1. Hoffnungen
[114:4] Der zeitweilige Freund Jean-Jacques Rousseaus, Denis Diderot, hätte der eingangs zitierten
Behauptung zum Zeichencharakter musikalischer Ereignisse gewiß zugestimmt.
Allerdings sah er Begründungsschwierigkeiten. Fünf Jahre früher nämlich,
1748 in den
„Allgemeinen Prinzipien der Akustik“
,
diskutiert er die empirisch leicht zugängliche Beobachtung, daß ein und
dieselbe musikalische Figur oder Tonfolge in verschiedenen Weltgegenden
völlig anders erlebt wird. Um der Sache auf den Grund zu kommen, empfiehlt
Diderot:
[114:5]
„Bei allen Mutmaßungen über
Dinge, bei denen unsere Sinne eine Rolle spielen, muß man ins Auge
fassen: den Gegenstand; den Zustand der Sinne; das Bild (image) oder den Eindruck, der dem Geist
vermittelt wird; die Beschaffenheit des Geistes in dem Augenblick,
wo er diesen Eindruck empfängt; das Urteil, das er darüber
fällt“
(Diderot 1984, I,
S.
18)
.
[114:6] Damit sind, ungefähr, diejenigen Dimensionen angegeben, nach denen
man auch heute eine wissenschaftliche Untersuchung zur bildenden Wirkung
ästhetischer Ereignisse organisieren würde. Aber was ist der
„Gegenstand“
? Zwar heißt es:
„Der Gegenstand der Musik ist
der |a 5|Ton“
(S. 20)
; aber
„der Ton“
war
für Diderot ein Moment
innerhalb des seit Erfindung der europäischen Notenschrift organisierten
„musikalischen Materials“
, wie wir heute sagen. Und der
Mathematiker Diderot
konstruierte dazu eine Fortschrittslinie von Pythagoras zu Rameau, in der die
eher das Einfache, die Modernen dagegen eher das Komplizierte
bevorzugen
(vgl. S. 19)
.
[114:7] Gut zehn Jahre später, nun allerdings in bezug auf Malerei, beginnt
ihm die Vorstellung eines universalen Kanons des ästhetischen Materials zu
schillern. In den Rezensionen zu den
„Pariser Salons“
, den periodischen
Ausstellungen moderner Malerei im Louvre, zeigt er sich zwar begeistert von Vernet und Greuze, von deren
realistisch-bürgerlichen Sujets, deren ästhetisches Material allerdings –
wie bei Rameau – noch mit
kulturell vertrauten Inhalten der Einbildungskraft operiert; Chardin dagegen
scheint ihm etwas ganz anderes zu sein: Es blitzt bei Diderot – wenn ich so sagen darf – die Frage
auf, ob unsere ästhetischen Urteile nicht im Gehäuse von Präferenzen und
Gewohnheiten, im kulturell relativen ästhetischen Material befangen sein
könnten. Er tut sich schwer mit der Erläuterung dieses Problems und erkennt
sehr wohl, daß das, was nach den eingespielten Regeln kultureller Mode oder
historisch bestimmten ästhetischen Geschmacks gefällt und Beifall verdient,
nicht identisch sein muß mit dem, was eine bildende Wirkung hat. Eben dies
glaubte er an Chardins
Bildern erfahren zu können – und erfährt dabei seine eigene Spracharmut: an
den Bildern Chardins erfahre
man
„die Magie der
Farbe“
(Diderot 1984, I,
S.
376)
! Eine erstaunliche Formel für den sonst so resoluten Aufklärer.
[114:8] Mit
„Pädagogik“
aber hatte das nichts zu tun.
Ästhetische Ereignisse von dieser
„magischen“
Art
spielten in Diderots
Vorschlägen für öffentliche Bildungseinrichtungen denn auch nicht die
mindeste Rolle; auch die pädagogische Praxis der Maler-Akademien war ihm
suspekt; er empfahl den angehenden Künstlern statt dessen die visuelle
Auseinandersetzung mit dem Alltag der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Diderot 1984,
II). Ästhetische Ereignisse sind offenbar eine Sache für
Erwachsene. Sie zu pädagogisieren ist sentimentaler Quark.
[114:9] Probleme, die die Autoren ästhetischer Ereignisse oder Produkte
haben, und Probleme, die Pädagogen mit ihrer Klientel haben, sind offenbar
ziemlich verschieden. Diese Annahme galt jedenfalls jahrhundertelang. Beim
Studieren der neuzeitlichen Quellen zur Schulgeschichte habe ich nicht
gefunden, daß irgendwann zwischen 1520 und 1820 jemand empfohlen hätte,
Holzschnitte Dürers, die
Madrigale Hans Leo Haßlers,
den
„Simplizissimus“
Grimmelshausens oder
dergleichen in die schulischen Curricula aufzunehmen. Auch gibt es keine
Hinweise darauf, daß es vernünftig sein könnte, Kinder in der Form des
Unterrichts zu eigener |a 6|ästhetischer Tätigkeit
aufzufordern, die mehr oder anderes gewesen wäre als akkurates Zeichnen, das
Singen christlicher Choräle oder das gelegentliche Aufführen von Stücken
religiösen Inhalts auf der Bühne. Schulen hatten, in jenen Jahrhunderten,
Wichtigeres zu besorgen – zum Beispiel die Alphabetisierung und die
Einführung in die Grundrechenarten. Selbst Schiller, obwohl von Theoretikern der
ästhetischen Bildung immer wieder in Anspruch genommen, dachte nicht anders:
Die
„Briefe zur ästhetischen Erziehung“
sind für die
Selbstbildung des Erwachsenen geschrieben, nicht zur Verbesserung der
Schulen oder überhaupt des Umgangs mit der jungen Generation. Sätze wie der
folgende, im Hinblick auf den Sprachgestus gar nicht so sympathisch,
„Es gibt keinen anderen Weg, den sinnlichen Menschen
vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch
macht“
(Schiller 1960,
23. Brief)
, derartige Sätze sind für spätere pädagogische Leser verführerisch
geworden, so als gehöre das Ästhetische in die entwicklungslogische Reihe
pädagogischer Machbarkeiten. Aber Schiller hatte weder Piaget gelesen, noch hatte er Derartiges im Sinn.
Seine Verwendung des Ausdrucks
„Erziehung“
stand viel
näher dem, was Lessing meinte, als er über die
„Erziehung des
Menschengeschlechts“
schrieb.
[114:10] Schiller wie Diderot sind also, in jenem
„pädagogischen Jahrhundert“
, nicht so pädagogisch, wie
manch einer, zwecks besserer Handhabung der Geschichte, gern hätte. Die von
beiden Autoren angesprochenen Probleme – übrigens scheint mir, daß Schillers
„Briefe“
eine Erläuterung und Begründung dessen liefern,
was Diderot, zwischen
Sensualismus und ästhetischer Faszination hin- und hergetrieben,
„Magie“
nannte – setzen das
urteils- und handlungskompetente erwachsene Subjekt voraus. Der Schein der Freiheit, im ästhetischen Ereignis,
leuchtet nur dem, dem die epistemischen Zumutungen der Verstandesbegriffe vertraut
und die Brauchbarkeitserwartungen der gesellschaftlichen Praxis geläufig
geworden sind. Das ist nichts für Kinder, sondern ein Problem für
unsereins.
[114:11] Indessen: Es gibt mindestens zwei Beobachtungen, die gegen meine
apodiktisch formulierte Meinung ins Feld geführt werden könnten: Die
Erörterungen Diderots und
Schillers waren
Bestandteil eines bürgerlichen Konzeptes von Kultur, in dem die Künste einen
ausgezeichneten Platz hatten. Insofern nun dieses Konzept als allgemein, als
universelles Instrument der Vergesellschaftung gedacht, also auf Teilhabe
aller hin entworfen wurde, enthält es natürlich auch einen
bildungspraktischen Anspruch, profilierte sich, jedenfalls bei Schiller, als republikanisch
und kritisch – obgleich, wie wir wissen, nur ein Bruchteil der Bevölkerung
erreicht wurde. Der Widerspruch wird in Diderots Ausstellungsrezensionen
selbstanekdotisch pointiert: In der emphatischen Diktion der |a 7|Volksaufklärung, also der allgemeinen Menschenbildung,
geschrieben, erschienen sie andererseits in kleinster Auflage zu
Luxuspreisen in Grimms
„Correspondence“
. Aber immerhin: wohlwollende pädagogische
Leser der Geschichte haben in jenen Jahrzehnten – bis hin zu Goethes
in den
– immer wieder den Beginn dessen gesehen, was 100 Jahre später in die
Schulen hineinvermittelt werden sollte. Also doch eine Versöhnung von Kunst
und Pädagogik, von Ästhetik und Erziehungsprozeß?
[114:12] Die zweite Beobachtung betrifft den Ausdruck
„Magie“
und die
weiterführenden Argumente Kants und Schillers, nach denen im ästhetischen Ereignis sich eine
eigentümliche Freiheit von Verstandeszumutungen und praktischen Handlungszwekken melde.
„In Rücksicht auf Erkenntnis und
Gesinnung“
sei die Stimmung, in die ein ästhetisches Ereignis uns versetzt,
„völlig indifferent und unfruchtbar“
(Schiller 1960,
21. Brief)
. Derartiges, obwohl in der einschlägigen Literatur selten zitiert,
führt zwar nicht geradenwegs, aber doch über Nebenpfade in die
ästhetisch-therapeutischen Praktiken unserer Jahrzehnte hinein. Obwohl über
liebevoll ausgestaltete Fallbeschreibungen hinaus kaum empirisch
kontrollierbare Untersuchungen vorliegen, hält oder bekräftigt sich der
Glaube an die heilende Wirkung des Schönen, in Rezeption und Produktion. Das
hat – jenseits aller Beweisführung – vielleicht etwas für sich, ist doch die
therapeutische oder paratherapeutische Situation unter anderem dadurch
gekennzeichnet, daß der Klient von Erkenntnis- wie von Handlungszwang
freigestellt werden soll. Die einschlägig-inflationäre Vokabel heißt denn
auch
„Reflexion“
, ein Vorgang, für den, wenn ich recht
sehe, noch keine empirische Prüffigur erfunden worden ist. Dabei wäre gerade
dies die Probe! Die seit der Kunsterziehungsbewegung vom Jahrhundertbeginn
an geläufigen Ausdrücke
„schöpferisch“
oder
„kreativ“
vernebeln eher den für Kinder und Klienten
relevanten Sachverhalt, die Frage nämlich, ob überhaupt und was denn genau
die vermutete und erhoffte bildende Wirkung sein könnte. Es scheint also,
als würde sich, gut 200 Jahre später, die Frage erneuern, ob es eine
„Magie“
ästhetischer
Ereignisse gebe, eine Form der Konfrontation des Menschen mit der
Hervorbringung seiner ästhetischen Zeichen oder der Auseinandersetzung mit
den ästhetischen Zeichen anderer, die folgenreich ist, nicht nur für seine
Kenntnis der kulturellen Umwelten, sondern für die
Bildungsbewegung, in der er selbst sich befindet.
2. Lesarten
[114:13] Derartige Fragen haben, seit Beginn der Moderne, die
verschiedenartigen
„Ästhetiken“
hervorgebracht. Und da
die Frage, was ein ästhetisches Zeichen als ästhetisches
signifiziert, nicht so leicht zu beantworten |a 8|ist, gibt
es fast so viele Theorien der Ästhetik wie Autoren in dieser Sache. Es ist
deshalb nützlich, einerseits bescheidener, andererseits entschieden
historisch zu fragen. Denn: Wenn schon die Beteiligung der Bevölkerungen an
den faktischen und möglichen ästhetischen Hervorbringungen der Kultur
gewünscht wird, dann stellt sich ein Problem, das dem der Alphabetisierung
ähnlich ist: ästhetische Ereignisse müssen
„gelesen“
werden können, und es ist, unter der Bedingung des
Kulturprojektes der Aufklärung, mindestens plausibel, daß eine derartige
Lesefähigkeit auch der je nachwachsenden Generation vermittelt wird.
[114:14] Wir sind allemal Opfer beschränkter Lektüre (vgl. zum folgenden Werckmeister
1971, S. 57 ff.):
der eine gewinnt seine Kategorien aus den Platonikern oder von Rembrandt, der
andere aus der Zwölftontechnik, ein dritter aus der Prinzhorn-Sammlung, ein vierter
aus der mehr oder weniger zufälligen musealen Präsenz ästhetischer
Dokumente. Diese Beschränktheit, verbunden mit dem Mißtrauen gegenüber
universalisierenden Theorien, ist nicht unproduktiv, sofern sie zu
historisch-philologischer Kritik führt, zu der Frage, was ein bestimmtes
ästhetisches Zeichen im Kontext einer Lebensform, einer gesellschaftlichen
Formation bedeutet. Mindestens dies also können wir aus der Historie und
ihrer Kritik gewinnen: Universalistische Behauptungen über das
Schöne überhaupt, über das Mimetische in der Kunst, über
die Wirkung ästhetischer Ereignisse, über die
gesellschaftliche Funktion von Kunsterzeugnissen, über die
Bedeutung ästhetischer Tätigkeiten von Kindern und so fort sind mit Vorsicht
zu genießen. Demgegenüber scheint mir, daß es der Aufklärung dienlicher ist,
Fragen wie etwa die folgenden zu stellen: Welche historisch bestimmten
Bedeutungen werden durch ästhetische Objekte akzentuiert oder
hervorgebracht? Wie profilieren sich solche Bedeutungen im je gegebenen
kulturellen Umfeld und für bestimmte soziale Gruppen? Welche Wirkung haben
die gleichsam stummen ästhetischen Zeichen unserer Wohn- und Lebensumwelten?
Was haben Theorien über das, was Kunst sei oder sein sollte, damit zu tun?
Wie muß man eine Punkfrisur lesen und unter welchen Bedingungen ginge das
überhaupt? Welches sind die charakteristischen Zeichen eines
gesellschaftlich erzeugten Leibhabitus, in welche Medien wird er
transformiert, wofür, beispielsweise, können Tanzschritte ein Indikator
sein?
[114:15] Die subjektiven, besser wohl die je individuellen
Gewißheitserlebnisse, die der Liebhaber ästhetischer Gegenstände beim
Betrachten oder die das Kind beim Herstellen derartiger Objekte haben mag,
sind eine mögliche Quelle theoretischer Verführung. Da die eigenen
Empfindungen für den, der sie empfindet,
„evident“
sind
und Zweifel unangebracht erscheinen, liegt es näher, solche
Evidenzerlebnisse zu universalisieren, das heißt sie als zur Natur der Sache
und nicht nur der je er|a 9|lebenden Person gehörend zu
verstehen; ferner dagegen liegt die kulturtheoretische oder
historisch-philologische Perspektive, in der solche primären Gewißheiten
eher verfremdet werden. Diese Verführung durch die egologische Gewißheit
eigener Erlebnisse wird nun, wie mir scheint, bekräftigt durch eine
kulturspezifische Eigentümlichkeit pädagogischer Attitüden: Seit Rousseau versuchte, das Kind so
zu beschreiben, als zeige sich an ihm die universelle Natur der
Menschengattung, gibt es unter Pädagogen oder pädagogisch interessierten
Angehörigen anderer Professionen immer wieder die Neigung, im Kinde so etwas
wie das
„Ursprüngliche“
zu entdecken, das den Wahrheiten
unserer Gattung näher sei als die immer schon verformten Wirklichkeiten
gesellschaftlich-erwachsener Existenz. Dieser säkulierte Kindheits-Mythos
(vgl. Lenzen
1985) – denn natürlich ist der Mythos wesentlich älter als Rousseau – ist für alles
„Ästhetische“
besonders empfänglich, weil ästhetische
Ereignisse zweierlei zu versprechen scheinen: einen unmittelbaren oder
ursprünglichen Bezug auf die Sinnlichkeit des Menschen als Gattungswesen und
eine Distanz zu den begrifflich wie materiell vermessenen kulturellen
Verhältnissen. Angesichts der Gewißheitsverunsicherungen, in denen sich die
Moderne seit ihren Anfängen befindet, ist eine solche Suche nach
theoretischem Außenhalt mit Wahrheitsversprechungen verständlich. Der
Beifall, den gegenwärtig besonders im therapeutisch-pädagogischen Feld die
Theorie der
„Archetypen“
C.G. Jungs findet, oder die
Versuche, die bildnerische Tätigkeit von Kindern auf universelle
Gesetzmäßigkeiten zu gründen und sie normativ geltend zu machen, oder die
philosophische Anstrengung, in ästhesiologischen Erfahrungen, im
„Sinnenbewußtsein“
, einen Gegenhalt gegen destruktive
Tendenzen kognitivistischer Rationalitätsverkürzungen der technologischen
Moderne zu finden (vgl. zur Lippe 1987), sind nur drei Symptome dafür. Aber wie
auch immer man dazu stehen mag: Derartige Konstruktionen sind, innerhalb
unserer theoretischen Kultur, als Wahrheitskandidaten prinzipiell möglich,
und man wird sie überprüfen müssen.
[114:16] Das Programm einer ästhetischen Alphabetisierung bezweckt
demgegenüber anderes. Papst Gregor
der Große unterstellte vor ungefähr 1300 Jahren, daß die nicht
literarisierten Gemeindemitglieder – und das waren fast alle – die
christlichen Botschaften wenigstens aus den Kirchenfresken herauslesen
könnten. Die faschistischen Konstrukteure des Parteitagsgeländes in Nürnberg
unterstellten ähnliches; dennoch sind beide sehr verschiedenartige Fälle.
Zwischen ihnen liegt die Autonomisierung der Kunst mit dem Beginn der
Moderne.
„Lesefähigkeit“
im Hinblick auf Bilder bedeutete
für Gregor, ikonische Zeichen
in einem homologen Kontext von Sprache, Handlung und Mythos zu lokalisieren.
Ästhetische Ereignisse nach der Autonomisierung der Künste bre|a 10|chen tendenziell aus solcher Homologie aus. Deshalb
gibt es die Unterscheidung zwischen affirmativer und nicht-affirmativer
Kunst, deshalb ist das Nürnberger NS-Gelände ein zwanghafter Rückfall in die
Barbarei, deshalb konnte Schiller meinen, daß in der ästhetischen Erfahrung sich
„Freiheit“
melde. Wenn das so ist, wenn also die im
Prinzip oder der Möglichkeit nach autonom gewordene ästhetische Sphäre
kultureller Produktionen als nicht unbedingt homolog mit dem Insgesamt
gesellschaftlich-kultureller Produkte verstanden werden kann beziehungsweise
ihre Produzenten sich derart verstehen, dann sind an die Lesefähigkeit des
Publikums auch andersartige Anforderungen gestellt. Nun erst nämlich wird
die Frage zum kulturell relevanten Thema, ob die Zeichenwelten ästhetischer
Ereignisse etwas zur
„Sprache“
bringen, das in anderen
Zeichensystemen nicht so ohne weiteres ausdrückbar ist, und ob in
den verschiedenen ästhetischen Medien nicht gar je besondere
„Weisen der Welterzeugung“
ins Werk gesetzt werden, also
eigentlich nicht mehr von einer ästhetischen Variante der
Weltdarstellung gesprochen werden darf, sondern die gerade
verschiedenen Sprachen ästhetischer Darstellung entschlüsselt
werden müssen. Dies jedenfalls, so denke ich, ist das Kulturprogramm, das
ungefähr mit Lessings
„Laokoon“
begann und heute seinen prominentesten Vertreter
in dem amerikanischen Philosophen Nelson Goodman hat (vgl. Goodman 1984; 1971; vgl. Gebauer 1984).
[114:17] Und dies ist ein klassisches Alphabetisierungsprogramm. Daß
Sprechen-Können und Lesen-Können durchaus zweierlei ist, hat jeder, der mit
Kindern umgeht, elementar erfahren, und zwar an der Art, in der ein, sagen
wir sechsjähriges Kind Geschriebenes oder Gedrucktes laut vorliest. So wie
das Sechsjährige natürlich beständig redet und sich im Medium der Sprache
verständigt, mehr oder weniger, so sehen und hören, samt den je
entsprechenden eigenen Hervorbringungen, wir natürlich auch.
„Alphabetisierung“
aber bedeutet dort wie hier etwas
davon zu Unterscheidendes: die Anstrengung des Kindes im ersten Lesen von
Texten, die vielfältigen Operationen, die Kombination von Phonemen,
Graphemen, grammatischen Formen, syntaktischen Gliederungen, pragmatischen
Lokalisierungen – derartiges müßte analog für die Erwartungen an ästhetische
Lesefähigkeit geltend gemacht werden können. Wer also ernsthaft denkt,
ästhetische Bildung als allgemeine Bildung auf dem Niveau der Moderne sei
ein vernünftiges pädagogisches Programm, der steht wohl einer Aufgabe
gegenüber, die – wie die lange Geschichte des europäisch-neuzeitlichen
Alphabetisierungs-Projektes zeigt – nicht in wenigen Jahrzehnten zu
erledigen ist.
[114:18] Die Wahl des Ausdrucks
„Alphabetisierung“
ist
indessen, trotz des Hinweises, er sei auf ästhetische Ereignisse nur
„analog“
anzuwenden, |a 11|erläuterungsbedürftig. Er fungiert metaphorisch, wie ja auch die Rede von
„Sprachen“
der Künste, von
„Körpersprache“
, vom
„Lesen“
eines
Gesichtsausdrucks, und so fort. Es steht also in Frage, ob es einen
plausiblen Grund, ein Drittes gebe, die Analogie rechtfertigen zu können. Ob
wir nun den Ausdruck
„Alphabet“
derart wörtlich
verstehen, daß wir damit die Kenntnis der Buchstaben meinen, die aber erst
in Zusammensetzungen Sinneinheiten (Wörter) ergeben, oder ob wir – schon
hier in übertragener Bedeutung – auch den Erwerb der Lesefertigkeit im
Hinblick auf vor-alphabetische Bilderschriften
„Alphabetisierung“
nennen: in beiden Fällen ist die Lesefähigkeit an
kognitive Operationen gebunden, die einen Signifikanten auf ein Signifikat
beziehen, und zwar nach kulturell je geltenden Regeln, nicht
spontan-naturwüchsig. Die
„Lesbarkeit“
eines Zeichens ist
etwas anderes als das Zusammentragen der vielfältigen Assoziationen oder
Projektionen, die sich beim Betrachten desselben einstellen mögen.
Ästhetische Alphabetisierung kann deshalb als der vielleicht nicht ganz
treffende, aber mögliche Ausdruck für den Lernvorgang verstanden werden, in
dem nicht-sprachliche kulturell produzierte Figurationen in einem historisch
bestimmten Bedeutungsfeld lokalisiert, das heißt als bedeutungsvolle Zeichen
„lesbar“
werden. So also, wie sich aus dem
Sprechen-Können überhaupt eine davon gesonderte Schreib- und Lesekultur
ausgliedern kann, so kann sich aus der ästhesiologischen Praxis überhaupt
eine Kultur ästhetischer Zeichen-Kommunikation ausgliedern, deren Regeln nun
ausdrücklich angeeignet werden müssen. Andernfalls entstehen Peinlichkeiten
im Urteilsvermögen: wer den Höreindruck einer komplizierten Modulation
umstandslos als Darstellung eines seiner eigenen
„Gefühle“
, die Figurationen auf einem Bild Cy Twomblys als kindliche Kritzel-Zeichen
mißversteht, verhält sich wie jemand, der das Ugarit-Alphabet als
ornamentalen Schmuck, Hieroglyphen als hübsche Bildchen betrachtet: er kann
nicht lesen.
[114:19] Wenn es denn also eine ästhetische Dimension von Erziehungs- und
Bildungsvorgängen samt ihrer Theorie geben sollte, dann bestünde die Aufgabe
für eine nachdenkliche kunstpädagogische Praxis zunächst einmal darin, die
nachwachsende Generation mit den Lesbarkeiten der ästhetischen
Objektivationen unserer Kultur vertraut zu machen. Das ist nicht neu; es
gibt seit einem Jahrhundert eine ganze Reihe von Bemühungen, die alle als
Komponenten eines solchen Alphabetisierungsprogramms verstanden werden
können: die Methoden der historisch-philologischen Kritik, die, sofern sie
sich universalistischen Theorien
„der Kunst“
nicht
widerstandslos überläßt, die kulturspezifische, historisch relativierende
Decodierung ästhetischer Objekte betreibt; Tendenzen der Kunstentwicklung
selbst, die mindestens seit der romantischen Ma|a 12|lerei,
exponierter dann im Dadaismus, im Bauhaus, in den konstruktivistischen Konzepten eine imaginäre
Volksbildungsschule des Sehens und Lesens optischer Ereignisse etablierte;
diejenigen Vorstellungen, die unter dem Namen
„ästhetische
Kommunikation“
eine Zeitlang in Mode waren, und, obgleich wohl eine
theoretische Sackgasse, den Mitteilungs- und also Lesbarkeits-Charakter
ästhetischer Ereignisse zur Diskussion brachten; die Theorien der
„Waren-Ästhetik“
, die zur Analyse der Marktfunktionen
ästhetischer oder ästhetisierender Produkte anleiteten; schließlich
überhaupt die Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von ästhetischem Objekt
und organisierendem Kommerz oder administrierendem Kulturbetrieb, in deren
Rahmen sich erst die öffentliche Bedeutung ästhetischer Zeichen herstellt,
wie immer auch deren privater Genuß beschaffen sein mag.
[114:20] All dies müßte im Kopf haben, wer heute sich anschickt,
ästhetische Bildung zu proklamieren. Viele haben es im Kopf – aber
sie sind in der Regel Didaktiker der ästhetischen Schulfächer, zumeist der
Kunsterziehung. Ist also die gestellte Aufgabe nur das Problem eines
Schulfaches, etwa so, wie Gunter
Otto es zuverlässig resümiert (vgl. Otto/Otto 1987)? Hat
sie also in einer allgemeinen Theorie der Erziehung und Bildung so wenig zu
suchen wie, beispielsweise, die Einführung in die Grundrechnungsarten? Ist
ästhetische Bildung ein Curriculum-Problem? Um der Präzisierung dieser Frage
näherzukommen – eine zuverlässige Antwort kann ich hier ohnehin nicht geben
–, nehme ich noch einen weiteren Anlauf.
3. Die gebrochene Perspektive
[114:21] Viele werden das skizzierte Alphabetisierungs-Projekt für, wie man
heute sagt, kognitivistisch verkürzt halten. Ist nicht schon Diderots Rede von der
„Magie der Farbe“
ein,
freilich noch unbeholfener, Hinweis darauf, daß in dem Verhältnis zwischen
ästhetischem Objekt, menschlichem Organismus und den Repräsentationsformen
des Bewußtseins ein Problem liegt, das durch Hinweise auf das kognitive
Lesen ästhetischer Ereignisse nicht schon erledigt ist? Ich möchte zwei
Fragen hervorheben, die das Nachdenken in dieser Richtung befördern
könnten.
[114:22] Ein exponierter, aber für das ganze Gebiet ästhetischer
Ereignisse wichtiger Fall ist die Musik. Eingangs zitierte ich Rousseau, der musikalische
Ereignisse ohne weiteres als Zeichen für Affekte und Gefühle nahm. Die
musiktheoretische Hermeneutik und Semantik indessen findet darin allerlei
Schwierigkeiten.
„Der Reiz der Musik besteht darin“
, heißt es an exponierter Stelle der theoretischen Diskussion zur
sogenannten Bedeutung von Musik,
„daß sie uns von dem Zwang zeichenhaften Hörens
befreit“
(Karbusicky 1986,
S.
276)
. Dies gilt allerdings |a 13|nicht universell,
sondern nur für die autonome Musik unseres Kulturkreises und ihre Hörer. In
ihr oder für ihn gibt es allenfalls
„semantische
Enklaven“
– wie etwa die wiederkehrenden Motive in Wagners Opern als eine vom
Komponisten erzeugte Semantik oder wie die Zuordnung individueller und
kollektiver Stimmungen zu einzelnen Tonfolgen, die innerhalb eines
kulturellen Settings bereitgestellt werden (Trauermarsch, Wiegenlied,
Waldesrauschen usw.). Diese Enklaven sollten uns nicht darüber täuschen, daß
innerhalb unserer Kultur die Zuordnung musikalischer Figuren zu irgend etwas
anderem, das sie bedeuten könnten, größte Schwierigkeiten bereitet. Man
erfährt das selbst am ehesten dann, wenn man Tonfolgen hört oder wenn man
sich auf jene Teile von Kompositionen konzentriert, die nicht im Rahmen von Zuordnungskonventionen konnotiert werden
können – und das sind entschieden die meisten. Die von Musiktherapeuten
gelegentlich favorisierte Hypothese, es gebe eine Isomorphie zwischen
Tonfolgen und Emotionen, Charakterdispositionen, Temperamenten und
ähnlichem, hat sich deshalb bisher auch nicht bestätigen lassen. Ich sage
„deshalb“
, weil meine eigene Vermutung in eine andere
Richtung weist. Musikalische Figurationen – aber vielleicht auch solche der
visuellen Darstellung oder der artifiziellen Körperbewegung – können zwar
immer Träger kulturell eingespielter Bedeutungsfelder, also kultureller
Zeichen, also kognitiv lesbar sein. Sie sind aber zugleich auch
empfunden, mittels unserer Wahrnehmungsorgane, die nie vollständig und vor
allem nicht von Anfang an in den dominanten kulturellen Codes, den gegebenen
Zeichenformationen gefangen sind. Jede Avantgarde, in allen Künsten,
versucht immer wieder, die Probe auf diese Hypothese zu machen und nötigt
uns damit einen Blick nach zwei Seiten hin ab: zur Seite des konventionellen
Zeichenrepertoires, der kognitiv zugänglichen Lesbarkeit hin und zur Seite
der dazu in Opposition stehenden Empfindbarkeit hin, die – jedenfalls nicht
ohne weiteres – sich keinen semantischen Zuordnungen fügen mag.
[114:23] Die zweite Frage, die ich hervorheben möchte, nimmt diesen
Gedanken auf, nun aber von der Seite philosophischer Reflexion her. Von den
je individuellen Gewißheiten im Hinblick auf eigene Empfindungen war schon
die Rede, wenngleich nur andeutungsweise und eher pejorativ, als Quelle für
theoretische Verführungen. Man kann den Spieß auch umdrehen, nämlich so:
Wenn überhaupt der Ausdruck
„Selbstbewußtsein“
sinnvoll
sein sollte, dann doch nur unter der Bedingung, daß das
„Selbst“
, von dem da die Rede ist, einerseits von einem kollektiven
„Wir“
unterscheidbar und andererseits, nicht nur,
aber auch, mit dem individuellen Organismus dessen verbunden ist, der von
sich meint, ein Selbstbewußtsein zu haben. Zweiflern gegenüber könnten wir
bei Nach|a 14|fragen etwa sagen: Ich spüre mich selbst, und
ich bin gewiß, daß ich mich und nicht irgend etwas anderes spüre
(vgl. Pothast
1987). Indem wir so reden, machen wir eine wichtige
Unterscheidung: zwischen
„ich spüre mich“
und
„ich spüre etwas“
, das in irgendeiner Weise außer
„mir“
ist. Beim Zahnschmerz würde man in der Regel nicht
sagen, daß man
„sich“
spüre, sondern eben nur den Schmerz
im Zahn. Dieser Schmerz aber kann eine Intensität erreichen, die es nicht
mehr erlaubt, ihn im Zahn zu lokalisieren, zu
„konfrontieren“
(wie Pothast sagt), sondern mich nötigt zu sagen, er betreffe nun
meinen ganzen Organismus, mich selbst. Ich könnte jetzt hier, an
dieser Stelle, sagen: ich habe nun keine Lust mehr, den Beitrag
fortzusetzen. Die Empfindung, die mich dazu veranlaßt oder veranlassen
könnte, käme zwar vielleicht von äußeren Wahrnehmungen her oder, wie der
Zahnschmerz, von einzelnen Unwohlsein-Empfindungen dieses oder jenes Organs,
aber die Behauptung, daß
„ich nun keine Lust mehr habe“
,
bezieht sich nicht auf meine sinnlichen Rezeptoren, sondern – wenn es denn
nun so wäre – auf eine Befindlichkeit meiner selbst als eines empfindenden,
eines sich selbst wahrnehmenden Wesens, das sich sein Wahrnehmen zum
Bewußtsein bringen kann.
[114:24] Derartige Argumente oder Fragen könnten hilfreich sein, wenn es
darum gehen soll zu klären, ob ästhetischen Ereignissen eine
Bildungsbedeutung zugesprochen werden darf, die mit deren semiologischer
Lesbarkeit nicht identisch ist. Pothast konstatiert für jenen Bereich
„nicht
konfrontierten Spürens“
eine
„notorische
Spracharmut“
. In einer Kritik der ikonologischen Verfahren, die sich in der
Kunstgeschichtsschreibung mit dem Namen Panofsky verbinden, vermerkt Gottfried Boehm im
Hinblick auf den Versuch, Bedeutung und Wirkung eines bildnerischen Objektes
zu beschreiben, eine eigentümliche
„Abwesenheit von
Sagbarkeit“
(Boehm 1978,
S.
463)
. Jeder, so vermute ich, kennt die Schwierigkeit, eigenes ästhetisches
Erleben in Worte zu fassen, die als wirklich angemessen akzeptiert werden
können, also einerseits hinreichend genau sind, andererseits eingewöhnte
Deutungskonventionen nicht einfach reproduzieren. Eben darin liegt auch die
Peinlichkeit, die vielen therapeutischen Berichten über Erfahrungen mit
ästhetischen Tätigkeiten anhaftet, weil dort auf psychologisierende
Vokabularien zurückgegriffen wird; sie scheinen häufig deutlich neben der
Sache zu liegen und nun, statt der historisch-philologischen Kritik, eine
diagnostisch-psychologische zu bevorzugen. Nehmen wir aber jene
„Spracharmut“
oder
„Abwesenheit von Sagbarkeit“
ernst, dann sind auch diese Wege zwar möglich, verfehlen aber etwas, das zur
Sache gehört, zur
„Natur ästhetischer Wirkung“
(König 1978).
Die Schwäche unserer Vokabularien ist keine Folge von oder kein Indiz für
intellektuelles Unver|a 15|mögen; sie hat vielmehr ihren
Grund in der Schwierigkeit, die Gewißheitsempfindungen, die wir im Hinblick
auf das haben, was wir selbst im Moment der ästhetischen Wahrnehmung sind,
zur Sprache zu bringen, und zwar neben den institutionalisierten oder
professionalisierten Sprachspielen, die uns sonst zur Verfügung stehen.
Ästhetische Zeichen, wenn sie anspruchsvoll sind, zeigen nämlich – wenn mir
eine solche These ohne Begründung gestattet sein sollte – auf die
Konfrontation des Zeichens mit der Selbstempfindung. Das erreicht die Grenze
des Sagbaren. Verständlich wäre dann, warum Diderot eine Ausflucht im Wort
„Magie“
suchte.
[114:25] Dabei kommt mir eine andere literarische Erinnerung in den Sinn:
Unter einer, durch einen ästhetischen Gegenstand hervorgebrachten
, schrieb Kant in der
„Kritik der ästhetischen
Urteilskraft“
,
„verstehe ich diejenige
Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne
daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff
adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und
verständlich machen kann“
(Kant 1975, Bd.
5, S. 413
f.)
.
„Viel denken“
, ohne
daß dies
„einem Begriff adäquat“
ist, das führt in der
Tat in wenigstens partielle Sprachlosigkeit – allerdings nur dann, wenn hier
nur an die lingua gedacht wird, nicht aber,
in übertragener Bedeutung, auch an die Sprachen der Kunst.
[114:26] In einer Beschreibung des Charlottenburger Bildes
„Der Mönch am Meer“
von C.D. Friedrich breitete Heinrich von Kleist aus, was aus
diesem Anlaß mit seiner Einbildungskraft geschah, formuliert schließlich, es
sei,
„als ob einem die Augenlieder weggeschnitten wären“
und gesteht, daß er die
ästhetische Wirkung des Bildes nicht zureichend in Worte fassen könne. (Man
mag sich hier erinnern, daß Fichte, bei dem Versuch, den Ausdruck
„Reflexion“
zu erläutern, zu einer paradoxen Metapher
griff: Reflexion sei
„das Auge, das sich selber sieht“
).
Immerhin aber schrieb Kleist
mehr als eine Druckseite, produzierte also linguistisches Material,
allerdings solches, von dem Kant wohl gesagt hätte, daß es
„einem
Begriff“
durchaus inadäquat sei, besonders dort, wo Kleist sich einen kühnen
Ausgriff seiner Einbildungskraft auf ästhetische Zukunft erlaubt:
, schreibt er,
„daß sich, mit seinem (des Malers) Geiste, eine Quadratmeile
märkischen Sandes darstellen ließe ... Ja, wenn man diese Landschaft
mit ihrer eigenen Kreide und ihrem eigenen Wasser malte; so glaube
ich, man könnte die Füchse und Wölfe damit zum Heulen
bringen“
(Kleist 1978, Bd.
3, S. 502
f.)
. Wer dächte dabei, unsere eigene ästhetische Einbildungskraft
hinzugerechnet, nicht an Anselm
Kiefer, beispielsweise?
[114:27] Derartige Assoziationen sind dem Kunsthistoriker, im Interesse
historisch-philologischer Kritik, vermutlich degoutant. Dennoch tragen sie
|a 16|zur Frage nach der Lesbarkeit ästhetischer
Ereignisse etwas Wichtiges bei, dann nämlich, wenn das unbestimmte
Fluktuieren der Einbildungskraft zwischen Sinnlichkeit und
Verstandesbegriffen und die Suche nach symbolischen Repräsentationen dafür
zur Eigentümlichkeit ästhetischer Wirkungen gehört. Ob ein ästhetisches
Ereignis – ich sage nicht
„richtig“
, sondern
„angemessen“
,
„adäquat“
– gelesen
wurde, wäre dann nicht mehr nur im Hinblick auf seine semiologische
Lokalisierung in der kulturellen Formation zu entscheiden, sondern auch durch das in Bewegung gesetzte Spiel der
Einbildungskraft.
[114:28] Wie aber kann dieses Spiel, da es doch, wenn wir Kant und Kleist glauben wollen, nicht in begriffliche
Verstandesdiskurse adäquat übersetzt werden kann, zur Darstellung kommen?
Wie läßt sich beurteilen, ob ein ästhetisches Ereignis überhaupt
jene Ebene nicht konfrontierten Spürens, jene Selbstempfindung
erreicht, das
„Auge, das sich selber sieht“
? Nicht
anders, so meine Vermutung, als darin, daß die Wirkung eines ästhetischen
Ereignisses in einem neuen ästhetischen Ereignis zur Darstellung kommt – so
jedenfalls meinte der Philosoph Josef König, als er zu dem Schluß kam, die ästhetische Wirkung
sei nichts als die ästhetische Darstellung dieser Wirkung.
[114:29] Wenn also ästhetische Ereignisse nicht nur – in
historisch-analytischer Perspektive – als Kulturobjekte gelesen werden
können, wenn sie andererseits nicht nur dem Assoziations- und
Projektionsstrom, den psycho-diagnostischen Professionellen freigegeben,
zugehören sollten, also eine bestimmbare Mitte zwischen Verstand und
Sinnlichkeit hätten, dann könnte es sein, daß sie im Prozeß der Ich-Bildung
eine Chance hätten – nicht in der Form der diskursiven Rede, aber in der
Form der Metapher
(vgl. Ricoeur
1986), die fortlaufend, in immer neuen Darstellungen ästhetischer
Wirkungen, einen metaphorischen, einen ästhetischen Diskurs bildet. In
diesen ließe sich nun gut auch die kindliche / jugendliche Rezeption und
Produktion ästhetischer Ereignisse einfügen. Sie wären demnach nichts als
die ästhetische Darstellung ästhetischer Wirkungen. Mit Bildungsprozessen
wären sie insofern verbunden, als sie, metaphorisch, etwas zum
Thema machen, das weder in begrifflich zuverlässiger Rede noch im
begriffslosen sinnlichen Eindruck oder Ausdruck zur
„Sprache“
kommen kann: Die Konfrontation des Ich mit seinen
Selbstempfindungen zwischen Begriff und Sinnlichkeit.
[114:30] Wie wenig klar indessen solche Behauptungen sind, hat, mit Bezug
auf Musik, Carl
Dahlhaus erläutert. Sagt man nämlich, das Ich sei, im
ästhetischen Ereignis, seinen Selbstempfindungen konfrontiert, dann könnte
dies durchaus noch im Sinne einer
„Gefühlsästhetik“
verstanden werden: das Selbst – als ein Ensemble nicht nur von Kognitionen,
sondern auch Affekten – wird in eine Stimmung versetzt; diese und nicht |a 17|das Werk wird zum Gegenstand seiner Aufmerksamkeit;
„der Hörer ... versenkt sich in seinen eigenen
Gefühlszustand, der durch Musik ausgelöst wurde“
(Dahlhaus 1975,
S.
159)
. Darin aber verfehlt er gerade die Eigentümlichkeit ästhetischer
Wahrnehmung. Es sind nämlich
„die Gefühle, derer sich die Musik ... bemächtigt,
keineswegs Regungen ..., die auch außerhalb der Musik und ohne sie
existieren und deren tönendes Abbild die Musik wäre, sondern
Qualitäten, die erst als durch Musik ausgeprägte Gefühle überhaupt
Gefühle sind“
;
„Musik ist nicht die bestimmtere Darstellung von
auch sprachlich faßbaren Regungen, sondern der andere Ausdruck
anderer Gefühle“
(S. 162)
. Die Hermeneutik der Musik bringt hier etwas zur Sprache, das, wie
Gottfried Boehm gezeigt
hat (vgl. Boehm
1978), auch für die Hermeneutik des Bildes geltend gemacht werden
kann. Sollte also überhaupt so etwas wie eine Theorie der ästhetischen
Dimension von Bildungsprozessen möglich sein, dann muß sie – über die
Aufgabe, kulturspezifische Lesefähigkeit für ästhetische Gegenstände
hervorzubringen, hinaus – das besondere Verhältnis erläutern, das im
ästhetischen Ereignis zwischen Werk, Ich und jenen
„anderen
Gefühlen“
konstituiert wird.
[114:31] Mit derart riskanten Behauptungen fangen, am Ende dieser Skizze,
die wichtigsten Schwierigkeiten erst an. Wie eingangs mit Rousseau versuche ich mich
ausgangs mit Paul
Klee zu beruhigen. Nach einem Hinweis auf die Bedeutung des
Wortes
„Analyse“
für den
Chemiker begann er, in seiner ersten Vorlesung am Bauhaus 1921, so:
„In unserem Betrieb sind die ...
Beweggründe zur Analyse natürlich andere. Wir machen keine Analysen
von Werken, die wir kopieren möchten oder denen wir mißtrauen ...
Wir untersuchen die Wege ... um durch die Bekanntschaft mit den
Wegen selber in Gang zu kommen ... Wir sind Bildner und
werden uns hier daher naturgemäß auf formalem Gebiet bewegen ...
Aber (ich muß) hier betonen ... daß uns das tiefste Gemüt, die
schönste Seele nichts nützt, wenn wir die dazu gehörigen Formen
nicht bei der Hand haben ... Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen
beginne ich, da, wo die bildnerische Form überhaupt beginnt – beim
Punkt, der sich in Bewegung setzt“
(Klee 1987, S.
91 ff.)
.