Natur der Sache und nicht nur der je er|a 9|lebenden Person gehörend zu verstehen; ferner dagegen liegt die kulturtheoretische oder historisch-philologische Perspektive, in der solche primären Gewißheiten eher verfremdet werden. Diese Verführung durch die egologische Gewißheit eigener Erlebnisse wird nun, wie mir scheint, bekräftigt durch eine kulturspezifische Eigentümlichkeit pädagogischer Attitüden: Seit Rousseau versuchte, das Kind so zu beschreiben, als zeige sich an ihm die universelle Natur der Menschengattung, gibt es unter Pädagogen oder pädagogisch interessierten Angehörigen anderer Professionen immer wieder die Neigung, im Kinde so etwas wie das
Ursprüngliche
zu entdecken, das den Wahrheiten unserer Gattung näher sei als die immer schon verformten Wirklichkeiten gesellschaftlich-erwachsener Existenz. Dieser säkulierte Kindheits-Mythos (vgl. Lenzen 1985) – denn natürlich ist der Mythos wesentlich älter als Rousseau – ist für alles
Ästhetische
besonders empfänglich, weil ästhetische Ereignisse zweierlei zu versprechen scheinen: einen unmittelbaren oder ursprünglichen Bezug auf die Sinnlichkeit des Menschen als Gattungswesen und eine Distanz zu den begrifflich wie materiell vermessenen kulturellen Verhältnissen. Angesichts der Gewißheitsverunsicherungen, in denen sich die Moderne seit ihren Anfängen befindet, ist eine solche Suche nach theoretischem Außenhalt mit Wahrheitsversprechungen verständlich. Der Beifall, den gegenwärtig besonders im therapeutisch-pädagogischen Feld die Theorie der
Archetypen
C.G. Jungs findet, oder die Versuche, die bildnerische Tätigkeit von Kindern auf universelle Gesetzmäßigkeiten zu gründen und sie normativ geltend zu machen, oder die philosophische Anstrengung, in ästhesiologischen Erfahrungen, im
Sinnenbewußtsein
, einen Gegenhalt gegen destruktive Tendenzen kognitivistischer Rationalitätsverkürzungen der technologischen Moderne zu finden (vgl. zur Lippe 1987), sind nur drei Symptome dafür. Aber wie auch immer man dazu stehen mag: Derartige Konstruktionen sind, innerhalb unserer theoretischen Kultur, als Wahrheitskandidaten prinzipiell möglich, und man wird sie überprüfen müssen.
[114:16] Das Programm einer ästhetischen Alphabetisierung bezweckt demgegenüber anderes. Papst Gregor der Große unterstellte vor ungefähr 1300 Jahren, daß die nicht literarisierten Gemeindemitglieder – und das waren fast alle – die christlichen Botschaften wenigstens aus den Kirchenfresken herauslesen könnten. Die faschistischen Konstrukteure des Parteitagsgeländes in Nürnberg unterstellten ähnliches; dennoch sind beide sehr verschiedenartige Fälle. Zwischen ihnen liegt die Autonomisierung der Kunst mit dem Beginn der Moderne.
Lesefähigkeit
im Hinblick auf Bilder bedeutete für Gregor, ikonische Zeichen in einem homologen Kontext von Sprache, Handlung und Mythos zu lokalisieren. Ästhetische Ereignisse nach der Autonomisierung der Künste bre|a 10|chen tendenziell aus solcher Homologie aus. Deshalb gibt es die Unterscheidung zwischen affirmativer und nicht-affirmativer Kunst, deshalb ist das Nürnberger NS-Gelände ein zwanghafter Rückfall in die Barbarei, deshalb konnte Schiller meinen, daß in der ästhetischen Erfahrung sich
Freiheit
melde. Wenn das so ist, wenn also die im Prinzip oder der Möglichkeit nach autonom gewordene ästhetische Sphäre kultureller Produktionen als nicht unbedingt homolog mit dem Insgesamt gesellschaftlich-kultureller Produkte verstanden werden kann beziehungsweise ihre Produzenten sich derart verstehen, dann sind an die Lesefähigkeit des Publikums auch andersartige Anforderungen gestellt. Nun erst nämlich wird die Frage zum kulturell relevanten Thema, ob die Zeichenwelten ästhetischer Ereignisse etwas zur
Sprache
bringen, das in anderen Zeichensystemen nicht so ohne weiteres ausdrückbar ist, und ob in den verschiedenen ästhetischen Medien nicht gar je besondere
Weisen der Welterzeugung
ins Werk gesetzt werden, also eigentlich nicht mehr von einer ästhetischen Variante der Weltdarstellung gesprochen werden darf, sondern die gerade verschiedenen Sprachen ästhetischer Darstellung entschlüsselt werden müssen. Dies jedenfalls, so denke ich, ist das Kulturprogramm, das ungefähr mit Lessings
Laokoon
begann und heute seinen prominentesten Vertreter in dem amerikanischen Philosophen Nelson Goodman hat (vgl. Goodman 1984; 1971; vgl. Gebauer 1984).
[114:17] Und dies ist ein klassisches Alphabetisierungsprogramm. Daß Sprechen-Können und Lesen-Können durchaus zweierlei ist, hat jeder, der mit Kindern umgeht, elementar erfahren, und zwar an der Art, in der ein, sagen wir sechsjähriges Kind Geschriebenes oder Gedrucktes laut vorliest. So wie das Sechsjährige natürlich beständig redet und sich im Medium der Sprache verständigt, mehr oder weniger, so sehen und hören, samt den je entsprechenden eigenen Hervorbringungen, wir natürlich auch.
Alphabetisierung
aber bedeutet dort wie hier etwas davon zu Unterscheidendes: die Anstrengung des Kindes im ersten Lesen von Texten, die vielfältigen Operationen, die Kombination von Phonemen, Graphemen, grammatischen Formen, syntaktischen Gliederungen, pragmatischen Lokalisierungen – derartiges müßte analog für die Erwartungen an ästhetische Lesefähigkeit geltend gemacht werden können. Wer also ernsthaft denkt, ästhetische Bildung als allgemeine Bildung auf dem Niveau der Moderne sei ein vernünftiges pädagogisches Programm, der steht wohl einer Aufgabe gegenüber, die – wie die lange Geschichte des europäisch-neuzeitlichen Alphabetisierungs-Projektes zeigt – nicht in wenigen Jahrzehnten zu erledigen ist.
[114:18] Die Wahl des Ausdrucks
Alphabetisierung
ist indessen, trotz des Hinweises, er sei auf ästhetische Ereignisse nur
analog
anzuwenden, |a 11|erläuterungsbedürftig. Er fungiert metaphorisch, wie ja auch die Rede von
Sprachen
der Künste, von
Körpersprache
, vom
Lesen
eines Gesichtsausdrucks, und so fort. Es steht also in Frage, ob es einen plausiblen Grund, ein Drittes gebe, die Analogie rechtfertigen zu können. Ob wir nun den Ausdruck
Alphabet
derart wörtlich verstehen, daß wir damit die Kenntnis der Buchstaben meinen, die aber erst in Zusammensetzungen Sinneinheiten (Wörter) ergeben, oder ob wir – schon hier in übertragener Bedeutung – auch den Erwerb der Lesefertigkeit im Hinblick auf vor-alphabetische Bilderschriften
Alphabetisierung
nennen: in beiden Fällen ist die Lesefähigkeit an kognitive Operationen gebunden, die einen Signifikanten auf ein Signifikat beziehen, und zwar nach kulturell je geltenden Regeln, nicht spontan-naturwüchsig. Die
Lesbarkeit
eines Zeichens ist etwas anderes als das Zusammentragen der vielfältigen Assoziationen oder Projektionen, die sich beim Betrachten desselben einstellen mögen. Ästhetische Alphabetisierung kann deshalb als der vielleicht nicht ganz treffende, aber mögliche Ausdruck für den Lernvorgang verstanden werden, in dem nicht-sprachliche kulturell produzierte Figurationen in einem historisch bestimmten Bedeutungsfeld lokalisiert, das heißt als bedeutungsvolle Zeichen
lesbar
werden. So also, wie sich aus dem Sprechen-Können überhaupt eine davon gesonderte Schreib- und Lesekultur ausgliedern kann, so kann sich aus der ästhesiologischen Praxis überhaupt eine Kultur ästhetischer Zeichen-Kommunikation ausgliedern, deren Regeln nun ausdrücklich angeeignet werden müssen. Andernfalls entstehen Peinlichkeiten im Urteilsvermögen: wer den Höreindruck einer komplizierten Modulation umstandslos als Darstellung eines seiner eigenen
Gefühle
, die Figurationen auf einem Bild Cy Twomblys als kindliche Kritzel-Zeichen mißversteht, verhält sich wie jemand, der das Ugarit-Alphabet als ornamentalen Schmuck, Hieroglyphen als hübsche Bildchen betrachtet: er kann nicht lesen.
[114:19] Wenn es denn also eine ästhetische Dimension von Erziehungs- und Bildungsvorgängen samt ihrer Theorie geben sollte, dann bestünde die Aufgabe für eine nachdenkliche kunstpädagogische Praxis zunächst einmal darin, die nachwachsende Generation mit den Lesbarkeiten der ästhetischen Objektivationen unserer Kultur vertraut zu machen. Das ist nicht neu; es gibt seit einem Jahrhundert eine ganze Reihe von Bemühungen, die alle als Komponenten eines solchen Alphabetisierungsprogramms verstanden werden können: die Methoden der historisch-philologischen Kritik, die, sofern sie sich universalistischen Theorien
der Kunst
nicht widerstandslos überläßt, die kulturspezifische, historisch relativierende Decodierung ästhetischer Objekte betreibt; Tendenzen der Kunstentwicklung selbst, die mindestens seit der romantischen Ma|a 12|lerei, exponierter dann im Dadaismus, im Bauhaus, in den konstruktivistischen Konzepten eine imaginäre Volksbildungsschule des Sehens und Lesens optischer Ereignisse etablierte; diejenigen Vorstellungen, die unter dem Namen
ästhetische Kommunikation
eine Zeitlang in Mode waren, und, obgleich wohl eine theoretische Sackgasse, den Mitteilungs- und also Lesbarkeits-Charakter ästhetischer Ereignisse zur Diskussion brachten; die Theorien der
Waren-Ästhetik
, die zur Analyse der Marktfunktionen ästhetischer oder ästhetisierender Produkte anleiteten; schließlich überhaupt die Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von ästhetischem Objekt und organisierendem Kommerz oder administrierendem Kulturbetrieb, in deren Rahmen sich erst die öffentliche Bedeutung ästhetischer Zeichen herstellt, wie immer auch deren privater Genuß beschaffen sein mag.
[114:20] All dies müßte im Kopf haben, wer heute sich anschickt, ästhetische Bildung zu proklamieren. Viele haben es im Kopf – aber sie sind in der Regel Didaktiker der ästhetischen Schulfächer, zumeist der Kunsterziehung. Ist also die gestellte Aufgabe nur das Problem eines Schulfaches, etwa so, wie Gunter Otto es zuverlässig resümiert (vgl. Otto/Otto 1987)? Hat sie also in einer allgemeinen Theorie der Erziehung und Bildung so wenig zu suchen wie, beispielsweise, die Einführung in die Grundrechnungsarten? Ist ästhetische Bildung ein Curriculum-Problem? Um der Präzisierung dieser Frage näherzukommen – eine zuverlässige Antwort kann ich hier ohnehin nicht geben –, nehme ich noch einen weiteren Anlauf.

3. Die gebrochene Perspektive

[114:21] Viele werden das skizzierte Alphabetisierungs-Projekt für, wie man heute sagt, kognitivistisch verkürzt halten. Ist nicht schon Diderots Rede von der
Magie der Farbe
ein, freilich noch unbeholfener, Hinweis darauf, daß in dem Verhältnis zwischen ästhetischem Objekt, menschlichem Organismus und den Repräsentationsformen des Bewußtseins ein Problem liegt, das durch Hinweise auf das kognitive Lesen ästhetischer Ereignisse nicht schon erledigt ist? Ich möchte zwei Fragen hervorheben, die das Nachdenken in dieser Richtung befördern könnten.
[114:22] Ein exponierter, aber für das ganze Gebiet ästhetischer Ereignisse wichtiger Fall ist die Musik. Eingangs zitierte ich Rousseau, der musikalische Ereignisse ohne weiteres als Zeichen für Affekte und Gefühle nahm. Die musiktheoretische Hermeneutik und Semantik indessen findet darin allerlei Schwierigkeiten.
Der Reiz der Musik besteht darin
, heißt es an exponierter Stelle der theoretischen Diskussion zur sogenannten Bedeutung von Musik,
daß sie uns von dem Zwang zeichenhaften Hörens befreit
(Karbusicky 1986, S. 276)
. Dies gilt allerdings |a 13|nicht universell, sondern nur für die autonome Musik unseres Kulturkreises und ihre Hörer. In ihr oder für ihn gibt es allenfalls
semantische Enklaven
– wie etwa die wiederkehrenden Motive in Wagners Opern als eine vom Komponisten erzeugte Semantik oder wie die Zuordnung individueller und kollektiver Stimmungen zu einzelnen Tonfolgen, die innerhalb eines kulturellen Settings bereitgestellt werden (Trauermarsch, Wiegenlied, Waldesrauschen usw.). Diese Enklaven sollten uns nicht darüber täuschen, daß innerhalb unserer Kultur die Zuordnung musikalischer Figuren zu irgend etwas anderem, das sie bedeuten könnten, größte Schwierigkeiten bereitet. Man erfährt das selbst am ehesten dann, wenn man Tonfolgen hört oder wenn man sich auf jene Teile von Kompositionen konzentriert, die nicht im Rahmen von Zuordnungskonventionen konnotiert werden können – und das sind entschieden die meisten. Die von Musiktherapeuten gelegentlich favorisierte Hypothese, es gebe eine Isomorphie zwischen Tonfolgen und Emotionen, Charakterdispositionen, Temperamenten und ähnlichem, hat sich deshalb bisher auch nicht bestätigen lassen. Ich sage
deshalb
, weil meine eigene Vermutung in eine andere Richtung weist. Musikalische Figurationen – aber vielleicht auch solche der visuellen Darstellung oder der artifiziellen Körperbewegung – können zwar immer Träger kulturell eingespielter Bedeutungsfelder, also kultureller Zeichen, also kognitiv lesbar sein. Sie sind aber zugleich auch empfunden, mittels unserer Wahrnehmungsorgane, die nie vollständig und vor allem nicht von Anfang an in den dominanten kulturellen Codes, den gegebenen Zeichenformationen gefangen sind. Jede Avantgarde, in allen Künsten, versucht immer wieder, die Probe auf diese Hypothese zu machen und nötigt uns damit einen Blick nach zwei Seiten hin ab: zur Seite des konventionellen Zeichenrepertoires, der kognitiv zugänglichen Lesbarkeit hin und zur Seite der dazu in Opposition stehenden Empfindbarkeit hin, die – jedenfalls nicht ohne weiteres – sich keinen semantischen Zuordnungen fügen mag.
[114:23] Die zweite Frage, die ich hervorheben möchte, nimmt diesen Gedanken auf, nun aber von der Seite philosophischer Reflexion her. Von den je individuellen Gewißheiten im Hinblick auf eigene Empfindungen war schon die Rede, wenngleich nur andeutungsweise und eher pejorativ, als Quelle für theoretische Verführungen. Man kann den Spieß auch umdrehen, nämlich so: Wenn überhaupt der Ausdruck
Selbstbewußtsein
sinnvoll sein sollte, dann doch nur unter der Bedingung, daß das
Selbst
, von dem da die Rede ist, einerseits von einem kollektiven
Wir
unterscheidbar und andererseits, nicht nur, aber auch, mit dem individuellen Organismus dessen verbunden ist, der von sich meint, ein Selbstbewußtsein zu haben. Zweiflern gegenüber könnten wir bei Nach|a 14|fragen etwa sagen: Ich spüre mich selbst, und ich bin gewiß, daß ich mich und nicht irgend etwas anderes spüre (vgl. Pothast 1987). Indem wir so reden, machen wir eine wichtige Unterscheidung: zwischen
ich spüre mich
und
ich spüre etwas
, das in irgendeiner Weise außer
mir
ist. Beim Zahnschmerz würde man in der Regel nicht sagen, daß man
sich
spüre, sondern eben nur den Schmerz im Zahn. Dieser Schmerz aber kann eine Intensität erreichen, die es nicht mehr erlaubt, ihn im Zahn zu lokalisieren, zu
konfrontieren
(wie Pothast sagt), sondern mich nötigt zu sagen, er betreffe nun meinen ganzen Organismus, mich selbst. Ich könnte jetzt hier, an dieser Stelle, sagen: ich habe nun keine Lust mehr, den Beitrag fortzusetzen. Die Empfindung, die mich dazu veranlaßt oder veranlassen könnte, käme zwar vielleicht von äußeren Wahrnehmungen her oder, wie der Zahnschmerz, von einzelnen Unwohlsein-Empfindungen dieses oder jenes Organs, aber die Behauptung, daß
ich nun keine Lust mehr habe
, bezieht sich nicht auf meine sinnlichen Rezeptoren, sondern – wenn es denn nun so wäre – auf eine Befindlichkeit meiner selbst als eines empfindenden, eines sich selbst wahrnehmenden Wesens, das sich sein Wahrnehmen zum Bewußtsein bringen kann.
[114:24] Derartige Argumente oder Fragen könnten hilfreich sein, wenn es darum gehen soll zu klären, ob ästhetischen Ereignissen eine Bildungsbedeutung zugesprochen werden darf, die mit deren semiologischer Lesbarkeit nicht identisch ist. Pothast konstatiert für jenen Bereich
nicht konfrontierten Spürens
eine
notorische Spracharmut
. In einer Kritik der ikonologischen Verfahren, die sich in der Kunstgeschichtsschreibung mit dem Namen Panofsky verbinden, vermerkt Gottfried Boehm im Hinblick auf den Versuch, Bedeutung und Wirkung eines bildnerischen Objektes zu beschreiben, eine eigentümliche
Abwesenheit von Sagbarkeit
(Boehm 1978, S. 463)
. Jeder, so vermute ich, kennt die Schwierigkeit, eigenes ästhetisches Erleben in Worte zu fassen, die als wirklich angemessen akzeptiert werden können, also einerseits hinreichend genau sind, andererseits eingewöhnte Deutungskonventionen nicht einfach reproduzieren. Eben darin liegt auch die Peinlichkeit, die vielen therapeutischen Berichten über Erfahrungen mit ästhetischen Tätigkeiten anhaftet, weil dort auf psychologisierende Vokabularien zurückgegriffen wird; sie scheinen häufig deutlich neben der Sache zu liegen und nun, statt der historisch-philologischen Kritik, eine diagnostisch-psychologische zu bevorzugen. Nehmen wir aber jene
Spracharmut
oder
Abwesenheit von Sagbarkeit
ernst, dann sind auch diese Wege zwar möglich, verfehlen aber etwas, das zur Sache gehört, zur
Natur ästhetischer Wirkung
(König 1978). Die Schwäche unserer Vokabularien ist keine Folge von oder kein Indiz für intellektuelles Unver|a 15|mögen; sie hat vielmehr ihren Grund in der Schwierigkeit, die Gewißheitsempfindungen, die wir im Hinblick auf das haben, was wir selbst im Moment der ästhetischen Wahrnehmung sind, zur Sprache zu bringen, und zwar neben den institutionalisierten oder professionalisierten Sprachspielen, die uns sonst zur Verfügung stehen. Ästhetische Zeichen, wenn sie anspruchsvoll sind, zeigen nämlich – wenn mir eine solche These ohne Begründung gestattet sein sollte – auf die Konfrontation des Zeichens mit der Selbstempfindung. Das erreicht die Grenze des Sagbaren. Verständlich wäre dann, warum Diderot eine Ausflucht im Wort
Magie
suchte.
[114:25] Dabei kommt mir eine andere literarische Erinnerung in den Sinn: Unter einer, durch einen ästhetischen Gegenstand hervorgebrachten
ästhetischen Idee
, schrieb Kant in der
Kritik der ästhetischen Urteilskraft
,
verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann
(Kant 1975, Bd. 5, S. 413 f.)
.
Viel denken
, ohne daß dies
einem Begriff adäquat
ist, das führt in der Tat in wenigstens partielle Sprachlosigkeit – allerdings nur dann, wenn hier nur an die lingua gedacht wird, nicht aber, in übertragener Bedeutung, auch an die Sprachen der Kunst.
[114:26] In einer Beschreibung des Charlottenburger Bildes
Der Mönch am Meer
von C.D. Friedrich breitete Heinrich von Kleist aus, was aus diesem Anlaß mit seiner Einbildungskraft geschah, formuliert schließlich, es sei,
als ob einem die Augenlieder weggeschnitten wären
und gesteht, daß er die ästhetische Wirkung des Bildes nicht zureichend in Worte fassen könne. (Man mag sich hier erinnern, daß Fichte, bei dem Versuch, den Ausdruck
Reflexion
zu erläutern, zu einer paradoxen Metapher griff: Reflexion sei
das Auge, das sich selber sieht
). Immerhin aber schrieb Kleist mehr als eine Druckseite, produzierte also linguistisches Material, allerdings solches, von dem Kant wohl gesagt hätte, daß es
einem Begriff
durchaus inadäquat sei, besonders dort, wo Kleist sich einen kühnen Ausgriff seiner Einbildungskraft auf ästhetische Zukunft erlaubt:
ich bin überzeugt
, schreibt er,
daß sich, mit seinem (des Malers) Geiste, eine Quadratmeile märkischen Sandes darstellen ließe ... Ja, wenn man diese Landschaft mit ihrer eigenen Kreide und ihrem eigenen Wasser malte; so glaube ich, man könnte die Füchse und Wölfe damit zum Heulen bringen
(Kleist 1978, Bd. 3, S. 502 f.)
. Wer dächte dabei, unsere eigene ästhetische Einbildungskraft hinzugerechnet, nicht an Anselm Kiefer, beispielsweise?
[114:27] Derartige Assoziationen sind dem Kunsthistoriker, im Interesse historisch-philologischer Kritik, vermutlich degoutant. Dennoch tragen sie |a 16|zur Frage nach der Lesbarkeit ästhetischer Ereignisse etwas Wichtiges bei, dann nämlich, wenn das unbestimmte Fluktuieren der Einbildungskraft zwischen Sinnlichkeit und Verstandesbegriffen und die Suche nach symbolischen Repräsentationen dafür zur Eigentümlichkeit ästhetischer Wirkungen gehört. Ob ein ästhetisches Ereignis – ich sage nicht
richtig
, sondern
angemessen
,
adäquat
– gelesen wurde, wäre dann nicht mehr nur im Hinblick auf seine semiologische Lokalisierung in der kulturellen Formation zu entscheiden, sondern auch durch das in Bewegung gesetzte Spiel der Einbildungskraft.
[114:28] Wie aber kann dieses Spiel, da es doch, wenn wir Kant und Kleist glauben wollen, nicht in begriffliche Verstandesdiskurse adäquat übersetzt werden kann, zur Darstellung kommen? Wie läßt sich beurteilen, ob ein ästhetisches Ereignis überhaupt jene Ebene nicht konfrontierten Spürens, jene Selbstempfindung erreicht, das
Auge, das sich selber sieht
? Nicht anders, so meine Vermutung, als darin, daß die Wirkung eines ästhetischen Ereignisses in einem neuen ästhetischen Ereignis zur Darstellung kommt – so jedenfalls meinte der Philosoph Josef König, als er zu dem Schluß kam, die ästhetische Wirkung sei nichts als die ästhetische Darstellung dieser Wirkung.
[114:29] Wenn also ästhetische Ereignisse nicht nur – in historisch-analytischer Perspektive – als Kulturobjekte gelesen werden können, wenn sie andererseits nicht nur dem Assoziations- und Projektionsstrom, den psycho-diagnostischen Professionellen freigegeben, zugehören sollten, also eine bestimmbare Mitte zwischen Verstand und Sinnlichkeit hätten, dann könnte es sein, daß sie im Prozeß der Ich-Bildung eine Chance hätten – nicht in der Form der diskursiven Rede, aber in der Form der Metapher (vgl. Ricoeur 1986), die fortlaufend, in immer neuen Darstellungen ästhetischer Wirkungen, einen metaphorischen, einen ästhetischen Diskurs bildet. In diesen ließe sich nun gut auch die kindliche / jugendliche Rezeption und Produktion ästhetischer Ereignisse einfügen. Sie wären demnach nichts als die ästhetische Darstellung ästhetischer Wirkungen. Mit Bildungsprozessen wären sie insofern verbunden, als sie, metaphorisch, etwas zum Thema machen, das weder in begrifflich zuverlässiger Rede noch im begriffslosen sinnlichen Eindruck oder Ausdruck zur
Sprache
kommen kann: Die Konfrontation des Ich mit seinen Selbstempfindungen zwischen Begriff und Sinnlichkeit.
[114:30] Wie wenig klar indessen solche Behauptungen sind, hat, mit Bezug auf Musik, Carl Dahlhaus erläutert. Sagt man nämlich, das Ich sei, im ästhetischen Ereignis, seinen Selbstempfindungen konfrontiert, dann könnte dies durchaus noch im Sinne einer
Gefühlsästhetik
verstanden werden: das Selbst – als ein Ensemble nicht nur von Kognitionen, sondern auch Affekten – wird in eine Stimmung versetzt; diese und nicht |a 17|das Werk wird zum Gegenstand seiner Aufmerksamkeit;
der Hörer ... versenkt sich in seinen eigenen Gefühlszustand, der durch Musik ausgelöst wurde
(Dahlhaus 1975, S. 159)
. Darin aber verfehlt er gerade die Eigentümlichkeit ästhetischer Wahrnehmung. Es sind nämlich
die Gefühle, derer sich die Musik ... bemächtigt, keineswegs Regungen ..., die auch außerhalb der Musik und ohne sie existieren und deren tönendes Abbild die Musik wäre, sondern Qualitäten, die erst als durch Musik ausgeprägte Gefühle überhaupt Gefühle sind
;
Musik ist nicht die bestimmtere Darstellung von auch sprachlich faßbaren Regungen, sondern der andere Ausdruck anderer Gefühle
(S. 162)
. Die Hermeneutik der Musik bringt hier etwas zur Sprache, das, wie Gottfried Boehm gezeigt hat (vgl. Boehm 1978), auch für die Hermeneutik des Bildes geltend gemacht werden kann. Sollte also überhaupt so etwas wie eine Theorie der ästhetischen Dimension von Bildungsprozessen möglich sein, dann muß sie – über die Aufgabe, kulturspezifische Lesefähigkeit für ästhetische Gegenstände hervorzubringen, hinaus – das besondere Verhältnis erläutern, das im ästhetischen Ereignis zwischen Werk, Ich und jenen
anderen Gefühlen
konstituiert wird.
[114:31] Mit derart riskanten Behauptungen fangen, am Ende dieser Skizze, die wichtigsten Schwierigkeiten erst an. Wie eingangs mit Rousseau versuche ich mich ausgangs mit Paul Klee zu beruhigen. Nach einem Hinweis auf die Bedeutung des Wortes
Analyse
für den Chemiker begann er, in seiner ersten Vorlesung am Bauhaus 1921, so:
In unserem Betrieb sind die ... Beweggründe zur Analyse natürlich andere. Wir machen keine Analysen von Werken, die wir kopieren möchten oder denen wir mißtrauen ... Wir untersuchen die Wege ... um durch die Bekanntschaft mit den Wegen selber in Gang zu kommen ... Wir sind Bildner und werden uns hier daher naturgemäß auf formalem Gebiet bewegen ... Aber (ich muß) hier betonen ... daß uns das tiefste Gemüt, die schönste Seele nichts nützt, wenn wir die dazu gehörigen Formen nicht bei der Hand haben ... Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen beginne ich, da, wo die bildnerische Form überhaupt beginnt – beim Punkt, der sich in Bewegung setzt
(Klee 1987, S. 91 ff.)
.