Hochschuldidaktische Probleme
[V74:3] Ein zweiter
Themenkomplex, der auch bereits in Ihrem Buch
„
Erziehung und
Emanzipation“
zu Wort kommt,
beinhaltet hochschuldidaktische
Probleme.
[V74:4] Mollenhauer:
„
Erziehung und
Emanzipation“
war und ist ja auch
ein Buch für Studenten, für angehende Lehrer und
Erzieher.
[V74:5] In diesem
hochschuldidaktischen Komplex stecken Probleme wie
„Universität und Gesellschaft“
,
„Hochschule und Staat“
, aber
auch die
„Bildung junger
Erwachsener“
. Hat die Hochschule einen
Bildungsauftrag?
[V74:6] Mollenhauer: Jedem Erkennen ist eine Bildungsfunktion
eigen; jedes wissenschaftliche Arbeiten besitzt
eine didaktische Dimension. Die Hochschule hat
aber nicht eine neben Forschung und Lehre
angesiedelte pädagogische Aufgabe im Sinne einer
Erziehung der Studenten.
[V74:7] Deswegen auch
Ihre Kritik an der Denkschrift
zur Gründung einer Universität in
Bremen?
[V74:8] Mollenhauer: Ja! Hochschuldidaktisch bin ich
ausgesprochen traditionalistisch und orientiere
mich eher an den Denkschriften zur Gründung der
Berliner
Universität Anfang des vorigen Jahrhunderts.
[V74:9] Was heißt
das?
[V74:10] Mollenhauer: Die Universität ist und soll bleiben der
Ort wissenschaftlichen Argumentierens. Dieser Ort
hat – wie gesagt – eine inhärente
Bildungsmöglichkeit, nicht aber eine manifeste
Erziehungsfunktion. Natürlich gibt es so etwas wie
„Pädagogik“
an unseren
Hochschulen, soll es auch geben, aber eher als
studentische Lebensform, als ein soziales Klima
unter Hochschullehrern und Studierenden, als
notwendiges Umfeld akademischen Lernens, nicht
aber als Wesensmerkmal der institutionalisierten
Wissenschaft.
[V74:11] Welche Rolle
schreiben Sie denn heute unseren Hochschulen
zu?
[V74:12] Mollenhauer: Ach, du meine Güte! Sie stellen aber
schwierige Fragen.
[V74:13] Das ist meine
Aufgabe.
|a 87|
[V74:14] Mollenhauer: Ich will auch nicht kneifen, aber darauf
hinweisen, daß meine Antwort notwendigerweise
nicht auf alle damit verbundenen Probleme eingehen
kann. Die Rolle unserer Hochschulen hat etwas mit
der Wissenschaftsgeschichte zu tun, aber auch mit
der Wissenssoziologie; mit der
Institutionalisierung von Wissenschaft, aber auch
dem Beschäftigungssystem und vielem anderen mehr.
Ich habe ja mal gesagt, daß Wissenschaft für die
Ausbreitung von Rationalität zuständig sei,
konkret: Als Wissenschaftler habe ich geltend zu
machen, daß meine Arbeit, meine Lehrveranstaltung
zum Beispiel, ein Ort argumentativen Austausches
über denjenigen Typ von Lebensproblemen darstellt,
den wir Erziehung und Bildung nennen. Darin liegt
letzten Endes auch das Kriterium für die Güte
meiner akademischen Arbeit. Ob mir das stets
gelingt, ob ich den Studenten Überzeugungen
beibringen kann, ob ich nett zu ihnen bin oder ein
Ethos ihnen vermittle, das alles ist nicht
unwichtig, aber gemessen an meiner Aufgabe als
Wissenschaftler sekundär. Primär geht es darum,
Studenten zu einer argumentativen, kritischen
Auseinandersetzung mit den pädagogischen
Komponenten des Lebens inmitten wissenschaftlichen
Arbeitens zu befähigen.
[V74:15] Das heißt:
Absage an alle ideologischen Ansprüche?
[V74:16] Mollenhauer: Ja.
[V74:17] Ich spüre aus
Ihrer Erregung aber auch eine Absage an das, was
heute
„Selbsterfahrung“
genannt
wird und die Hochschule als emotionalen Uterus
sucht.
[V74:18] Mollenhauer: Das vermuten Sie richtig, denn darin
liegt die Preisgabe von Wissenschaft.
[V74:19] Nun kann man
aber noch eine dritte Position vertreten: Die
Hochschule nicht nur als ein Ort zur Ausbreitung
von Rationalität und schon gar nicht als eine
Kultstätte der Selbsterfahrung, vielleicht aber
als eine Gelegenheit der Bildung – meiner
selbst.
[V74:20] Mollenhauer: Wenn man diese Position, die bekanntlich
auf Überlegungen Humboldts, Schleiermachers oder Fichtes fußt,
dahingehend versteht, daß sich im Medium von
Wissenschaft immer schon Bildung vollzieht,
kritische Bildung, empfinde ich sie der ersten
gegenüber nicht als Gegensatz. Selbstbildung
bedarf der Argumentationskultur von
Wissenschaft.
[V74:21] Bildung im
Medium des rational kontrollierten Argumentes
sowie eingebettet in ein humanes Klima – wäre dies
Aufgabe der heutigen Universität?
[V74:22] Mollenhauer: Ja, und eine solche Bildung ist
fortsetzungsfähig und
fortsetzungsmöglich.
[V74:23]
„Einsamkeit und Freiheit“
, die
gleichlautende Schrift von Helmut
Schelsky aus dem Jahre 1963 ...
[V74:24] Mollenhauer: ... hat mich damals sehr überzeugt und
sollte heute noch gelesen werden.
[V74:25] Was erwarten
Sie von einem Lehrer, einer Sozialarbeiterin,
einem Vater, einer Mutter, die bei Ihnen in diesem
Sinn Pädagogik studiert haben? Anders gefragt:
Welchen Sinn hat es, am Pädagogischen Seminar der Göttinger
Universität an der Ausbreitung von
Rationalität beteiligt gewesen zu sein und
anschließend in gesellschaftlichen Subsystemen zu
leben, denen daran selten gelegen ist?
[V74:26] Mollenhauer: Daß der in der neuzeitlichen
Wissenschaft entwickelte Typus der rationalen
Argumentation laufend in Dysfunktionalitäten
gerät, ist ja nichts Neues und liegt gleichsam in
der Natur der Sache, denn ein in dieser Selbst-
und Weltbefragung lebender Mensch repräsentiert
nicht schon die gesellschaftliche Realität, aber
ihre Potentialität.
[V74:27] Ein Stückchen
„herrschaftsfreien Diskurs“
in
der Vorwegnahme?
[V74:28] Mollenhauer: In dem von uns vorweg beschriebenen
Typus von
„Gebildetheit“
flackert eine Art Impuls des Verbesserns, des
Genauerwerdens, des Richtigermachens, was Habermas mit Diskurs
übersetzt, einer Lebensführung also, die über
eigene Gründe verfügt und sich um zukunftsfähige
Begründungen bemüht.
[V74:29] Geht das denn,
in Schulen und Kindergärten, in Familien und
Erziehungsheimen ?
[V74:30] Mollenhauer: Gewiß nicht in dem Sinne, daß Eltern mit
ihrem neugeborenen Kind argumentativ-rational
umgehen – das wäre geradezu aberwitzig. Aber ihre
eigenen Vorstellungen von Erziehung können diese
Eltern rational kontrollieren.
[V74:31] Und das lernen
sie an unseren Hochschulen?
[V74:32] Mollenhauer: Ich hoffe es. Gewiß nicht nur dort, aber die Hochschule
ist der auf das Lernen von Rationalität
verpflichtete institutionalisierte Ort.
[V74:33] Und die
Qualifikationsfunktion der Universität?
[V74:34] Mollenhauer: Sie tritt dieser Bildungsfunktion
gleichberechtigt zur Seite und ist auf die
zukünftige Berufspraxis bezogen. Die Gesellschaft
spricht zu Recht die Erwartung an Studierende aus,
daß auf ihren Hochschulen gesellschaftlich
verwendbares und beruflich nützliches Wissen
akkumuliert wird.
[V74:35] Haben Sie den
Eindruck, daß unsere 238 bundesdeutschen
Hochschulen, ihre gut 30000 Professoren und ca.
1,5 Millionen Studenten sowohl die Bildungs- als
auch die Qualifikationsfunktion
ernstnehmen?
[V74:36] Mollenhauer: Das zu erforschen, wäre
wichtig.
[V74:37] Ich fragte:
Haben Sie den Eindruck?
[V74:38] Mollenhauer: Die aktuellen Auseinandersetzungen etwa
über Expertenwissen, über Gutachtertätigkeiten,
über Politikberatung, ökologische Gutachten,
Etatkürzungen usw. zeigen, daß gerade die heutige
Universität, in der ja nicht nur angehende
Pädagogen, sondern auch und viel zahlreicher
zukünftige Betriebswirte und Physiker sitzen, der
Gefahr ausgesetzt ist, ihre kritische Funktion zu
verlieren. Sollte sich die nachwachsende
akademische Generation in diesem Sinne
instrumentalisieren lassen, würde |a 88|die europäische Universitätsidee endgültig
verabschiedet werden.
[V74:39] Immer wieder
haben Sie gefordert,
„daß die
Studierenden am Erkenntnisprozeß beteiligt
werden“
, mehr noch: Sie verlangten (in
„Erziehung und Emanzipation“
, S.
53
)
„die Anleitung zu kollektiven
Prozessen wissenschaftlicher Arbeit, von der
Herstellung von Referaten in kleinen Gruppen bis
hin zur Beteiligung an Forschungsvorhaben im
Zusammenhang der Institute, die Beteiligung der
Studenten an der Planung von „Lehr- und Forschungsvorhaben, (gar) die
Öffentlichkeit aller die Wissenschaft betreffenden
Instituts-Entscheidungen.“
Das habe ich 1968
mit dicken Ausrufungs-, 20 Jahre später mit dünnen
Fragezeichen versehen. Zwei Fragen dazu: Waren
solche Sätze die obligaten Kotaus vor den
kritischen Studenten der 68er-Revolte? Und:
Inwiefern wurden diese schönen Forderungen (nicht
in den Instituten Ihrer Kollegen, sondern) in
Ihrem eigenen Institut, in Ihren eigenen
Veranstaltungen, eingelöst?
[V74:40] Mollenhauer: Ich glaube, für mich trifft das mit den
„Kotaus“
nicht zu. Schon 1965,
also noch vor der Studentenbewegung, bot ich in
Berlin ein Seminar über Herbert
Marcuses
„Triebstruktur und
Gesellschaft“
an, was damals kein
anderer Pädagoge tat – und zwar nicht aus
modischen Absichten, sondern weil ich es für einen
historisch notwendigen Schritt hielt, von der
„Geisteswissenschaftlichen
Pädagogik“
à la Herman
Nohl weg- und hinzukommen zu einer
sozialwissenschaftlich aufgeklärten Pädagogik. Das
hat selbst die SDS-Studenten jener vorkritischen
Phase erstaunt. Als ich dann nach Kiel kam, war
ich folglich eher in der Rolle eines
„Vorreiters“
und hatte Kotaus ganz
und gar nicht nötig. Zu Ihrer zweiten Frage
vielleicht dies: [V74:41] Mein Orientierungspunkt ist nach
wie vor eine Forschungspraxis, an der die
Studierenden so früh wie möglich und so intensiv
wie möglich beteiligt werden. Inwiefern dies
praktisch geschieht, auch bei mir, hängt nicht nur
vom guten oder bösen Willen freundlicher oder
autoritärer Ordinarien ab, sondern liegt
gleichfalls in der Diskrepanz zwischen Sein und
Sollen: zwischen hochschuldidaktischen
Gegebenheiten und Möglichkeiten. So wie sich der
rationale Diskurs an der leidigen Realität reiben
muß, so wird man auch als auf die Partizipation
der Studenten hinwirkender Hochschullehrer seine
Ernüchterungen aushalten müssen. Wenn ich an meine
damaligen Forschungsvorhaben denke (etwa an eine
empirische Untersuchung
zur evangelischen Jugendarbeit, an
eine Jugendhilfe-Studie, eine Familienuntersuchung), kann ich
feststellen, daß sich viele Studenten gerade in
solchen Forschungsprozessen qualifizieren
konnten.
[V74:42] Würden Sie
das bitte konkretisieren?
[V74:43] Mollenhauer: Etwa durch das Abfassen von
Examensarbeiten oder auch durch Mitwirkung an den
strategischen Entscheidungen des
Forschungsprojektes entstanden solche
Qualifizierungen.
[V74:44] Und dennoch, so
sagen Sie, mußten Sie auch
„Ernüchterung“
aushalten. Können Sie dies
verdeutlichen?
[V74:45] Mollenhauer: In dem bereits erwähnten ersten und vom
Deutschen
Jugendinstitut finanzierten
Forschungsprojekt tauchten kaum Schwierigkeiten
auf. Als ich aber nach Frankfurt wechselte, habe
ich ein von der DFG finanziertes Projekt
begonnen, eine Jugendhilfeuntersuchung, im Stile
einer Regionalstudie über die Frankfurter
Nord-West-Stadt. Auch dort und damals begann ich
mit denselben Vorgaben, aber es entstanden schon
bald innerhalb der Forschungs-Gruppe
Auseinandersetzungen sowie
Mehrheitsentscheidungen, die ich nicht mehr
billigen konnte. Und wenn ich in den Konflikt
zwischen den Idealen einer möglichst großen
Studentenmitwirkung und wissenschaftlicher
Standards gerate, entscheide ich mich letztlich
für die Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens. Im
Augenblick habe ich wieder ein Forschungsvorhaben
übernommen ...
[V74:46] ..., über das
wir noch sprechen werden ...
[V74:47] Mollenhauer: ... und bei dem ich wiederum die alten
Ideale zu realisieren versuche.
[V74:48] Sicherlich
hängen die besagten Schwierigkeiten nicht nur vom
guten oder bösen Willen einzelner Ordinarien ab.
Wovon aber eher und stärker? Sind die Studenten
anders oder wir Hochschullehrer nur müde
geworden?
[V74:49] Mollenhauer: Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre
waren die politischen Perspektiven von
Forschungsprozessen für die Studenten so wichtig,
daß sie alles andere in den Hintergrund rückten.
Das hatte Vor- und Nachteile. Dem hohen Engagement
stand nicht selten manche Dogmatik gegenüber sowie
sehr viel Gruppendynamik, die damals in die
Pädagogik eindrang. Dieses Herantragen
gruppendynamischer Reflexionen in eine
Forschungsgruppe hat zusätzliche Probleme
gebracht. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß wir
in dem Frankfurter Projekt gewiß ein halbes Jahr
lang nur über unsere
„Innereien“
geredet haben. Diese beiden
Komponenten (gelegentliche Dogmatik und sehr viel
Gruppendynamik) haben Forschungen damals erheblich
erschwert. Die heutigen Studenten, jedenfalls die
heutigen Pädagogik-Studenten, haben sehr viel
weniger theoretische bzw. forschungsorientierte
und viel mehr praktische Interessen. Auch ist
unsere Ausbildung nicht besser, sondern eher
schlechter geworden, so daß es von diesem
doppelten Dilemma her schwieriger wird,
qualifizierte Studenten für anspruchsvolle
Forschungen und theoriegeleitetes Studieren zu
gewinnen. Im Vordergrund stehen heute für viele
Studenten berufspraktische
Qualifikationen.
[V74:50] Woran liegt
das?
[V74:51] Mollenhauer: Ich weiß es nicht. Wissen Sie
es?
[V74:52] Dann müßten Sie
mich interviewen – sagen wir, wenn ich sechzig
bin.
[V74:53] Mollenhauer: Vielleicht haben Sie aber eine
Hypothese, an der entlang ich Zustimmung oder
Widerspruch äußern kann.
|a 89|
[V74:54] Nun, auch wenn
die folgenden Stichworte häufig fallen, sind sie
deshalb nicht gleich falsch:
„Perspektivlosigkeit“
, die relativ geringe
„Wirkung von Theorien“
, das
„Stagnieren von Reformen“
,
„Sinnkrise“
u.ä.m.
[V74:55] Mollenhauer: Ich sehe auch mehrere Einflüsse. Zum
einen: Durch die Einrichtung von Diplom- bzw.
Magisterstudiengängen in unserem Fach ist in den
letzten Jahren eine Population an die
Universitäten gekommen, die früher zur
Fachhochschule oder zur Höheren Fachschule für
Sozialarbeit gegangen ist. Heute machen diese
Studenten ihren Dipl.-Päd. oder M.A., sind aber
von einem ähnlichen berufspraktischen Interesse
geleitet wie früher die Sozialarbeiter oder
Sozialpädagogen. Gelegentlich sage ich dies auch
meinen Studenten, wofür ich natürlich nicht nur
Beifall erhalte. Zum anderen haben die sinkenden
Berufschancen natürlich auch die Studienmotivation
in Mitleidenschaft gezogen. Auch die sinkenden
Chancen, im Forschungsbereich über das Studium
hinaus tätig zu sein, spielen eine verheerende
Rolle. Wer sich vor 20 Jahren an einem von mir
geleiteten Forschungsprojekt beteiligte, dem
konnte ich geradezu garantieren, daß er eine
wissenschaftliche Stelle erhielt. Schließlich
spielen auch, jedenfalls in der Pädagogik,
sogenannte postmoderne oder
„New
Age“
-Orientierungen eine Rolle;
„Selbsterfahrung“
ist manchem
Studenten wichtiger als präzise
Argumentation.
[V74:56] Mein
Doktorvater pflegte gelegentlich und nicht nur
scherzhaft zu sagen:
„Wer meinen
Lehrstuhl haben will, muß mich schon
umbringen.“
Heute sage ich meinen Doktoranden:
„Ihr könnt euren Chef ruhig
umbringen, die Stelle wird anschließend gestrichen
...“
Betrügen wir also unseren
wissenschaftlichen Nachwuchs nicht gerade um jene
ödipale Erfahrung eines notwendigen Konkurrierens,
wenn wir ihn beruflich mehr oder weniger
„köpfen“
?
[V74:57] Mollenhauer: Ja, das sehe ich ähnlich, wenngleich ich
dafür nicht den Ödipus-Mythos bemühen würde. Und doch
liegen darin auch Chancen. Viele Studenten kommen
heute gewiß mit einer desolaten Berufsperspektive
an die Hochschulen. Gerade weil sie aber nicht
wissen, ob sie mit Hilfe des Studiums später eine
Stelle bekommen werden, nutzen sie die Chance für
eine neue Art akademischer Bildung. So entsteht
paradoxerweise wieder ein originäres Interesse an
Theorie und Forschung – um der Selbstbildung
willen. Es könnte einem erscheinen wie eine List
der historischen Vernunft: Wird – durch
akademische Arbeitslosigkeit – die
Hochschulausbildung vom Arbeitsmarkt abgekoppelt,
in einigen Fächern, hat die Universitätsidee Humboldts, nach 180
Jahren wieder eine kleine Chance.
Wissenschaftstheorien
[V74:58] Nun kann und
sollte man über Forschung und Lehre nicht reden,
ohne wenigstens in Umrissen die sie leitende(n)
Wissenschaftstheorie(n) zu markieren
...
[V74:59] Mollenhauer: ... wieder so ein
Riesenproblem!
[V74:60] Natürlich, und
doch: Ab und zu müssen wir bekanntlich auf die
Riesen klettern, um weit genug sehen zu können. –
Auch in diesem vierten Problembereich lassen sich
bei Ihnen Entwicklungen, vielleicht auch Mäander
oder gar Verwerfungen, feststellen. Anfangs haben
Sie ja nicht nur die Wissenschaftstheorie der
„Geisteswissenschaftlichen
Pädagogik“
, sondern auch die Position von Wolfgang Brezinka heftig kritisiert, das
heißt: weder eine unkritische Hermeneutik noch
eine strenge Empirie als hinreichend für die
Erziehungswissenschaft hingenommen. Konnten Sie
sich bereits als Student eine
wissenschaftstheoretische Position
erarbeiten?
[V74:61] Mollenhauer: Ach, was! Als Student war ich
diesbezüglich relativ naiv.
Wissenschaftstheoretische Diskussionen gab es
während meines Studiums hier in Göttingen
allenfalls in Auseinandersetzung mit Dilthey. Natürlich
lasen wir Frischeisen-Köhler
und Litt, aber verstärkt
beschäftigten wir uns mit der Diltheyschen Position einer
„Rekonstruktion von Lebenswelten“
, so würde man
heute sagen, und versuchten uns (ungefähr um
1956!) allenfalls mit soziologischen Denkfiguren
vertraut zu machen. Das alles war relativ
bescheiden und irgendwo zwischen einem sanften
Neu-Kantianismus und der Hermeneutik lokalisiert.
Als Student jedenfalls hatte ich keine Ahnung
davon, daß es so etwas wie schwierige
wissenschaftstheoretische Kontroversen aufgrund
verschiedener Wissenschaftstheorien geben
könnte.
[V74:62] Dann kam 1968
und Ihre Kritik an den wissenschaftstheoretischen
Vätern auf der einen und an den positivistischen
Kollegen wie dem fast gleichaltrigen Wolfgang
Brezinka auf der anderen Seite.
[V74:63] Mollenhauer: Rückschauend muß ich an meiner eigenen
Kritik Kritik üben. Denn was ich damals schrieb,
war zu apodiktisch, zu kurz formuliert und nicht
sorgfältig genug begründet. Nach wie vor geht mein
erster Vorwurf dahin – und die jüngste Kontroverse
mit Brezinka in der ZfPäd hat dies
bestätigt –, daß in seiner Erziehungstheorie das
Generationenverhältnis als ein technologisch
beschreibbares Verhältnis zwischen einem Macher
und einem Gemachten bestimmt wird. Davon ist Brezinka bis heute
nicht abgegangen; alles andere verweist er in den
Bereich der Erziehungsphilosophie. Damit etabliert
er aber eine Beziehungsfigur für das
Erziehungsverhältnis, die es allen Verfügungs- und
Verwertungsinteressen leicht macht, in den von
Nohl ganz anders
gedachten
„Pädagogischen Bezug“
einzubrechen. Wenn auf der einen Seite jemand ist,
der über die Sozialisations- und Lernprozesse das
nötige Verfügungswissen besitzt, und auf der
anderen jemand, der nach Maßgabe dieses Wissens
auf den Weg gebracht werden soll, dann gibt es
keine Möglichkeit mehr, mit wissenschaftlichen
Argumenten von beiden Seiten her diesen Vorgang zu
kritisieren, also Partizipation herzustellen. Und
dadurch, daß Brezinka die in jedem
Erziehungsprozeß enthaltenen Werte in die
Erziehungsphilosophie oder eine Erziehungslehre
verlagert, entzieht er sie dem wissenschaftlichen
Diskurs. Diese technologische Vorstel|a 90|lung von Erziehung macht sein
Modell in hohem Maße anfällig für jede Form des
politischen Mißbrauchs bzw. der politischen
Indoktrination.
[V74:64] Und der zweite
Vorwurf?
[V74:65] Mollenhauer: Darüber hinaus bezweifle ich, daß der
Typus von Kausalitätsannahmen, mit denen man
operieren muß, wenn man den Erziehungsvorgang
technologisch versteht, überhaupt angemessen ist.
Trivial gesprochen: Es gibt keine wissenschaftlich
zuverlässige Möglichkeit, Prognosen im Hinblick
auf das zu formulieren, was aus Kindern wird, wenn
sie so oder anders behandelt werden. All unser
edukatives Wissen ist ex post; und ein solches Wissen-im-nachhinein ist sozusagen nur ein statistisches
Durchschnittswissen. Wir können allenfalls sagen:
Wenn das gesamte Umfeld in dieser oder jener Weise
gestaltet ist, dann erhöht sich die
Wahrscheinlichkeit ... Sie kennen diese Aussagen.
Im konkreten Erziehungsprozeß aber nutzen mir
solche Kausalitätsannahmen rein gar
nichts!
[V74:66] Gar
nichts?
[V74:67] Mollenhauer: Also gut, das war übertrieben gesagt.
Wenn zum Beispiel ein 9jähriges Kind jeden Abend
bis 22 Uhr am Fernseher sitzt und die Eltern, weil
sie sich
„antiautoritär“
dünken, das Kind nicht rechtzeitig ins Bett
schicken, dann ist die Kausalitätsannahme nicht
ganz unwahrscheinlich, daß dieses Kind morgens in
der Schule müde und desorientiert sein wird. Mit
einer solchen Kausalitätsannahme operiert jedoch
jeder Alltag, sie ist Bestandteil jeder
Alltagsrationalität. Wenn wir aber die besondere
Charakteristik dieses Generationenfeldes (
„fernsehendes Kind“
auf der einen
sowie
„antiautoritäre Eltern“
auf der anderen Seite) ins Auge fassen wollen,
dann kommt die alte
„Geisteswissenschaft“
zum Tragen, denn jetzt
geht es um Hermeneutik, um ein hermeneutisches,
ein auf Verstehen angewiesenes Verhältnis. Ich
müßte nämlich wissen, welchen Lebenssinn die
Eltern mit ihrer Attitüde verbinden, ob ihr
Sinnentwurf nicht vielleicht selbstwidersprüchlich
ist oder mit welchen Gründen vielleicht die
„Kausalitätsannahme“
als wenig
bedeutungsvoll zurücktreten darf usw. Da bin ich
gefordert als jemand, der Zeichen und
Verhaltensweisen entschlüsselt, Bedeutungen
transparent macht und zur Sprache
bringt.
[V74:68] Und die andere
Seite in diesem Generationenverhältnis? Ist sie
nur auf mein Verstehen angewiesen? Bleibt sie also
weitgehend passiv?
[V74:69] Mollenhauer: Ganz und gar nicht! Wenn ich in ein
Kinderzimmer oder eine Schulklasse gehe und –
sagen wir – ein Bild aufhänge, mache ich keine
Kausalitätsannahme, wohl aber einen symbolischen
Akt der Repräsentation von etwas, den nun das Kind
oder der Schüler entschlüsseln kann oder muß – auf
welchem kognitiven Niveau auch immer.
[V74:70] Sie haben also
...
[V74:71] Mollenhauer: ... nichts gegen die
empirisch-analytischen Wissenschaften, wohl aber
viel gegen ihre technologischen Verengungen. Auch
die empirisch-analytische Wissenschaftstheorie als
eine sehr zuverlässige Form des Nachdenkens über
methodologische Probleme findet meine
Akzeptanz.
[V74:72] Wie würden Sie
diese Ihre Position kennzeichnen?
[V74:73] Mollenhauer: Gar nicht.
[V74:74] Also: Anything goes?
[V74:75] Mollenhauer: Nein, das wäre ja auch eine längst
beschriebene Position, eine des
wissenschaftstheoretischen Anarchismus nämlich.
Diese Position aber widerlegt sich darüber hinaus
selbst. Paul Feyerabend
hat in seinen Büchern
„Erkenntnis für freie
Menschen“
sowie
„Wider den Methodenzwang“
seine Ansichten sorgfältig begründet, die Quellen
studiert und ausgelegt. Daß man also zumindest auf
eine kontrollierte Art und Weise miteinander
kommunizieren muß, sollte er zugeben. Anderenfalls
hebt er sich selbst aus dem Sattel oder beteiligt
sich nicht mehr am Diskurs ... Nein, für
erziehungswissenschaftliches Nachdenken ist es
wenig hilfreich, sich einer
wissenschaftstheoretischen Position zu
verschreiben, gleichwohl ...
[V74:76] ... man eine
solche hat – ob man sie zugibt oder nicht. Welche,
noch einmal gefragt, haben Sie?
[V74:77] Mollenhauer: In den 30er Jahren fand in den USA ein
großer Kongreß unter Beteiligung von Philosophen
und Wissenschaftstheoretikern statt, auf dem sich
auch Paul Lazarsfeld zu Wort
meldete und als einer der erfahrensten sowie
kompetentesten Empiriker seinen Kollegen folgendes
vorwarf: Ihr Philosophen macht uns dauernd
Vorschriften über die Regeln und Normen von
Forschung anstatt euch anzuschauen, was wir da
machen, und uns, wenn ihr das nicht gut findet, zu
sagen, warum das nicht gut ist, so daß wir es
besser machen können ... Wer im philosophischen
Seminar sitzt und die Erkenntnisse von
theoretischen Problemen der Wissenschaft erörtert,
kann mir, dem Forschungspraktiker, sicherlich die
eine oder andere kluge Frage stellen, eine Frage,
die ich mir selber womöglich nicht stellen konnte.
Und wenn er sie klug und verständlich genug
stellt, werde ich durch seine Frage unter
Umständen ein bißchen klüger. So sehe ich das
Verhältnis zwischen Wissenschaftspraxis und
Wissenschaftstheorie; und darin liegt der Grund,
warum ich heute nicht mehr – wie noch vor 20
Jahren naiverweise – sagen kann: Ich vertrete
diese oder jene wissenschaftstheoretische
Position.
[V74:78] Das wird man
(wenn schon nicht akzeptieren, so doch)
respektieren müssen. Nach welchen Gütekriterien
wird denn in Ihrer pädagogischen Werkstatt
gearbeitet?
[V74:79] Mollenhauer: Ich frage mich natürlich, ob das, was
ich da arbeite, valide ist, ob ich also wirklich
das bearbeite, was ich im Auge habe. Ich frage
aber auch, ob meine Arbeit reliabel ist,
zuverlässig also bezogen auf die
Forschungsprozeduren, die andere nachvollziehen
müssen und können. Ich frage mich im Ganzen,
angesichts jedes neuen Gegenstandes immer wieder
neu, mit welchen Argumenten eine vorgetragene
Behauptung begründet werden |a 91|könnte, und ich finde dabei in den theoretischen
Diskursen seit ca. 1750 ein hinreichend großes
Arsenal von Begriffen, Verfahren und Theorien.
Ansonsten schwanken meine Methoden von Gegenstand
zu Gegenstand.
[V74:80] Können Sie
Beispiele nennen?
[V74:81] Mollenhauer: Wenn ich einen autobiographischen Text
des 17. Jahrhunderts interpretiere, bin ich in
einer – wie der harte Empiriker sagen würde – Zone
relativer Unzuverlässigkeit. Denn die
Rekonstruktion von Textbedeutungen kann natürlich
nicht in der gleichen Weise überprüft werden wie –
sagen wir – ein Intelligenztest, der durch Eichung
und stets neue Erprobung immer zuverlässiger
gemacht wird. Und doch ist Hermeneutik nicht der
journalistische Rand von Wissenschaft oder gar ein
windiges Verfahren, sondern eine legitime
Verstehensweise gegenüber schwierigen
Sachverhalten, die man ohne sie gar nicht
erforschen könnte. Insofern stören mich bei einer
solchen Arbeit Vorwürfe der Empiriker überhaupt
nicht, deren Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit
ein reines Ausgrenzungsargument ist. Mich stören
aber auch die Vorwürfe der Hermeneutiker nicht,
wenn ich eine Erhebung durchführe und mich dabei
empirisch-statistischer Verfahren
bediene.
[V74:82] Eine Position,
die Karl-Otto-Apel und seinem
„Erklären-und-Verstehen“
nahesteht.
[V74:83] Mollenhauer: Ja! Leider steht Apel oft im Schatten
von Habermas, was ich in
meinen Schriften gelegentlich zu korrigieren
bemüht war. Ich fühle mich jedenfalls in der
Meinung bestärkt, daß es vernünftig ist, an einem
rechtverstandenen Begriff von Hermeneutik als dem
methodischen Zentrum unserer Wissenschaft ohne
Abwertung der Empirie festzuhalten.