Pädagogik – gestern, heute und morgen [Textfassung a]
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Pädagogik – gestern, heute und morgen

Klaus Mollenhauer im Gespräch mit Rainer Winkel – Teil 1

1968

[V73:1]
Stimmt es nämlich, daß diese Gesellschaft kein bloßes Repetitionsphänomen ist, das heißt, daß die gesellschaftlichen Bedingungen in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht nur zu erhalten und unter anderem auch durch Erziehung zu reproduzieren seien, dann fällt der Pädagogik als Praxis wie als Theorie die Aufgabe zu, in der heranwachsenden Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderung hervorzubringen.
Dieser Satz stammt nicht von Lenin und auch nicht von Karl Marx, sondern – von Klaus Mollenhauer. Ich habe ihn zum ersten Mal vor 20 Jahren gelesen, 1968 in einem aufregenden Buch mit dem Titel
Erziehung und Emanzipation
– ein Buch übrigens, das mich in jenem merkwürdigen Jahr zusammen mit drei weiteren ungemein beeindruckte: Gemeint sind
Erkenntnis und Interesse
(von Jürgen Habermas),
Gesellschaft und Demokratie in Deutschland
(von Ralf Dahrendorf) sowie
Systemzwang und Selbstbestimmung
(von Hartmut von Hentig). Sie alle erschienen 1968; und in dieser Reihenfolge habe ich sie auch gelesen.
[V73:2] Mollenhauer: Philosophie und Soziologie, eingerahmt von der Pädagogik, das könnte interessant werden.
[V73:3] Warten wir’s ab! – Nun habe ich eben jenes Lese-Exemplar mitgebracht. Wenn ich darin blättere, fallen die vielen Ausrufungszeichen auf sowie Bemerkungen wie
Ja, richtig!
,
Stimmt!
oder gar
Sehr gut!
. Nachdem ich in den darauffolgenden Jahren in und mit diesem Buch häufig gearbeitet habe, wurde es in den 80er Jahren relativ still um die
Bibel der 68er-Lehrer
. Vor einigen Wochen nun habe ich
Erziehung und Emanzipation
neuerlich gelesen, von vorn bis hinten. Und damit mich meine damaligen Anstreichungen nicht irritieren, hatte ich mir ein Exemplar aus unserer Hochschulbibliothek entliehen. Es war die 7. Auflage, noch recht unbenutzt übrigens. Jetzt aber sehen |a 42|Sie am Rand viele mit einem Bleistift angebrachte Fragezeichen. Und wenn Sie einverstanden sind, wird sich dieses unser Gespräch zwischen Ausrufungs- und Fragezeichen bewegen, das heißt: den Mollenhauer von 1968/69 mit dem von 1988/89 konfrontieren und umgekehrt. – Meine erste Frage lautet also: Betrachten Sie
Erziehung und Emanzipation
als Ihr Hauptwerk?
[V73:4] Mollenhauer: Ich empfinde dieses Buch eher als eine Anfängerarbeit. Es enthält die ersten nach meiner Promotion geschriebenen Aufsätze, die ursprünglich Vorträge waren, und – sicherlich einige pointierte Thesen, über die heute noch nachgedacht und gestritten wird.
[V73:5] Nun war ich 1968 nicht nur ein vormittags unterrichtender Lehrer, sondern auch – soweit dies mit meiner praktischen Tätigkeit vereinbar war – nachmittags sowie vornehmlich abends ein recht orientierungsbedürftiger, um nicht zu sagen: orientierungssüchtiger Student. Sie brachten damals auf den Begriff, was uns umtrieb; Sie waren eine enorm wichtige Bezugsperson für viele kritische Pädagogen; und Sie haben der Erziehungswissenschaft mit Sicherheit eine neue Perspektive eröffnet. Heute sprechen einige dieser damaligen Verehrer von der
Treulosigkeit
des Klaus Mollenhauer ...
[V73:6] Mollenhauer: ... vor allem junge Kollegen wollen offensichtlich eine intellektuelle Vaterfigur nicht verlieren ...
[V73:7] Wie auch immer: Es gibt gewiß Entwicklungsphasen in Ihrem Denken, Schreiben und Wirken. Eine Analyse Ihrer Sprache bzw. die Benutzung bestimmter Begriffe demonstriert zunächst einen vorkritischen Klaus Mollenhauer, der im Kontext der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
relativ naiv von
Bildung
,
Erziehung
und
Schule
sprach. Ab 1965/66 etwa werden diese Begriffe (nicht plötzlich, aber sukzessive) ersetzt von Termini wie
Emanzipation
,
Selbstregulierung
und
Lernen
. Und seit ca. 1980 sind auch diese ersetzt worden – durch die Trias
Sinnlichkeit
,
Selbsterziehung
und
Leben
. Nach dem vorkritischen und dem kritischen jetzt also der nachkritische, gar der postmoderne Mollenhauer?
[V73:8] Mollenhauer: Sensibel für mein eigenes Vokabular bin ich erst in den letzten Jahren geworden. Die von Ihnen erwähnten Schlüsselbegriffe nahmen und nehmen zu ihrer jeweiligen Zeit Probleme auf, die ich selbst nicht erzeugt habe, die mir aber aus dem praktischen Umfeld – nicht nur des pädagogischen Bereiches – entgegengebracht wurden. Die stärkere Verwendung etwa des Begriffes
Lernen
in den 60er Jahren hängt gewiß mit der
realistischen Wende
in der Pädagogik zusammen, die damals auf ihrem Weg zur Erziehungswissenschaft war und ...
[V73:9] ... von Heinrich Roth 1963 in seinem berühmten Aufsatz über
Die realistische Wendung in der pädagogischen Forschung
vehement dazu aufgerufen wurde.
[V73:10] Mollenhauer: Als dieser Aufsatz 1963 in der Zeitschrift Die Deutsche Schule erschien, war ich Assistent bei Heinrich Roth hier in Göttingen und schon von daher aufgeschlossen für einen neuen Begriff schulischen Lernens. Die heutige Aufnahme von Ausdrücken wie
Sinnlichkeit
oder
sinnlichbestimmter Bildungsprozeß
rekurriert gleichfalls auf Sachverhalte, die momentan breit diskutiert werden. Insofern partizipiert mein eigenes wissenschaftliches Denken am allgemeinen Diskurs – nicht nur der Pädagogik. Nun gibt es bekanntlich Kollegen, die solche Diskussionsstränge noch viel bereitwilliger in die Pädagogik lenken als ich.
[V73:11] Wer zum Beispiel?
[V73:12] Mollenhauer: Ich denke an Horst Rumpf oder ...
[V73:13] ... Dieter Lenzen?
[V73:14] Mollenhauer: Dieter Lenzen hat ein ganz anderes Vokabular als Rumpf oder ich.
[V73:15] Teilen Sie deren Skepsis gegenüber der bzw. deren Absage an die Wissenschaft?
[V73:16] Mollenhauer: Nein, ganz und gar nicht – und mir scheint ebenso ganz und gar nicht, daß sie beide der
Wissenschaft
entsagen wollen! Einig bin ich mit Rumpf und Lenzen sowie einer Reihe weiterer Skeptiker aber darin, daß die sozial-wissenschaftliche Redeweise, die in den 60er Jahren in unsere Disziplin eindrang und die bei mir in den
Theorien zum Erziehungsprozeß
wohl am deutlichsten zu hören ist, nicht mehr hinreichend diejenigen Probleme transportieren kann, die wir in unserer Rolle als akademische Kommentatoren dessen, was geschieht, auslegen müssen. Im Gegensatz zu manchem Skeptiker halte ich aber an den Prämissen einer der Aufklärung verpflichteten Wissenschaft fest.

Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik

[V73:17] Bereits in
Erziehung und Emanzipation
haben Sie die
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
heftig kritisiert, jene auf Schleiermacher und Dilthey zurückgehende, in Herman Nohl, Erich Weniger, Wilhelm Flitner und anderen kulminierende sowie bei Wolfgang Klafki an ihr Ende gekommene pädagogische Theorie, die in der Hermeneutik der Erziehungswirklichkeit sowie in der Explikation einstiger und momentaner pädagogischer Sachverhalte sich um eine Deutung edukativer Wirklichkeiten bemühte und sich dem Vorwurf aussetzte, durch eben jene Rekonstruktion vorfindlicher Sinngehalte die leidigen Verhältnisse lediglich zu perpetuieren, im Verstehen also immer schon einverstanden zu sein. Sie warfen der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
vor, im Hinblick auf die Aufklärung derjenigen Zusammenhänge, die die Wirklichkeit der Erziehung ausmachen,
nur begrenzt leistungsfähig
zu sein;
sich in der Analyse von
Sprach-Spielen
zu erschöpfen
; mehr noch: In der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
sei Geschichte
denaturiert zum Steinbruch theoretischer Rechtfertigungen
.
[V73:18] Mollenhauer: Heute sehe ich manches differenzierter. Als sich die von Ihnen eben zitierte Kritik in den 60er Jahren |a 43|zu Wort meldete, war sie von einer gewissen polemischen Attitüde getragen. Sie traf bekanntlich im wesentlichen einen Teil unserer akademischen Lehrer, die symbolisch für die
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
angegriffen wurden. Das war das eine Motiv. Ein zweites, viel entscheidenderes aber, kam hinzu und leitet mich noch heute:
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
konnte viel mehr, viel Deutlicheres und wesentlich Kritischeres sein als das, was Nohl zum Beispiel vorexerziert hatte. Bereits bei Schleiermacher und Dilthey wird die Antinomie zwischen (pädagogischem) Sein und (pädagogischem) Sollen expressis verbis ausgeführt und damit als Verliebtsein in die gegebene Realität und ihre verklärte Geschichte zurückgewiesen. Deshalb halte ich die Kritik an Herman Nohl etwa weiterhin aufrecht, nicht aber als Kritik an der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
. Ein intensives Schleiermacher-Studium habe ich erst nach
Erziehung und Emanzipation
angefangen, so daß mir erst nach diesen polemischen Formulierungen deutlich wurde, wie substantiell meine Kritik etwa an Nohl hätte sein können. Nohl hat die Schleiermachersche Hermeneutik, das methodische Kernfeld der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
, nie wirklich rezipiert, geschweige denn fortgeführt. So gesehen ist diese pädagogische Strömung unter Umständen gar nicht
am Ausgang ihrer Epoche
, sondern in der Verpflichtung eines großen Nachholbedarfes.
[V73:19] Ich weiß, daß der 1879 in Berlin geborene, 1937 entlassene, 1945 wieder eingestellte und 1960 in Göttingen gestorbene Herman Nohl in eben diesem Hause hier eine Zeit lang gewohnt hat: In der Baurat-Gerber-Straße Nr. 7, freilich – er lebte damals in der Wohnung unter derjenigen, die Sie heute bewohnen. Sie haben sich intensiv mit der Psychoanalyse und dem Symbolischen Interaktionismus beschäftigt, so daß Sie meine Frage nicht mißverstehen werden: Ist Ihre Kritik am
akademischen Großvater
Nohl gänzlich frei von Emotionen, auch in bezug auf Ihren Doktorvater Erich Weniger?
[V73:20] Mollenhauer: Ach, wissen Sie, solche tiefenpsychologischen Deutungen sollte man als Betroffener stets anderen überlassen. – Ich komme statt dessen auf die Pädagogik zurück: Was sich in den 20er Jahren als
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
etabliert hatte und nach dem Krieg fortgeführt wurde, insbesondere hier in Göttingen, trifft nach wie vor meine Kritik, aber: Einen aus der Tradition entwickelten, hermeneutisch orientierten Begriff geisteswissenschaftlicher Pädagogik zu erarbeiten, lohnt weiterhin.
[V73:21] Bleiben wir also beim Lohnenswerten. Der dritte Abschnitt in den
Grundlinien eines Systems der Pädagogik
beginnt mit dem berühmten Satz:
Die Wissenschaft der Pädagogik ... kann nur beginnen mit der Deskription des Erziehers in seinem Verhältnis zum Zögling.
Wenn wir bedenken ... .
[V73:22] Mollenhauer: ..., daß dieser Satz in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Wilhelm Dilthey geschrieben wurde, dann belegt dieser ein weiteres Mal, daß die
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
, wenn sie nur ihre Stammväter gründlich bedacht hätte, weder empiriefeindlich noch unkritisch hätte werden müssen. Indem sie sich auf die Exegese von Texten beschränkte, reduzierte sie ihre Möglichkeiten und mißachtete sie ihre eigene Tradition. Erich Weniger in Göttingen oder Aloys Fischer in München zum Beispiel waren von einem ausgeprägten Mißtrauen gegenüber einer Deskription der Erziehungswirklichkeit geprägt – selbst gegenüber einer empirisch sorgfältigen Deskription. Sie interpretierten allenfalls die Deskriptionen anderer: den Erfahrungsbericht eines Lehrers, einen Text von Pestalozzi, eine Autobiographie und ähnliches mehr. Als wissenschaftliche Pädagogen hielten sie es für ihre Aufgabe, solche Deskriptionen neuerlich einem Interpretationsgang zu unterwerfen. Erst
die realistische Wendung
forderte dazu auf, unmittelbar die Erziehungswirklichkeit zu erforschen, Diltheys Aufforderung also mit Hilfe moderner sozialwissenschaftlicher Methoden nachzukommen.
[V73:23] Nun ist die Generation von Wissenschaftlern, der ich angehöre, nur über Ihre Tradition mit der
Geiteswissenschaftlichen Pädagogik
konfrontiert worden, eine Tradition, die erst heute zu einer differenzierten Interpretation gelangt ist. Zunächst aber standen zwischen mir und meinesgleichen auf der einen sowie Dilthey und Nohl auf der anderen Seite die harten Sätze aus
Erziehung und Emanzipation
; oder auch die – etwa von Hans-Jochen Gamm – immer wieder in die Nähe des nationalsozialistischen
Führer-und-Gefolgschaft-Verhältnisses
gerückte Interpretation des von Herman Nohl beschriebenen
Pädagogischen Bezuges
. Zugespitzt gefragt: Sind wir durch Sie und Ihre Generation daran gehindert worden, die positiven Elemente der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
zu entdecken?
[V73:24] Mollenhauer: Das müßte man sicherlich im Detail prüfen.
[V73:25] Gehen wir doch ins Detail! Sie warfen der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
ihre unpolitische Attitüde vor. Stehen Sie dazu auch heute noch?
[V73:26] Mollenhauer: Unbedingt!
[V73:27] Gleichwohl, um bei Nohl zu bleiben, der Autor der
Pädagogischen Bewegung in Deutschland
seine vorzeitige Emeritierung beantragte, im 3. Reich also nicht lehren wollte?
[V73:28] Mollenhauer: Es gibt bekanntlich viele unpolitische Formen der Existenz: das Sich-in-die-Stille-Zurückziehen, das Sich-aus-der-Öffentlichkeit-Verabschieden oder das Sich-Abgrenzen. Damit ist nicht gesagt, daß die politisch Mächtigen mit einem solch unpolitischen Menschen nicht auf ärgerliche Weise umgehen (schließlich paßt er trotz seiner Abstinenz nicht in deren politisches Konzept), aber es bleibt eine Kennzeichnung Nohls: Er hat weder eine politische Existenzform gewählt noch eine politisch akzentuierte pädagogische Theorie vertreten. Das war bei seinem Schüler Erich Weniger schon etwas anders. Er wurde 1894 |a 44|geboren, war also nur 15 Jahre jünger als Nohl, überlebte ihn aber um gut ein halbes Jahr und war als Historiker von Anfang an mit Fragen der politischen Bildung beschäftigt, äußerte sich schon in den 20er Jahren dezidiert zu Problemen der
Staatsbürgerlichen Erziehung
und argumentierte aus einem republikanischen Bewußtsein heraus ...
[V73:29] ... und verdingte sich dennoch – im Gegensatz zum stumm protestierenden 60jährigen Nohl – als Wehrmachtspsychologe.
[V73:30] Mollenhauer: Auch dies war eine Form des Überlebens, die ich allerdings nicht entschuldigen möchte. Aber zurück zum Thema! Wenn wir die Hauptvertreter der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
betrachten (also Herman Nohl, Eduard Spranger, Wilhelm Flitner, Theodor Litt, Erich Weniger), so hat keiner von ihnen den politischen Gehalt der Pädagogik Schleiermachers thematisiert und den Zusammenhang zwischen Pädagogik und Politik, wie er in den Vorlesungen von 1826 erörtert wurde, auf gegenwärtig-republikanischem Niveau der Argumentation aufgegriffen. So gesehen war die
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
politisch naiv bzw. un-politisch.
[V73:31] Gibt es denn Ihrer Ansicht nach trotz vieler Vorbehalte auch positive Elemente in der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
, oder war sie von Anfang bis Ende eine einzige Verirrung?
[V73:32] Mollenhauer: Wenn man sorgfältig und ohne Vorurteil diese pädagogische Bewegung zu würdigen versucht, erkennt man selbstverständlich eine ganze Reihe bleibender Verdienste. Denken Sie an den viel zitierten
Pädagogischen Bezug
. Nohl definierte ihn in der bereits erwähnten Schrift über
Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie
aus dem Jahre 1935 wie folgt:
Die Grundlage der Erziehung ist ... das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, daß er zu seinem Leben und seiner Form komme.
[V73:33] In einer solchen Kennzeichnung liegen die besonderen Eigentümlichkeiten des Erwachsenen-Kind-Verhältnisses unter pädagogischen Gesichtspunkten – etwa im Unterschied zur Freundschaft oder zur Liebe, Beziehungen, denen ...
[V73:34] Martin Buber das Merkmal wechselseitiger
Umfassung
zuordnete ...
[V73:35] Mollenhauer: ... und die, als nicht-edukative Verhältnisse, eine besondere Qualität besitzen, deren Regeln einem – wie Dilthey sagen würde –
Kulturbereich eigener Art
angehören, wobei Nohl das Erzieherische als
autonom
angesehen hat. In diesem Typus des Nachdenkens über Pädagogik schließt Nohl noch am ehesten an Schleiermacher an, für den Bildungsprozesse sich just in dieser Relation entfalten: in den Gegensätzen zwischen Spontaneität und Rezeptivität, zwischen erhalten und verbessern.
[V73:36] Verbindet Nohl mit Schleichermacher also ein Denken in Antinomien?
[V73:37] Mollenhauer: Zumindest knüpfte Nohl an den Schleiermacherschen Gegensatzpaaren an, obgleich er damit nicht alleine stand. Martin Buber, 1878 geboren, veröffentliche 1923 seine Schrift
Ich und Du
und hielt 1925 seine berühmte
Rede über das Erzieherische
. Nohl steht diesbezüglich in einem Kontext mit anderen – übrigens auch mit Philosophen, wenn ich etwa an Karl Löwith denke.
[V73:38] Darf ich fragen, wie es bei Ihnen zu dieser doch recht kritischen Auseinandersetzung mit Herman Nohl kam, zumal Sie doch bei dessen Schüler Erich Weniger promovierten?
[V73:39] Mollenhauer: Das läßt sich recht genau rekonstruieren. 1956 lernte ich im Oberseminar von Helmut Plessner, der seit 1951 Professor für Soziologie an der Georg-August-Universität war und einer der Begründer einer zeitgemäßen Anthropologie genannt werden darf, die Schriften von George Herbert Mead kennen – vor allem seine Arbeiten zum
Symbolischen Interaktionismus
. Danach war mir klar, daß man Nohl und die
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
nicht einfach fortschreiben konnte.
[V73:40] Können Sie das konkreter sagen?
[V73:41] Mollenhauer: Vor dem Hintergrund des
Symbolischen Interaktionismus
ist es eben nicht länger haltbar, das Erziehungsverhältnis als einen gegenüber den anderen gesellschaftlichen Feldern autonomen Bereich zu deklarieren, nur weil es in gewissem Maße eine Eigentümlichkeit besitzt und auch partiell eigenen Regeln folgt. Auch in die Erziehung wirkt
gesellschaftliche Herrschaft
hinein; auch in der Schule kann die von Adorno und anderen beschriebene
Authoritarian Personality
tätig werden; auch in der Familie gibt es – denken Sie an Horst Eberhard Richter
neurotische Rollen
. Das alles und mehr wäre in einer bloßen Fortschreibung unaufgeklärt geblieben.
[V73:42] So gesehen läßt sich (wenn schon nicht von ödipalen, so doch) von akademischen Auseinander- und Ablösungsprozessen zwischen Ihrer Generation und den Vertretern der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
sprechen.
[V73:43] Mollenhauer: D’accord. Es waren in der Tat letztlich akademische Ablösungsprozesse, zu denen mir eine treffliche Begebenheit einfällt: Wenn man die
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
schon lokalisieren will, dann sicherlich hier in Göttingen, wo sie als gestrenge akademische Disziplin auftrat. Wenn einer von uns Studenten oder Dotoranden nun auf die Idee kam, andere Quellen denn pädagogische (also geisteswissenschaftliche) zu zitieren, wurde er von dem Seminarleiter im besten Fall milde belächelt. Als ich meinen ersten Aufsatz über
Anpassung
schrieb, habe ich darin als Sich-Ablösender selbstverständlich sowohl soziologische als auch lern- und entwicklungspsychologische Gedankengänge – wenn auch vorsichtig – eingefädelt und dieses Elaborat Erich Weniger gezeigt. Er hat es sich angeschaut, mich in seine Sprechstunde bestellt und ziemlich wörtlich gesagt:
Was Sie da geschrieben haben, geht alles in die Irre! Aber in der Zeitschrift für Pädagogik werden wir das drucken.
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[V73:44] Und – es wurde gedruckt!
[V73:45] Mollenhauer: Ja, im Heft 4/1961 ...
[V73:46] ..., was Weniger nicht mehr lesen konnte, denn er starb bekanntlich am 2. Mai desselben Jahres.
[V73:47] Mollenhauer: Richtig. Der Witz lag darin: Weniger war, wie Sie wissen, sogar Mitherausgeber der ZfPäd, dieser Aufsatz meine erste Publikation nach meiner Promotion bei ihm, und wenn Sie ihn heute lesen, werden Sie verstehen, warum wir – wenn ich es mal etwas martialisch ausdrücken darf – den Spieß umdrehten ...
[V73:48] ... und deshalb meine Generation Herman Nohl zum Beispiel nur
unter der Bank
lesen durfte – ein Mann, dessen
Pädagogische Abhandlungen
und desen
Politische Aufsätze
(!) vor allem aus dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts – Ihrer Einschätzung zum Trotz – meinem eigenen pädagogischen Denken mehr auf die Sprünge geholfen haben als ein gutes Dutzend selbsternannter
kritischer Autoren
der 60er Jahre.