Pädagogik – gestern, heute und morgen [Textfassung a]
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Pädagogik – gestern, heute und morgen

Klaus Mollenhauer im Gespräch mit Rainer Winkel – Teil 2

[V74:1] Im ersten Teil dieses Gespräches ging es vor allem um eine Klärung der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
, jener verstehenden Erkenntnissuche, die auf Schleiermacher und Dilthey zurückgeht und in H. Nohl, W. Flitner sowie E. Weniger ihre Hauptvertreter fand. Während nun Mollenhauer dieser hermeneutischen Wissenschaft bis heute äußerst kritisch gegenübersteht und z.B. an Herman Nohl kein gutes Haar läßt, ihm
unpolitisches
Exegetisieren vorwirft, weist sein Gesprächspartner auf die
Politischen Aufsätze
von Nohl aus dem Jahre 1919 sowie die
Pädagogischen Abhandlungen
vor allem aus den 20er Jahren hin und gesteht, daß ihm und seinem eigenen pädagogischen Denken gerade die antinomischen Argumentationsfiguren Nohls mehr auf die Sprünge geholfen haben als viele Elaborate der selbsternannten
kritischen
Autoren der 60er Jahre. Das Gespräch hielt an der Stelle inne, als der eine der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
mehr oder weniger gesellschaftliche Blindheit vorwarf und der andere den Verdacht äußerte, daß just solche allzu pauschalen Vor-Urteile die notwendige Rezeption der Theoretiker der Reformpädagogik durch die nachfolgenden Generationen ebenso verhindert haben wie die kritische Auseinandersetzung mit ihnen.
[V74:2] Im hier abgedruckten 2. Teil dieses Gespräches zwischen dem 1928 geborenen sowie in Göttingen wirkenden Klaus Mollenhauer und dem 1943 geborenen sowie in Berlin tätigen Rainer Winkel geht es um den Ort, an dem (pädagogische) Wissenschaft stattfindet: die deutsche Hochschule bzw. Universität und die damit verbundenen didaktischen Probleme.

Hochschuldidaktische Probleme

[V74:3] Ein zweiter Themenkomplex, der auch bereits in Ihrem Buch
Erziehung und Emanzipation
zu Wort kommt, beinhaltet hochschuldidaktische Probleme.
[V74:4] Mollenhauer:
Erziehung und Emanzipation
war und ist ja auch ein Buch für Studenten, für angehende Lehrer und Erzieher.
[V74:5] In diesem hochschuldidaktischen Komplex stecken Probleme wie
Universität und Gesellschaft
,
Hochschule und Staat
, aber auch die
Bildung junger Erwachsener
. Hat die Hochschule einen Bildungsauftrag?
[V74:6] Mollenhauer: Jedem Erkennen ist eine Bildungsfunktion eigen; jedes wissenschaftliche Arbeiten besitzt eine didaktische Dimension. Die Hochschule hat aber nicht eine neben Forschung und Lehre angesiedelte pädagogische Aufgabe im Sinne einer Erziehung der Studenten.
[V74:7] Deswegen auch Ihre Kritik an der Denkschrift zur Gründung einer Universität in Bremen?
[V74:8] Mollenhauer: Ja! Hochschuldidaktisch bin ich ausgesprochen traditionalistisch und orientiere mich eher an den Denkschriften zur Gründung der Berliner Universität Anfang des vorigen Jahrhunderts.
[V74:9] Was heißt das?
[V74:10] Mollenhauer: Die Universität ist und soll bleiben der Ort wissenschaftlichen Argumentierens. Dieser Ort hat – wie gesagt – eine inhärente Bildungsmöglichkeit, nicht aber eine manifeste Erziehungsfunktion. Natürlich gibt es so etwas wie
Pädagogik
an unseren Hochschulen, soll es auch geben, aber eher als studentische Lebensform, als ein soziales Klima unter Hochschullehrern und Studierenden, als notwendiges Umfeld akademischen Lernens, nicht aber als Wesensmerkmal der institutionalisierten Wissenschaft.
[V74:11] Welche Rolle schreiben Sie denn heute unseren Hochschulen zu?
[V74:12] Mollenhauer: Ach, du meine Güte! Sie stellen aber schwierige Fragen.
[V74:13] Das ist meine Aufgabe.
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[V74:14] Mollenhauer: Ich will auch nicht kneifen, aber darauf hinweisen, daß meine Antwort notwendigerweise nicht auf alle damit verbundenen Probleme eingehen kann. Die Rolle unserer Hochschulen hat etwas mit der Wissenschaftsgeschichte zu tun, aber auch mit der Wissenssoziologie; mit der Institutionalisierung von Wissenschaft, aber auch dem Beschäftigungssystem und vielem anderen mehr. Ich habe ja mal gesagt, daß Wissenschaft für die Ausbreitung von Rationalität zuständig sei, konkret: Als Wissenschaftler habe ich geltend zu machen, daß meine Arbeit, meine Lehrveranstaltung zum Beispiel, ein Ort argumentativen Austausches über denjenigen Typ von Lebensproblemen darstellt, den wir Erziehung und Bildung nennen. Darin liegt letzten Endes auch das Kriterium für die Güte meiner akademischen Arbeit. Ob mir das stets gelingt, ob ich den Studenten Überzeugungen beibringen kann, ob ich nett zu ihnen bin oder ein Ethos ihnen vermittle, das alles ist nicht unwichtig, aber gemessen an meiner Aufgabe als Wissenschaftler sekundär. Primär geht es darum, Studenten zu einer argumentativen, kritischen Auseinandersetzung mit den pädagogischen Komponenten des Lebens inmitten wissenschaftlichen Arbeitens zu befähigen.
[V74:15] Das heißt: Absage an alle ideologischen Ansprüche?
[V74:16] Mollenhauer: Ja.
[V74:17] Ich spüre aus Ihrer Erregung aber auch eine Absage an das, was heute
Selbsterfahrung
genannt wird und die Hochschule als emotionalen Uterus sucht.
[V74:18] Mollenhauer: Das vermuten Sie richtig, denn darin liegt die Preisgabe von Wissenschaft.
[V74:19] Nun kann man aber noch eine dritte Position vertreten: Die Hochschule nicht nur als ein Ort zur Ausbreitung von Rationalität und schon gar nicht als eine Kultstätte der Selbsterfahrung, vielleicht aber als eine Gelegenheit der Bildung – meiner selbst.
[V74:20] Mollenhauer: Wenn man diese Position, die bekanntlich auf Überlegungen Humboldts, Schleiermachers oder Fichtes fußt, dahingehend versteht, daß sich im Medium von Wissenschaft immer schon Bildung vollzieht, kritische Bildung, empfinde ich sie der ersten gegenüber nicht als Gegensatz. Selbstbildung bedarf der Argumentationskultur von Wissenschaft.
[V74:21] Bildung im Medium des rational kontrollierten Argumentes sowie eingebettet in ein humanes Klima – wäre dies Aufgabe der heutigen Universität?
[V74:22] Mollenhauer: Ja, und eine solche Bildung ist fortsetzungsfähig und fortsetzungsmöglich.
[V74:23]
Einsamkeit und Freiheit
, die gleichlautende Schrift von Helmut Schelsky aus dem Jahre 1963 ...
[V74:24] Mollenhauer: ... hat mich damals sehr überzeugt und sollte heute noch gelesen werden.
[V74:25] Was erwarten Sie von einem Lehrer, einer Sozialarbeiterin, einem Vater, einer Mutter, die bei Ihnen in diesem Sinn Pädagogik studiert haben? Anders gefragt: Welchen Sinn hat es, am Pädagogischen Seminar der Göttinger Universität an der Ausbreitung von Rationalität beteiligt gewesen zu sein und anschließend in gesellschaftlichen Subsystemen zu leben, denen daran selten gelegen ist?
[V74:26] Mollenhauer: Daß der in der neuzeitlichen Wissenschaft entwickelte Typus der rationalen Argumentation laufend in Dysfunktionalitäten gerät, ist ja nichts Neues und liegt gleichsam in der Natur der Sache, denn ein in dieser Selbst- und Weltbefragung lebender Mensch repräsentiert nicht schon die gesellschaftliche Realität, aber ihre Potentialität.
[V74:27] Ein Stückchen
herrschaftsfreien Diskurs
in der Vorwegnahme?
[V74:28] Mollenhauer: In dem von uns vorweg beschriebenen Typus von
Gebildetheit
flackert eine Art Impuls des Verbesserns, des Genauerwerdens, des Richtigermachens, was Habermas mit Diskurs übersetzt, einer Lebensführung also, die über eigene Gründe verfügt und sich um zukunftsfähige Begründungen bemüht.
[V74:29] Geht das denn, in Schulen und Kindergärten, in Familien und Erziehungsheimen ?
[V74:30] Mollenhauer: Gewiß nicht in dem Sinne, daß Eltern mit ihrem neugeborenen Kind argumentativ-rational umgehen – das wäre geradezu aberwitzig. Aber ihre eigenen Vorstellungen von Erziehung können diese Eltern rational kontrollieren.
[V74:31] Und das lernen sie an unseren Hochschulen?
[V74:32] Mollenhauer: Ich hoffe es. Gewiß nicht nur dort, aber die Hochschule ist der auf das Lernen von Rationalität verpflichtete institutionalisierte Ort.
[V74:33] Und die Qualifikationsfunktion der Universität?
[V74:34] Mollenhauer: Sie tritt dieser Bildungsfunktion gleichberechtigt zur Seite und ist auf die zukünftige Berufspraxis bezogen. Die Gesellschaft spricht zu Recht die Erwartung an Studierende aus, daß auf ihren Hochschulen gesellschaftlich verwendbares und beruflich nützliches Wissen akkumuliert wird.
[V74:35] Haben Sie den Eindruck, daß unsere 238 bundesdeutschen Hochschulen, ihre gut 30000 Professoren und ca. 1,5 Millionen Studenten sowohl die Bildungs- als auch die Qualifikationsfunktion ernstnehmen?
[V74:36] Mollenhauer: Das zu erforschen, wäre wichtig.
[V74:37] Ich fragte: Haben Sie den Eindruck?
[V74:38] Mollenhauer: Die aktuellen Auseinandersetzungen etwa über Expertenwissen, über Gutachtertätigkeiten, über Politikberatung, ökologische Gutachten, Etatkürzungen usw. zeigen, daß gerade die heutige Universität, in der ja nicht nur angehende Pädagogen, sondern auch und viel zahlreicher zukünftige Betriebswirte und Physiker sitzen, der Gefahr ausgesetzt ist, ihre kritische Funktion zu verlieren. Sollte sich die nachwachsende akademische Generation in diesem Sinne instrumentalisieren lassen, würde |a 88|die europäische Universitätsidee endgültig verabschiedet werden.
[V74:39] Immer wieder haben Sie gefordert,
daß die Studierenden am Erkenntnisprozeß beteiligt werden
, mehr noch: Sie verlangten (in
Erziehung und Emanzipation
, S. 53
)
die Anleitung zu kollektiven Prozessen wissenschaftlicher Arbeit, von der Herstellung von Referaten in kleinen Gruppen bis hin zur Beteiligung an Forschungsvorhaben im Zusammenhang der Institute, die Beteiligung der Studenten an der Planung von Lehr- und Forschungsvorhaben, (gar) die Öffentlichkeit aller die Wissenschaft betreffenden Instituts-Entscheidungen.
Das habe ich 1968 mit dicken Ausrufungs-, 20 Jahre später mit dünnen Fragezeichen versehen. Zwei Fragen dazu: Waren solche Sätze die obligaten Kotaus vor den kritischen Studenten der 68er-Revolte? Und: Inwiefern wurden diese schönen Forderungen (nicht in den Instituten Ihrer Kollegen, sondern) in Ihrem eigenen Institut, in Ihren eigenen Veranstaltungen, eingelöst?
[V74:40] Mollenhauer: Ich glaube, für mich trifft das mit den
Kotaus
nicht zu. Schon 1965, also noch vor der Studentenbewegung, bot ich in Berlin ein Seminar über Herbert Marcuses
Triebstruktur und Gesellschaft
an, was damals kein anderer Pädagoge tat – und zwar nicht aus modischen Absichten, sondern weil ich es für einen historisch notwendigen Schritt hielt, von der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
à la Herman Nohl weg- und hinzukommen zu einer sozialwissenschaftlich aufgeklärten Pädagogik. Das hat selbst die SDS-Studenten jener vorkritischen Phase erstaunt. Als ich dann nach Kiel kam, war ich folglich eher in der Rolle eines
Vorreiters
und hatte Kotaus ganz und gar nicht nötig. Zu Ihrer zweiten Frage vielleicht dies: [V74:41] Mein Orientierungspunkt ist nach wie vor eine Forschungspraxis, an der die Studierenden so früh wie möglich und so intensiv wie möglich beteiligt werden. Inwiefern dies praktisch geschieht, auch bei mir, hängt nicht nur vom guten oder bösen Willen freundlicher oder autoritärer Ordinarien ab, sondern liegt gleichfalls in der Diskrepanz zwischen Sein und Sollen: zwischen hochschuldidaktischen Gegebenheiten und Möglichkeiten. So wie sich der rationale Diskurs an der leidigen Realität reiben muß, so wird man auch als auf die Partizipation der Studenten hinwirkender Hochschullehrer seine Ernüchterungen aushalten müssen. Wenn ich an meine damaligen Forschungsvorhaben denke (etwa an eine empirische Untersuchung zur evangelischen Jugendarbeit, an eine Jugendhilfe-Studie, eine Familienuntersuchung), kann ich feststellen, daß sich viele Studenten gerade in solchen Forschungsprozessen qualifizieren konnten.
[V74:42] Würden Sie das bitte konkretisieren?
[V74:43] Mollenhauer: Etwa durch das Abfassen von Examensarbeiten oder auch durch Mitwirkung an den strategischen Entscheidungen des Forschungsprojektes entstanden solche Qualifizierungen.
[V74:44] Und dennoch, so sagen Sie, mußten Sie auch
Ernüchterung
aushalten. Können Sie dies verdeutlichen?
[V74:45] Mollenhauer: In dem bereits erwähnten ersten und vom Deutschen Jugendinstitut finanzierten Forschungsprojekt tauchten kaum Schwierigkeiten auf. Als ich aber nach Frankfurt wechselte, habe ich ein von der DFG finanziertes Projekt begonnen, eine Jugendhilfeuntersuchung, im Stile einer Regionalstudie über die Frankfurter Nord-West-Stadt. Auch dort und damals begann ich mit denselben Vorgaben, aber es entstanden schon bald innerhalb der Forschungs-Gruppe Auseinandersetzungen sowie Mehrheitsentscheidungen, die ich nicht mehr billigen konnte. Und wenn ich in den Konflikt zwischen den Idealen einer möglichst großen Studentenmitwirkung und wissenschaftlicher Standards gerate, entscheide ich mich letztlich für die Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens. Im Augenblick habe ich wieder ein Forschungsvorhaben übernommen ...
[V74:46] ..., über das wir noch sprechen werden ...
[V74:47] Mollenhauer: ... und bei dem ich wiederum die alten Ideale zu realisieren versuche.
[V74:48] Sicherlich hängen die besagten Schwierigkeiten nicht nur vom guten oder bösen Willen einzelner Ordinarien ab. Wovon aber eher und stärker? Sind die Studenten anders oder wir Hochschullehrer nur müde geworden?
[V74:49] Mollenhauer: Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre waren die politischen Perspektiven von Forschungsprozessen für die Studenten so wichtig, daß sie alles andere in den Hintergrund rückten. Das hatte Vor- und Nachteile. Dem hohen Engagement stand nicht selten manche Dogmatik gegenüber sowie sehr viel Gruppendynamik, die damals in die Pädagogik eindrang. Dieses Herantragen gruppendynamischer Reflexionen in eine Forschungsgruppe hat zusätzliche Probleme gebracht. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß wir in dem Frankfurter Projekt gewiß ein halbes Jahr lang nur über unsere
Innereien
geredet haben. Diese beiden Komponenten (gelegentliche Dogmatik und sehr viel Gruppendynamik) haben Forschungen damals erheblich erschwert. Die heutigen Studenten, jedenfalls die heutigen Pädagogik-Studenten, haben sehr viel weniger theoretische bzw. forschungsorientierte und viel mehr praktische Interessen. Auch ist unsere Ausbildung nicht besser, sondern eher schlechter geworden, so daß es von diesem doppelten Dilemma her schwieriger wird, qualifizierte Studenten für anspruchsvolle Forschungen und theoriegeleitetes Studieren zu gewinnen. Im Vordergrund stehen heute für viele Studenten berufspraktische Qualifikationen.
[V74:50] Woran liegt das?
[V74:51] Mollenhauer: Ich weiß es nicht. Wissen Sie es?
[V74:52] Dann müßten Sie mich interviewen – sagen wir, wenn ich sechzig bin.
[V74:53] Mollenhauer: Vielleicht haben Sie aber eine Hypothese, an der entlang ich Zustimmung oder Widerspruch äußern kann.
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[V74:54] Nun, auch wenn die folgenden Stichworte häufig fallen, sind sie deshalb nicht gleich falsch:
Perspektivlosigkeit
, die relativ geringe
Wirkung von Theorien
, das
Stagnieren von Reformen
,
Sinnkrise
u.ä.m.
[V74:55] Mollenhauer: Ich sehe auch mehrere Einflüsse. Zum einen: Durch die Einrichtung von Diplom- bzw. Magisterstudiengängen in unserem Fach ist in den letzten Jahren eine Population an die Universitäten gekommen, die früher zur Fachhochschule oder zur Höheren Fachschule für Sozialarbeit gegangen ist. Heute machen diese Studenten ihren Dipl.-Päd. oder M.A., sind aber von einem ähnlichen berufspraktischen Interesse geleitet wie früher die Sozialarbeiter oder Sozialpädagogen. Gelegentlich sage ich dies auch meinen Studenten, wofür ich natürlich nicht nur Beifall erhalte. Zum anderen haben die sinkenden Berufschancen natürlich auch die Studienmotivation in Mitleidenschaft gezogen. Auch die sinkenden Chancen, im Forschungsbereich über das Studium hinaus tätig zu sein, spielen eine verheerende Rolle. Wer sich vor 20 Jahren an einem von mir geleiteten Forschungsprojekt beteiligte, dem konnte ich geradezu garantieren, daß er eine wissenschaftliche Stelle erhielt. Schließlich spielen auch, jedenfalls in der Pädagogik, sogenannte postmoderne oder
New Age
-Orientierungen eine Rolle;
Selbsterfahrung
ist manchem Studenten wichtiger als präzise Argumentation.
[V74:56] Mein Doktorvater pflegte gelegentlich und nicht nur scherzhaft zu sagen:
Wer meinen Lehrstuhl haben will, muß mich schon umbringen.
Heute sage ich meinen Doktoranden:
Ihr könnt euren Chef ruhig umbringen, die Stelle wird anschließend gestrichen ...
Betrügen wir also unseren wissenschaftlichen Nachwuchs nicht gerade um jene ödipale Erfahrung eines notwendigen Konkurrierens, wenn wir ihn beruflich mehr oder weniger
köpfen
?
[V74:57] Mollenhauer: Ja, das sehe ich ähnlich, wenngleich ich dafür nicht den Ödipus-Mythos bemühen würde. Und doch liegen darin auch Chancen. Viele Studenten kommen heute gewiß mit einer desolaten Berufsperspektive an die Hochschulen. Gerade weil sie aber nicht wissen, ob sie mit Hilfe des Studiums später eine Stelle bekommen werden, nutzen sie die Chance für eine neue Art akademischer Bildung. So entsteht paradoxerweise wieder ein originäres Interesse an Theorie und Forschung – um der Selbstbildung willen. Es könnte einem erscheinen wie eine List der historischen Vernunft: Wird – durch akademische Arbeitslosigkeit – die Hochschulausbildung vom Arbeitsmarkt abgekoppelt, in einigen Fächern, hat die Universitätsidee Humboldts, nach 180 Jahren wieder eine kleine Chance.

Wissenschaftstheorien

[V74:58] Nun kann und sollte man über Forschung und Lehre nicht reden, ohne wenigstens in Umrissen die sie leitende(n) Wissenschaftstheorie(n) zu markieren ...
[V74:59] Mollenhauer: ... wieder so ein Riesenproblem!
[V74:60] Natürlich, und doch: Ab und zu müssen wir bekanntlich auf die Riesen klettern, um weit genug sehen zu können. – Auch in diesem vierten Problembereich lassen sich bei Ihnen Entwicklungen, vielleicht auch Mäander oder gar Verwerfungen, feststellen. Anfangs haben Sie ja nicht nur die Wissenschaftstheorie der
Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
, sondern auch die Position von Wolfgang Brezinka heftig kritisiert, das heißt: weder eine unkritische Hermeneutik noch eine strenge Empirie als hinreichend für die Erziehungswissenschaft hingenommen. Konnten Sie sich bereits als Student eine wissenschaftstheoretische Position erarbeiten?
[V74:61] Mollenhauer: Ach, was! Als Student war ich diesbezüglich relativ naiv. Wissenschaftstheoretische Diskussionen gab es während meines Studiums hier in Göttingen allenfalls in Auseinandersetzung mit Dilthey. Natürlich lasen wir Frischeisen-Köhler und Litt, aber verstärkt beschäftigten wir uns mit der Diltheyschen Position einer
Rekonstruktion von Lebenswelten
, so würde man heute sagen, und versuchten uns (ungefähr um 1956!) allenfalls mit soziologischen Denkfiguren vertraut zu machen. Das alles war relativ bescheiden und irgendwo zwischen einem sanften Neu-Kantianismus und der Hermeneutik lokalisiert. Als Student jedenfalls hatte ich keine Ahnung davon, daß es so etwas wie schwierige wissenschaftstheoretische Kontroversen aufgrund verschiedener Wissenschaftstheorien geben könnte.
[V74:62] Dann kam 1968 und Ihre Kritik an den wissenschaftstheoretischen Vätern auf der einen und an den positivistischen Kollegen wie dem fast gleichaltrigen Wolfgang Brezinka auf der anderen Seite.
[V74:63] Mollenhauer: Rückschauend muß ich an meiner eigenen Kritik Kritik üben. Denn was ich damals schrieb, war zu apodiktisch, zu kurz formuliert und nicht sorgfältig genug begründet. Nach wie vor geht mein erster Vorwurf dahin – und die jüngste Kontroverse mit Brezinka in der ZfPäd hat dies bestätigt –, daß in seiner Erziehungstheorie das Generationenverhältnis als ein technologisch beschreibbares Verhältnis zwischen einem Macher und einem Gemachten bestimmt wird. Davon ist Brezinka bis heute nicht abgegangen; alles andere verweist er in den Bereich der Erziehungsphilosophie. Damit etabliert er aber eine Beziehungsfigur für das Erziehungsverhältnis, die es allen Verfügungs- und Verwertungsinteressen leicht macht, in den von Nohl ganz anders gedachten
Pädagogischen Bezug
einzubrechen. Wenn auf der einen Seite jemand ist, der über die Sozialisations- und Lernprozesse das nötige Verfügungswissen besitzt, und auf der anderen jemand, der nach Maßgabe dieses Wissens auf den Weg gebracht werden soll, dann gibt es keine Möglichkeit mehr, mit wissenschaftlichen Argumenten von beiden Seiten her diesen Vorgang zu kritisieren, also Partizipation herzustellen. Und dadurch, daß Brezinka die in jedem Erziehungsprozeß enthaltenen Werte in die Erziehungsphilosophie oder eine Erziehungslehre verlagert, entzieht er sie dem wissenschaftlichen Diskurs. Diese technologische Vorstel|a 90|lung von Erziehung macht sein Modell in hohem Maße anfällig für jede Form des politischen Mißbrauchs bzw. der politischen Indoktrination.
[V74:64] Und der zweite Vorwurf?
[V74:65] Mollenhauer: Darüber hinaus bezweifle ich, daß der Typus von Kausalitätsannahmen, mit denen man operieren muß, wenn man den Erziehungsvorgang technologisch versteht, überhaupt angemessen ist. Trivial gesprochen: Es gibt keine wissenschaftlich zuverlässige Möglichkeit, Prognosen im Hinblick auf das zu formulieren, was aus Kindern wird, wenn sie so oder anders behandelt werden. All unser edukatives Wissen ist ex post; und ein solches Wissen-im-nachhinein ist sozusagen nur ein statistisches Durchschnittswissen. Wir können allenfalls sagen: Wenn das gesamte Umfeld in dieser oder jener Weise gestaltet ist, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit ... Sie kennen diese Aussagen. Im konkreten Erziehungsprozeß aber nutzen mir solche Kausalitätsannahmen rein gar nichts!
[V74:66] Gar nichts?
[V74:67] Mollenhauer: Also gut, das war übertrieben gesagt. Wenn zum Beispiel ein 9jähriges Kind jeden Abend bis 22 Uhr am Fernseher sitzt und die Eltern, weil sie sich
antiautoritär
dünken, das Kind nicht rechtzeitig ins Bett schicken, dann ist die Kausalitätsannahme nicht ganz unwahrscheinlich, daß dieses Kind morgens in der Schule müde und desorientiert sein wird. Mit einer solchen Kausalitätsannahme operiert jedoch jeder Alltag, sie ist Bestandteil jeder Alltagsrationalität. Wenn wir aber die besondere Charakteristik dieses Generationenfeldes (
fernsehendes Kind
auf der einen sowie
antiautoritäre Eltern
auf der anderen Seite) ins Auge fassen wollen, dann kommt die alte
Geisteswissenschaft
zum Tragen, denn jetzt geht es um Hermeneutik, um ein hermeneutisches, ein auf Verstehen angewiesenes Verhältnis. Ich müßte nämlich wissen, welchen Lebenssinn die Eltern mit ihrer Attitüde verbinden, ob ihr Sinnentwurf nicht vielleicht selbstwidersprüchlich ist oder mit welchen Gründen vielleicht die
Kausalitätsannahme
als wenig bedeutungsvoll zurücktreten darf usw. Da bin ich gefordert als jemand, der Zeichen und Verhaltensweisen entschlüsselt, Bedeutungen transparent macht und zur Sprache bringt.
[V74:68] Und die andere Seite in diesem Generationenverhältnis? Ist sie nur auf mein Verstehen angewiesen? Bleibt sie also weitgehend passiv?
[V74:69] Mollenhauer: Ganz und gar nicht! Wenn ich in ein Kinderzimmer oder eine Schulklasse gehe und – sagen wir – ein Bild aufhänge, mache ich keine Kausalitätsannahme, wohl aber einen symbolischen Akt der Repräsentation von etwas, den nun das Kind oder der Schüler entschlüsseln kann oder muß – auf welchem kognitiven Niveau auch immer.
[V74:70] Sie haben also ...
[V74:71] Mollenhauer: ... nichts gegen die empirisch-analytischen Wissenschaften, wohl aber viel gegen ihre technologischen Verengungen. Auch die empirisch-analytische Wissenschaftstheorie als eine sehr zuverlässige Form des Nachdenkens über methodologische Probleme findet meine Akzeptanz.
[V74:72] Wie würden Sie diese Ihre Position kennzeichnen?
[V74:73] Mollenhauer: Gar nicht.
[V74:74] Also: Anything goes?
[V74:75] Mollenhauer: Nein, das wäre ja auch eine längst beschriebene Position, eine des wissenschaftstheoretischen Anarchismus nämlich. Diese Position aber widerlegt sich darüber hinaus selbst. Paul Feyerabend hat in seinen Büchern
Erkenntnis für freie Menschen
sowie
Wider den Methodenzwang
seine Ansichten sorgfältig begründet, die Quellen studiert und ausgelegt. Daß man also zumindest auf eine kontrollierte Art und Weise miteinander kommunizieren muß, sollte er zugeben. Anderenfalls hebt er sich selbst aus dem Sattel oder beteiligt sich nicht mehr am Diskurs ... Nein, für erziehungswissenschaftliches Nachdenken ist es wenig hilfreich, sich einer wissenschaftstheoretischen Position zu verschreiben, gleichwohl ...
[V74:76] ... man eine solche hat – ob man sie zugibt oder nicht. Welche, noch einmal gefragt, haben Sie?
[V74:77] Mollenhauer: In den 30er Jahren fand in den USA ein großer Kongreß unter Beteiligung von Philosophen und Wissenschaftstheoretikern statt, auf dem sich auch Paul Lazarsfeld zu Wort meldete und als einer der erfahrensten sowie kompetentesten Empiriker seinen Kollegen folgendes vorwarf: Ihr Philosophen macht uns dauernd Vorschriften über die Regeln und Normen von Forschung anstatt euch anzuschauen, was wir da machen, und uns, wenn ihr das nicht gut findet, zu sagen, warum das nicht gut ist, so daß wir es besser machen können ... Wer im philosophischen Seminar sitzt und die Erkenntnisse von theoretischen Problemen der Wissenschaft erörtert, kann mir, dem Forschungspraktiker, sicherlich die eine oder andere kluge Frage stellen, eine Frage, die ich mir selber womöglich nicht stellen konnte. Und wenn er sie klug und verständlich genug stellt, werde ich durch seine Frage unter Umständen ein bißchen klüger. So sehe ich das Verhältnis zwischen Wissenschaftspraxis und Wissenschaftstheorie; und darin liegt der Grund, warum ich heute nicht mehr – wie noch vor 20 Jahren naiverweise – sagen kann: Ich vertrete diese oder jene wissenschaftstheoretische Position.
[V74:78] Das wird man (wenn schon nicht akzeptieren, so doch) respektieren müssen. Nach welchen Gütekriterien wird denn in Ihrer pädagogischen Werkstatt gearbeitet?
[V74:79] Mollenhauer: Ich frage mich natürlich, ob das, was ich da arbeite, valide ist, ob ich also wirklich das bearbeite, was ich im Auge habe. Ich frage aber auch, ob meine Arbeit reliabel ist, zuverlässig also bezogen auf die Forschungsprozeduren, die andere nachvollziehen müssen und können. Ich frage mich im Ganzen, angesichts jedes neuen Gegenstandes immer wieder neu, mit welchen Argumenten eine vorgetragene Behauptung begründet werden |a 91|könnte, und ich finde dabei in den theoretischen Diskursen seit ca. 1750 ein hinreichend großes Arsenal von Begriffen, Verfahren und Theorien. Ansonsten schwanken meine Methoden von Gegenstand zu Gegenstand.
[V74:80] Können Sie Beispiele nennen?
[V74:81] Mollenhauer: Wenn ich einen autobiographischen Text des 17. Jahrhunderts interpretiere, bin ich in einer – wie der harte Empiriker sagen würde – Zone relativer Unzuverlässigkeit. Denn die Rekonstruktion von Textbedeutungen kann natürlich nicht in der gleichen Weise überprüft werden wie – sagen wir – ein Intelligenztest, der durch Eichung und stets neue Erprobung immer zuverlässiger gemacht wird. Und doch ist Hermeneutik nicht der journalistische Rand von Wissenschaft oder gar ein windiges Verfahren, sondern eine legitime Verstehensweise gegenüber schwierigen Sachverhalten, die man ohne sie gar nicht erforschen könnte. Insofern stören mich bei einer solchen Arbeit Vorwürfe der Empiriker überhaupt nicht, deren Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ein reines Ausgrenzungsargument ist. Mich stören aber auch die Vorwürfe der Hermeneutiker nicht, wenn ich eine Erhebung durchführe und mich dabei empirisch-statistischer Verfahren bediene.
[V74:82] Eine Position, die Karl-Otto-Apel und seinem
Erklären-und-Verstehen
nahesteht.
[V74:83] Mollenhauer: Ja! Leider steht Apel oft im Schatten von Habermas, was ich in meinen Schriften gelegentlich zu korrigieren bemüht war. Ich fühle mich jedenfalls in der Meinung bestärkt, daß es vernünftig ist, an einem rechtverstandenen Begriff von Hermeneutik als dem methodischen Zentrum unserer Wissenschaft ohne Abwertung der Empirie festzuhalten.