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Pädagogik – gestern, heute und morgen
Klaus Mollenhauer im Gespräch mit Rainer Winkel – Teil 3
Bildung
[V75:1] Ein weiterer Komplex unseres
Gespräches sollte der Bildung sowie ihren Zielen, ihren Normen und
vielleicht auch ihren Medien gewidmet sein, obwohl Sie des öfteren recht
apodiktisch erklärt haben:
„Am liebsten würde ich über Normen gar nicht
reden!“
Vielleicht gelingt es aber doch, Sie zu einem Reden über die das
rein deskriptive Sein der Erziehung hinausweisende normative
Sollensperspektive zu bewegen, indem ich Ihnen eine kleine empirische
Erforschung Ihres eigenen Redens und Schreibens präsentiere. Eine meiner
Mitarbeiterinnen hat sich an eine sprachliche Analyse Ihrer älteren und
Ihrer jüngeren Texte gemacht. Ohne dem noch nicht vorliegenden
Endergebnis hier vorzugreifen, zeigt sich heute bereits dieses Faktum:
Um 1968/69 herum lauteten Ihre Lieblingswörter: Rationalität, Befreiung,
Emanzipation, Konflikt, Rolle, Ideologie, Sozialisation, Interessen,
Partikularität, Gesellschaft und Politik; Sie sprachen von kritischer
Analyse, vom partikularen Interesse und dem parteilichen Engagement; und
der große Referenzautor war Jürgen Habermas. Zwanzig Jahre später bevorzug(t)en Sie
folgende Substantive: Subjekt, Sinnlichkeit, Kunst, Ästhetik, Intimität,
Mythos, Ich, Du, Leib, Spiel und Kultur; da ist von ganzheitlicher
Bildung die Rede, von der mit sich selbstidentischen Persönlichkeit
sowie einem realistischen Engagement; und Ihre Bezugsautoren sind eher
Künstler, Schriftsteller und Ästhetiker – vor allem der Romantik. Warum
dieser Wechsel in der Begrifflichkeit?
[V75:2] Mollenhauer: Ein Grund
liegt sicherlich in dem Bemühen um Präzision. Lassen Sie mich das am
Bildungsbegriff erläutern. Als ich mit diesem Terminus als Autor zu tun
bekam, wurde er in der öffentlichen Diskussion weitgehend auf formale
oder formalisierte Vorgänge der Instruktion innerhalb des öffentlichen
Bildungssystems bezogen. Bildungs- und Schulsystem wurden demzufolge
synonym benutzt. Deshalb habe ich den Bildungsbegriff eine Zeitlang
vermieden. Heute verwende ich ihn wieder häufiger, auch offensiver, aber
in einer umfassenderen Bedeutung sowie im Anschluß an Humboldts Bruchstück über die
„Theorie der
Bildung des Menschen“
. Unpräzise Begriffe habe ich
also zu meiden, durch andere zu ersetzen oder auch neuerlich zu
präzisieren versucht, was die Ergebnisse Ihrer kleinen Sprachanalyse
erklärlich macht.
[V75:3] Wie sieht es mit dem Begriff der
„Emanzipation“
aus, der ...
[V75:4] Mollenhauer: ... nicht
den Bildungsbegriff ersetzen,
[V75:5] wohl aber Wesentliches von ihm in
sich aufnehmen sollte.
[V75:6] Mollenhauer: Nun gut.
Indem ich den Begriff Emanzipation benutzte, konnte auf diejenige
Komponente des Bildungsbegriffes aufmerksam gemacht werden, die in der
klassischen Diskussion von Herder über Schiller bis Schleiermacher vorhanden war, dann aber in
Vergessenheit geriet: daß Bildung nämlich etwas mit Befreiung aus
gesellschaftlichen Zwängen und aus Unwissenheit zu tun hat.
[V75:7] Was wäre für Sie ein gebildeter
Mensch heutzutage?
[V75:8] Mollenhauer: Ein
gebildeter Zeitgenosse sollte erstens die Zeichenwelt, in der er lebt,
dekodieren können. Zeichen lesen können, bedeutet beispielsweise, mir
die Gesten, auch die Körpergesten, eines anderen – sagen wir eines
Kindes – verständlich zu machen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum
einen muß ich solche Gesten als Momente in einer geschichtlichen
Bewegung begreifen und zum anderen als solche einer aktuellen
kommunikativen |a 200|Beziehung – selbst die Frisur
eines Punkers bedarf einer solchen geschichtlichen und kommunikativen
Deutung, sie ist ein Zeichen, das verstanden werden will. Bildung meint
also stets ein doppeltes Phänomen: Freiwerden aus gesellschaftlicher und
persönlicher Verdummung.
Lehrer
[V75:9] Lassen Sie uns beim
„Bildungsmedium“
Schule ein wenig verweilen. Sie haben sich über
die Schule nicht so sehr als Schulpädagoge geäußert, sondern eher
soziologisch, obwohl Sie auch einmal Lehrer in einer Schule waren. Erst
durch Sie ist ja der Rollenbegriff in die Schulpädagogik eingegangen.
Ist die soziologische Kategorie der Rolle die adäquate Kennzeichnung
dessen, was der Lehrer, was die Lehrerin, als zur Bildung aufgerufene
Persönlichkeit zu leisten hat? Anders gefragt: Halten Sie am
Rollenbegriff auch heute noch fest, oder scheuen Sie lediglich die
Mühsal der Umarbeitung des Textes – besonders der vierten Skizze in
„Erziehung und
Emanzipation“
?
[V75:10] Mollenhauer: Ich stehe
auch heute noch zum Terminus der
„Rolle“
, wenn ich
über Lehrer schreibe – gerade weil er nicht das Ganze der Persönlichkeit
umfaßt. In dieser Begrenzung liegt seine wissenschaftliche
Leistungsfähigkeit; er reduziert nämlich Komplexität und befreit Lehrer
von der Illusion und Ideologie, sie müßten total, also mit ihrer ganzen
Persönlichkeit, Lehrer sein. Der Lehrer agiert im Rahmen einer
gesellschaftlichen Institution; und eine Beschreibung dessen, was er
tut, verlangt unter anderem einen institutionstheoretischen bzw.
soziologischen Zugang. Dabei ist der Rollenbegriff insofern nützlich,
als er uns mit der Frage konfrontiert: Inwieweit wird der Träger einer
solchen Rolle den verschiedenen Erwartungen und Funktionen gerecht? Erst
von dieser Frage her geraten entsprechende Konfliktzonen in den Blick
und können als solche analysiert werden.
[V75:11] Eine Rolle
„spielt“
, aber eine Persönlichkeit
„ist“
man.
Und der Lehrer soll doch alles mögliche sein nur kein – Spieler.
[V75:12] Mollenhauer: Ich bin
und war nicht an der Persönlichkeit des Lehrers interessiert. Die Frage
nach dem Lehrer-sein würde einen ganz anderen Zugang erforderlich
machen, einen Zugang,
[V75:13] den Theodor Ballauff in seiner Schrift
„Lehrer sein einst und jetzt“
1985 bereits markiert
hat und den
[V75:14] Mollenhauer: ... ich
nie zu meinen Arbeitsanliegen gemacht habe. Ich müßte darin das ganze
Erlebnisspektrum des Lehrers zu dokumentieren versuchen.
[V75:15] Der Begriff der
„Selbstrolle“
war womöglich der Versuch, soziologische und
pädagogisch-anthropologische Überlegungen aneinanderzubinden.
[V75:16] Mollenhauer: Ja. Aber
ich würde diesen paradoxen Begriff heute nicht mehr verwenden, denn er
hat das damit gemeinte Problem eher undeutlich gemacht.
Generationen
[V75:17] Daraus ergibt sich ein siebter
Problemkreis: Lehrer stehen zwischen den Generationen; Erziehung
konstituiert geradezu das Spannungsfeld zwischen jung und alt; Schleiermachers berühmte
Definition von Erziehung am Beginn seiner Vorlesungen von 1826 lautet:
„Erziehung (ist) die Einwirkung des älteren
Geschlechts auf das jüngere“
. Heißt das: Erwachsene werden nicht (mehr) erzogen? Erziehen sich
nicht selbst? Bedürfen keiner Edukation?
[V75:18] Mollenhauer: Das ist
eine Frage der Terminologie. Schleiermacher hat gar nicht geahnt,
gar nicht ahnen können, wie zukunftsträchtig diese Definition von
Erziehung ist. In moderner Terminologie würde er heute sagen: Der
Ausgangspunkt des pädagogischen Denkens betrifft ein systematisches
Verhältnis von Generationen zueinander. Er würde nicht den
„Pädagogischen Bezug“
zum Ausgangspunkt erklären,
ein
„leidenschaftliches Verhältnis“
im Nohl’schen Sinne also, sondern einen
systemtheoretischen Zusammenhang. Die theoretischen Vorstellungen oder
Paradigmata, die eine Konzentrierung des erziehungswissenschaftlichen
Denkens auf das Generationenverhältnis als ein
gesellschaftlich allgemeines oder typisierbares intendieren, haben sich
bis heute als die leistungsfähigsten erwiesen. Wenn nun das
Generationenverhältnis das konstitutive Element der Pädagogik ist,
bleibt die Frage offen, wie dieses Verhältnis im einzelnen beschaffen
ist: ein linear-kausales etwa oder ein wechselseitig-interdependentes.
Man würde Schleiermacher sicherlich mißverstehen, wenn man
aus seiner Erziehungsdefinition ableitete, die Erwachsenen erzögen die
Jungen und damit basta. Dagegen hat er sich mit dem Begriff der
Spontaneität immer wieder ausgesprochen, denn in der nachwachsenden
Generation kommt uns stets das Unvorhergesehene, das Ungeplante und das
Unzeitgemäße entgegen. Daß, nebenbei gesagt, Erwachsene im eigentlichen
Wortsinn, nicht erzogen werden können und sollen, finde ich sehr
vernünftig und bereits vom Etymologischen her naheliegend. Von einer
„Erwachsenenpädagogik“
zu sprechen, ist – von daher
gesehen – wenig überzeugend. Erwachsene befinden sich in einer
Bildungsbewegung, jedenfalls hoffe ich auch als über 60jähriger, daß ich
mich noch in einer solchen befinde, aber ich werde nicht
erzogen.
[V75:19] Ist der Begriff
„Andragogik“
zutreffender?
[V75:20] Mollenhauer: Im Grunde
nicht. Andragogik bedeutet ja immer auch das Führen von Erwachsenen. Und
ich möchte eigentlich nicht geführt werden. Selbst wenn mich jemand –
sagen wir – durch ein Museum führt, ist ein solches Ereignis nicht so
sehr in Begriffen der Er-Ziehung, sondern eher in solchen der Bildung
und den damit verbundenen Erlebnissen zu begreifen. Meine eigenen
Bemühungen zur Rehabilitierung des Bildungsbegriffs als eines allgemeine, über viele Altersstufen sich erstreckenden
und |a 201|über viele soziale Orte sich
verteilenden Ereignisse hängen damit zusammen. Die deutsche Sprache kennt zum Glück
ein Wort, das eben diesen Prozeß ausdrückt, innerhalb dessen sich ein
Mensch in eine von ihm gewünschte und durch Beteiligungsmodi mit der
Sozietät verbundene Form bringt. Erziehung ist nur ein winziger Teil
dieses großen Komplexes, den wir Bildung nennen, und meint in der Tat
lediglich den Umgang von Erwachsenen mit Kindern.
[V75:21] Erziehen sich aber Kinder
untereinander nicht auch?
[V75:22] Mollenhauer: Ich zögere
mit meiner Antwort. Wenn ich Kinder auf einem Spielplatz beobachte,
würde ich sehr sorgfältig darüber nachdenken, welche Worte ihr Verhalten
kennzeichnen. Da gibt es gewiß Interaktionen unter den Kindern,
womöglich auch Veränderungen ihres Verhaltens; die machen schmerzhafte
und lustvolle Erfahrungen, hauen sich die Nase blutig und umarmen sich
..., aber: Erziehen sich Kinder wirklich'? Wir müssen also bei all diesen Beobachtungen sehr genau
fragen: Was geschieht da wirklich? Und welches ist die dem Geschehen
angemessene Sprache?
[V75:23] In Ihren von Ihnen selbst eine
„pädagogische Spekulation“
genannten
„Fingererzählungen“
scheint mir
dieses Bemühen recht gut gelungen.
[V75:24] Mollenhauer: Diesem
1986 in der Neuen Sammlung veröffentlichten Aufsatz liegt jedenfalls der Versuch zugrunde,
einem selten beachteten pädagogischen Vorgang Aufmerksamkeit zuzuwenden
und dies in einer Sprache zu tun, die dem Phänomen gerecht
wird.
[V75:25]
„Dies ist der Daumen / der schüttelt die
Pflaumen / der liest sie auf / der bringt sie nach Haus / und
dieser kleine Schelm, der ißt sie alle auf“
– die Zuwendung zu solchen kindlichen Sprach-Spielen bedeutet
also keine Preisgabe einstiger theoretischer Bemühungen.
[V75:26] Mollenhauer: Ganz und
gar nicht! Wohl aber die Hinwendung zu neuen Problemen mit Hilfe einer
ihnen angemessenen Methode.
[V75:27] 1968 haben Sie die Jugend in ihrem
Spannungsfeld zur Erwachsenengeneration unter sechs gesellschaftlichen
Widersprüchen gesehen: unter dem Widerspruch von Integration und
kritischer Beteiligung, von Aufstiegschancen und Aufstiegsstreben, von
der Suggestion des schönen Lebens und der tatsächlichen Abhängigkeit,
von ökonomischen und pädagogischen Interessen, von politischer Funktion
der Allgemeinbildung und ihrem faktisch unpolitischen Charakter sowie
unter dem Widerspruch von rationalem Anspruch und irrationaler
Wirklichkeit. Treffen diese Kennzeichnungen auch heute noch zu? Sind
weitere hinzugekommen? Oder hat es die heutige Jugend mit ganz anderen
Defiziten zu tun – zwischen Tschernobyl, Ozonlöchern und
AIDS-Viren?
[V75:28] Mollenhauer: Es sind
neue hinzugekommen, die sich um den Begriff der Lebensform gruppieren.
Es gibt einen Widerspruch zwischen den Erwartungen heutiger junger
Menschen an ihre Lebensführung und den ökologischen Bedrohungen.
Dahinter steht für die heranwachsende Generation die Frage, ob es
überhaupt noch eine Kontinuität zwischen der von der älteren Generation
mitbekommenen Lebensform und ihren eigenen Existenzmöglichkeiten
gibt.
[V75:29] Wenn ich die jungen Menschen von
heute betrachte, mir die Abgründe vorstelle, an denen entlang sie
aufwachsen, mir die Perspektiven vorstelle, auf die sie sich
hinorientieren, dann sehe ich Parallelen zu der Generation, die nach dem
2. Weltkrieg als Halbwüchsige zurückkamen und über die Wolfgang Borchert bittere
Worte schrieb:
„Wir sind die Generation ohne Grenze, ohne
Hemmung und Behütung – ausgestoßen aus dem Laufgitter des
Kindseins ...“
Diese Sätze schrieb Borchert 1946, als 25jähriger junger Mann. Sie waren damals
18/19 Jahre jung. Sind die heutigen 18/19jährigen in einem ähnlichen
Dilemma wie die jungen Leute vor 40/45 Jahren?
[V75:30] Mollenhauer: Sicherlich
nicht bezüglich der konkreten politisch-gesellschaftlichen Situation.
Aber in ihrem desolaten Lebensgefühl wird man manche Parallele sehen
dürfen.
[V75:31] Wie alt sind Ihre eigenen Kinder
jetzt und wie leben sie?
[V75:32] Mollenhauer: Die
Älteste, Julie, ist 1960 geboren, mit 16
Jahren von der Schule abgegangen und in eine Wohngemeinschaft gezogen.
Sie hat eine Goldschmiedelehre abgeschlossen, als Goldschmiedin
gearbeitet und studiert jetzt an der Kunstakademie in Amsterdam. Der Zweite,
Moritz, Jg. 1962, hat es zwar bis zum
Abitur auf der Schule ausgehalten, dann aber die Nase gründlich voll
gehabt, sich ein Jahr lang mit Hilfsarbeiten so über die Runden
gebracht, eine Lehre als Feinmechaniker absolviert, ein Jahr lang
gearbeitet, Geld gespart und ist dann ein Jahr lang nach Italien
gegangen, weil er bei Pescara zusammen mit italienischen Freunden eine
Alternativwerkstatt aufmachen wollte ... Das klappte dann nicht so
richtig; er kam zurück und studiert jetzt Geschichte, Italienisch und
Spanisch. Die Dritte, Spohie, wurde 1964 geboren, versuchte zunächst
hier in Göttingen zu studieren, was aber nicht so recht gelingen wollte.
Deshalb bereitet sie sich jetzt in Kassel mit den Fächern Musik und
Kunst auf das Lehrerexamen vor. Und der Vierte, Jg. 1968, Paul, hat vor einem Jahr Abitur
gemacht und scheint der einzige zu sein, der nun wirklich eindeutig
theoretische bzw. wissenschaftliche Interessen zeigt. Er studiert
Geschichte, Philosophie und Latein.
[V75:33] In welcher Hinsicht sind Ihre vier
Kinder tyisch für ihre Generation?
[V75:34] Mollenhauer: Eine ganz
schwierige Frage, denn jedes ist auf seine Weise anders. Vielleicht aber
sind auch meine Kinder wie ihre Altersgenossen in besonderer Weise
suchende, tastende, verletzbare und doch recht emanzipierte junge
Menschen, denen eine Erfahrung gemeinsam ist: Die Welt als Ganzes steht
zur Disposition.
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Vom Elternhaus zur Sozialpädagogik und Sozialarbeit
[V75:35] Sie haben sich intensiv mit der
Sozialpädagogik und Sozialarbeit beschäftigt. Aufgrund meiner
Gesprächsvorbereitungen weiß ich, daß Ihr Vater Sozialarbeiter war. Sind
Ihre zentralen wissenschaftlichen Bemühungen vom Vater angeregt
worden?
[V75:36] Mollenhauer: Meine
Eltern waren beide Sozialarbeiter, wie man heute sagen würde. Mein Vater
ist der von mir am meisten bewunderte Mensch. Auch heute noch. In jeder
Hinsicht. Er hatte überhaupt keine Feinde und war eine herausragende
Persönlichkeit, der nicht nur ein Leben lang in der Sozialarbeit vor
allem mit jugendlichen Strafgefangenen tätig war, sondern auch darüber
reflektierte, also theoretisch arbeitete und publizierte.
[V75:37] Meines Wissens erhielt er dafür
sogar den Ehrendoktor von der ...
[V75:38] Mollenhauer: ... juristischen Fakultät der hiesigen
Universität. Wir konnten, vielleicht erklärt das diese gute
Beziehung, völlig zwanglos wechselseitig aufeinander stolz
sein.
[V75:39] Ihr Bruder ist meines Wissens
Ministerialdirektor im hessischen
Sozialministerium.
[V75:40] Mollenhauer: Ja, er
verwaltet sozusagen die gesamte Jugendhilfe Hessens, was den
Biographieforscher natürlich erfreuen wird.
[V75:41] Wenn schon keine familiäre
Determinierung, so doch eine der Affizierung?
[V75:42] Mollenhauer: Das
Engagement meiner Eltern, die Selbstverständlichkeit, mit der Beruf und
Familie in meinem Elternhaus ineinander übergingen, die fundamentalen
Lebensüberzeugungen meines Vaters und das Klima meines Aufwachsens haben
mich sicherlich nicht unbeeindruckt gelassen, so daß ich mich nach
meiner kurzen Lehrerzeit in der Tat der Sozialpädagogik zugewendet
habe.
[V75:43] Welches Erbe ist in Ihnen
wirkungsmächtiger geworden? Das politische, das marxistische? Oder das
religiöse, das protestantische?
[V75:44] Mollenhauer: Zunächst
einmal habe ich den Eindruck, daß keiner dieser beiden Erbteile in mir
so stark wirkt wie bei meinem Vater. Vielleicht hat sich darüber hinaus
der religiöse am weitesten verschoben, in Richtung eines eher kognitiven
Respekts. Aber auch das politische Erbe ist nicht unverändert geblieben.
Mein Vater war mit vielen Widerstandsleuten und Juden befreundet. Dieser
Umstand ist auch Grund dafür, daß meine ersten Kinder von einem Mitglied
des
„Kreisauer
Kreises“
getauft wurden – und zwar von Harald
Poelchau, der Pfarrer in Plötzensee war, wo er oft
die letzten Stunden mit denen verbracht hat, die seine Freunde waren,
ohne daß die Nazis dies rausgekriegt haben.
[V75:45] Sind Sie heute (noch)
praktizierender Christ?
[V75:46] Mollenhauer: Nein! Wir
überlegen jedes Jahr, ob wir aus der Kirche austreten sollen. Die
Achtung vor dem antifaschistischen Teil der protestantischen Theologie
und Kirche und die vielen Freunde unter den Pfarrern und Theologen haben
bisher verhindert, daß ich der Kirche den Rücken kehre.
[V75:47] Nun ist das Konfessionelle nicht
identisch mit dem Religiösen. Gerade in Ihren politischen und
sozialpädagogischen Aussagen finde ich eine säkularisierte Religiosität,
die ohne die Bergpredigt gar nicht denkbar ist.
[V75:48] Mollenhauer: Da mögen
Sie recht haben. Ich selbst jedenfalls kann meine eigene Existenz bzw.
meinen eigenen Lebensentwurf gar nicht verstehen, wenn ich die Tradition
des deutschen Protestantismus ignoriere. Sie gehört zur
geschichtswissenschaftlichen Redlichkeit meiner eigenen
Biographie.
Lernographische Einflüsse
[V75:49] In einem vorletzten Abschnitt
möchte ich gern auf Ihre Lehrer, Ihre Gewährsleute, Ihre eigenen
lernographischen Konstanten oder auch Brüche zu sprechen
kommen.
[V75:50] Mollenhauer: Ich
beginne mal nicht mit meinem Doktorvater Erich
Weniger, sondern mit demjenigen, der meine Dissertation
als Zweitgutachter betreute – mit dem 1892 geborenen und 1985
verstorbenen Helmuth Plessner, der für mich der
wichtigste akademische Lehrer war.
[V75:51] Was für ein Verhältnis hatten Sie
zu Erich Weniger? Ein
gespaltenes?
[V75:52] Mollenhauer: Das ist zu
hart ausgedrückt, obwohl es schon etwas merkwürdig, aber von
gegenseitigem Respekt gekennzeichnet war. Die grundlegende Qualität
könnte man eine freundschaftlich-distanzierte nennen; andererseits hat
mich Weniger oft
„auf die Schippe
genommen“
. Sie wissen, daß ich früher wie ein
„Jugendbewegter“
gern und oft Gitarre spielte. Damals ging es in
den Universitätsseminaren noch viel familiärer zu als heute: Man machte
Ausflüge an die Weser, auf den Hain-Berg, veranstaltete Feste usw. Und
da hatte ich regelmäßig den
„Entertainer“
des
Seminars zu spielen, spätestens dann, wenn Weniger rief:
„Molli, laß’ was hören, wir wollen
singen!“
[V75:53] Hat Sie Wenigers Rolle im 3. Reich
belastet?
[V75:54] Mollenhauer: Belastet
vielleicht nicht, obgleich sie schon merkwürdig war und seine
„Militärpädagogik“
ihm nicht gut stand, aber eben
auch zu ihm paßte. [V75:55] Als ich
zunächst an der Pädagogischen
Hochschule in Göttingen das Lehrerstudium absolvierte, war
Weniger Rektor dieser PH und hatte bereits ein Auge auf mich geworfen.
Nach dem Examen bin ich zwei Jahre lang Lehrer in Bremen gewesen und
wollte bei Wilhelm Flitner in |a 203|Hamburg
weiterstudieren, erhielt aber immer wieder die Anfrage:
„Wann kommen Sie nach Göttingen zurück? Sie sollen doch eine
Doktorarbeit schreiben.“
Und so war es dann auch. Nach drei
Semestern ging ich nach Göttingen zurück und nahm mein Studium bei Weniger wieder auf, der zwischenzeitlich an die Universität berufen worden war
und dem ich letztlich viel verdanke.
[V75:56] Andere geistige Einflüsse
...
[V75:57] Mollenhauer: ... kamen
natürlich von Schleiermacher und von Dilthey, die
entscheidende Bezugsgröße für den angehenden Wissenschaftler. Nohl wurde gelesen, aber – zumindest von mir – mit
einer gewissen Skepsis; Dilthey hingegen wurde intensiv
studiert.
[V75:58] Welche lernographischen Einflüsse
bzw. welche Ihre eigene Lerngeschichte prägenden Personen (nicht welche
pädagogischen Zusammenhänge) sind zwischen diesem
geisteswissenschaftlichen Studieren und dem gesellschaftskritischen
Nachdenken wirksam gewesen?
[V75:59] Mollenhauer: Helmuth
Plessner und Karl Marx. Noch im Rigorosum,
also gegen Ende meines Studiums, begann diese später sich immer
kritischer entwickelnde Phase. Plessner prüfte mich über die
„Deutsche Ideologie“
sowie über Karl
Mannheims
„Ideologie und Utopie“
und verhalf mir so, die Enge
des geisteswissenschaftlichen Feldes zu verlassen und Neuland zu
erkunden bzw. zu bestellen. Nach einem gewissen
„Schläfer-Effekt“
erwachten Marx’sche
Gedanken und eröffneten mir ein zweites Orientierungspanorama, etwa
zwischen 1960 und 1970, in dessen Zentrum die
„Kritische
Theorie“
gesehen wurde, vor allem Adorno, Horkheimer, Habermas und Apel.
[V75:60] Welches sind die heutigen
Bezugsgrößen, bescheidener: Referenzpunkte?
[V75:61] Mollenhauer: An
stabilen Orientierungen sind geblieben Schleiermacher
und Marx, um die herum sich weitere gruppieren. Neu
hinzugekommen sind aber eine Reihe von Autoren, die meinen
sozialphilosophischen Interessen entgegenkommen – also zum Beispiel der
1858 geborene und 1918 verstorbene Georg Simmel. Sein Buch
über die
„Philosophie
des Geldes“
erschien im Jahre 1900 und gehört nach
meiner Einschätzung zu den wichtigsten Büchern unseres
Jahrhunderts.
[V75:62] Bei dem Versuch, Klaus Mollenhauer in seiner Genese, seiner
Kontinuität, aber auch in seinem Widerspruch deutlich zu machen, stoßen
manche auf scheinbar unüberwindliche Hindernisse und werfen Ihnen bei
der Beurteilung der Beschäftigung mit neuen Themen ein
„Wendemotiv“
vor; der Tübinger Christoph Theodor Scheilke bescheinigte Ihnen
gar
„Treulosigkeit gegenüber den
Adoptiv-Kindern“
Rundgespräch
im Anschluß an das Gespräch zwischen Mollenhauer und Schulze
1987, S.
69
.
[V75:63] Mollenhauer: Wer die
beiden letzten Bücher von mir liest, also die
„Vergessenen Zusammenhänge“
und
die
„Umwege“
, wird das Bleibende
und das neue erkennen. Es bleibt mein hartnäckiges Fragen nach der
Bildungsfähigkeit, der
„Bildsamkeit“
des Menschen
inmitten des Heranwachsens und Erziehens als Bestandteil einer
Lebensform (was ich Präsentation nenne), aber auch angesichts der
Nötigung, formalisierte Prozeduren der Bildung des Nachwuchses zu
erzeugen, also die Wirklichkeit des Lebens in komplexer werdenden
Gesellschaften noch einmal für Lernzwecke abzubilden (was ich
Repräsentation nenne). Damit verbunden ist das Gerechtigkeitsproblem.
Bleiben wird auch mein Insistieren auf der Selbsttätigkeit des
Individuums, das innerhalb seines gesellschafltichen Feldes immer auch eigene Interessen und Motive ins Spiel
bringt, also lernen muß, in das Systemgeschehen aktiv, gebildet, das
heißt mit Vernunftgründen, einzugreifen. Und drittens wird bleiben meine
Beschäftigung mit der
„Identität“
des Menschen, eine
Fragestellung, die der existenzphilosophischen und phänomenologischen
Tradition am nächsten steht. Nie können wir Endgültiges über uns reden;
immer nur reden wir über unsere Entwürfe; und zu keiner Zeit sind wir
„identisch“
mit unseren Entwürfen.
[V75:64]
„Der ich bin, grüßt
wehmütig den, der ich sein könnte!“
– heißt es in den Tagebüchern
Friedrich
Hebbels.
[V75:65] Mollenhauer: Ein
pädagogischer Satz. Die Differenz zwischen mir und meinem Entwurf
erzeugt erst jene Spannung, ohne die es keine Bildung gibt.
Anthropologische, gesellschaftskritische und hermeneutische Probleme
rechne ich, mit Bezug auf diesen Satz, zu den Kontinuitäten meines
Arbeitens.
[V75:66] Im Märchen hat man zum Schluß drei
Wünsche frei, in einem Gespräch dürfen’s drei abschließende Fragen sein.
Frage eins: Welches war der glücklichste Tag in Ihrem bis herigen
Leben?
[V75:67] Mollenhauer: Ich müßte
zwei Tage nennen: der eine war der glücklichste, der andere der in sich
widersprüchlichste. Ich war mit der Familie in den Ferien auf Sardinien.
Eines Tages rutschte unser Jüngster, der damals 4jährige Paul, von einem Felsen ins tiefe
Wasser und drohte zu ertrinken. Ich bin hinterhergesprungen, habe mir
zwar das ganze Bein aufgerissen, aber den Jungen da rausgeholt. Als wir
dann wieder auf dem Felsen lagen, schaute er mich strahlend an; und als
er mit dem Prusten fertig was, fragte er mich:
„Na, war’s schlimm?“
Das
dabei empfundene Glückgefühl war wohl das schönste in meinem Leben. [V75:68] Der andere Tag liegt noch weiter zurück. Es gab in
unserer Familie eine Verabredung, daß wir uns nach dem verlorenen Krieg
bei Verwandten in Peine wiedertreffen wollten, denn Pommern würde mit
Sicherheit eine verlorene Heimat sein. In Militärkleidung, mit viel zu
großen Stiefeln an den Füßen, gerademal 150 cm groß, kam ich also damals
als 16jähriger Halbwüchsiger nach Peine, fand meine Familie aber nicht.
In der Wohnung meiner Großmutter waren amerikanische Soldaten
einquartiert; in der Bäckerei meines Onkels, eines Bruders meines
Vaters, fand ich auch niemanden. Als ich da ziemlich ratlos mehr oder
weniger herumirrte, sah ich plötzlich auf der anderen Seite |a 204|der Straße meine Mutter. Ich ging hinüber, aber
als wir uns nach all den Monaten des schrecklichen Kriegsendes plötzlich
auf dem Trottoir gegenüberstanden, waren wir dermaßen konsterniert, daß
wir dem unaussprechlichen Glücksgefühl wirklich keinen Ausdruck zu geben
vermochten – noch nicht einmal durch eine spontane herzliche
Geste.
[V75:69] Zweite Frage: Welches war in Ihrem
Leben die beste Entscheidung, die Sie gefällt haben?
[V75:70] Mollenhauer: Meine Frau
zu heiraten.
[V75:71] Dritte und letzte Frage: Was
bedauern Sie heute am meisten?
[V75:72] Mollenhauer: Am meisten
bedauere ich, daß meine Eltern während der Nazizeit nicht den Mut gehabt
oder das Zutrauen zu uns Kindern aufgebracht haben, uns über die
Schrecklichkeit des Faschismus wirklich aufzuklären.
[V75:73] Haben Sie Dank für dieses
Gespräch!