Gibt es bildende Wirkungen ästhetischer Ereignisse? [Textfassung a]
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Gibt es bildende Wirkungen ästhetischer Ereignisse?

Hypothesen zu einer vernachlässigten Frage

[116:1] 1. Wer von ästhetischer Erziehung, zumal von ästhetischer Bildung redet, unterstellt Wirkungen. Wer so spricht, nimmt offensichtlich an, daß die Auseinandersetzung (was ist das?) des Kindes und des Jugendlichen mit ästhetischen Produkten, ebenso aber auch die eigene ästhetische hervorbringende Tätigkeit, Folgen hat für den Leib-Seele-Geist-Organismus, irgendwie. Wenn wir von
«Folgen»
reden, dann meinen wir damit in der Regel, daß es
«Wirkendes»
und
«Bewirktes»
gebe, zwei Ereignisse also, von denen das eine der Ausgangspunkt (um hier das Wort
«Ursache»
zu vermeiden) ist, das andere die Folge.
[116:2] 2. Für ästhetische Ereignisse, zunächst für die rezeptiven, kann man sich die Zusammenhänge, alltagssprachlich ausgedrückt, so denken: Da ist ein ästhetisches Produkt (z. B. Beuys:
«Das Kapital Raum»
) – über die Organe/Sinne meines Leibes nehme ich das Produkt wahr, ich sehe es – ich versuche meine Empfindungen und Empfänglichkeiten zu ordnen, ich will
«verstehen»
, ich
«lese»
also – ich spüre, daß ich zum Lesen, zum Verstehen-Können Imaginationen, Einbildungskraft benötige – ausgehend von den leiblichen Ereignisssen kommt also Seelisches und Geistiges in Bewegung – diese Bewegung hat zwei
«Seiten»
, zwei
«Komponenten»
: die eine betrifft das Verstehen des Objekts, die andere das Verstehen meiner selbst als Spiel zwischen Einbildungskraft und Begriff. Nachdem dieses Spiel in mir und zwischen mir und dem Objekt
«bewirkt»
wurde, was geschieht dann?
[116:3] 3. Für Ereignisse des Produzierens, für das eigene ästhetische Hervorbringen, muß man eine andere Wirkungs-Kette denken, etwa so: Ich bin mit Material konfrontiert (beispielsweise ein weißes Blatt Papier, Farbe, Klebstoff, Stifte, Pinsel) – es entsteht (oder entsteht nicht) eine Wollens- oder Wünschensrichtung – diese Richtung, dieser Antrieb, dieses Begehren soll eine Kontur bekommen, damit ich mit Hilfe des Materials tätig werden kann – diese
«Frage»
(es ist eine Frage im Selbstgespräch) bringt meine Einbildungskraft in Bewegung – die Imaginationen meiner Einbildungskraft treten nun in Interaktion, nicht mit irgendeinem Begriff, sondern mit dem Material; meine Imaginationen versuchen, über das Material zu verfügen, aber das Material setzt dem Widerstände entgegen oder lenkt es in eine materialgerechte Richtung – wiederum tritt das Spiel ein zwischen Sinnlichkeit/Einbildungskraft und Form/Begriff – bin ich also nach diesem Spiel noch derselbe, der ich vorher war?
[116:4] 4. Dies alles ist nicht neu. Kant und Schiller hatten es ähnlich beschrieben, in den wesentlichen Umrissen. Aber stimmt das alles, und zwar in dem Sinne, daß wir es für die bildenden Wirkungen ästhetischer Ereignisse bei Kindern und Jugendlichen geltend machen können? Oder sind es vielleicht nur unsere, der Erwachsenen, Selbsterfahrungen, die in solchen Wirkungsketten unzulässig verallgemeinert werden? Was unserem Begriff nach stimmt, muß nicht deshalb empirisch wahr sein, bezogen auf den Bildungsprozeß des Kindes und Jugendlichen.
[116:5] 5. Dieser Wirkungszusammenhang ist ziemlich komplex, zumal die gegebene hypothetische Beschreibung immer noch nicht nur roh formuliert, sondern auch unvollständig ist. Es fehlen besonders zwei Variablen des gedachten Zusammenhangs: die physiologisch-neurologischen Vorgänge im
«ästhetischen»
Weltverhältnis; und die konventionalisierten Bestandteile des Ganzen, sowohl auf seiten der Einbildungskraft als auch auf seiten der
«Sprachen der Kunst»
. Ästhetische Erfahrung hat immer auch – so eine begründete Vermutung – diese beiden Referenzen: die assoziativen Vorgänge im Nervensystem und die kulturell eingespielten, solche Assoziationen regulierenden oder stilisierenden Ikonographien der historisch je herrschenden Bild-Welten.
[116:6] 6. Kulturell eingespielt, konventionalisiert, sind aber auch die Formen unserer Rede über ästhetische Ereignisse. Zu den folgenreichen Redeformen in dieser Hinsicht gehört beispielsweise die Unterscheidung zwischen kognitiven und emotiven (emotionalen, affektiven) Vorgängen, Komponenten, Aspekten. Diese Unterscheidung – sie ist keineswegs notwendig, sondern vorwiegend unseren Wissenschaftstraditionen geschuldet – hat zu einer merkwürdigen Halbierung des Nachdenkens über ästhetische Erziehung/Bildung geführt: einerseits die Kunst-Didaktik, der am angeblich Kognitiven, an Rationalität und Erkenntnis gelegen ist, an
«ästhetischer Alphabetisierung»
, wie ich das kurz und mißverständlich charakterisieren möchte – und andererseits die Aisthesis-Therapien oder auch Selbsterfahrungen, in ihren der|a 3|zeit sich vervielfältigenden Varianten, die sich nahezu vollständig auf denjenigen Problembestandteil der skizzierten Wirkungskette konzentrieren, der zwischen Emotion und Einbildungskraft liegt, weniger indessen zwischen Einbildungskraft und kulturell-ästhetischen Zeichensystemen.
[116:7] 7. Diese Halbierung der Problematik ästhetischer Bildung wirkt merkwürdig – wenn denn meine stilisierte Beschreibung überhaupt zutreffen sollte – angesichts der Tatsache, daß nirgends, wenn ich recht gelesen habe, bei der Erörterung von Zielen und Zwecken ästhetischer Erziehung die Berufung auf die klassische Theorie-Tradition in Zweifel gezogen wird. Offenkundig suchen sowohl Didaktiker als auch Therapeuten (von diesen jedoch weniger explizit zur Kenntnis genommen) in dieser Tradition Argumentationshilfe. Aus gutem Grund, steht doch die Einbildungskraft dort im Zentrum der Erörterungen. Diese aber, die Einbildungskraft, ist nach beiden Seiten hin erläuterungsbedürftig, zur Seite der
«Didaktik»
wie auch zur Seite der
«Therapie»
hin. Versucht man also, einerseits sich an dem zu orientieren, was empirisch beschreibbar tatsächlich geschieht, wenn jemand sich in eine
«ästhetisch»
zu nennende Auseinandersetzung begibt, und versucht man andererseits – mit solcher Beschreibung verträglich – ein Ziel, eine Orientierung ins Auge zu fassen, historisch, kulturell und bildungstheoretisch rechtfertigungsfähig, beispielsweise
«Emanzipation»
, dann, so scheint mir, darf
«Einbildungskraft»
ein Schlüsselbegriff bleiben, nicht halbierungsbedürftig.
[116:8] 8.
«Einbildungskraft»
darf auch deshalb ein Schlüsselbegriff bleiben, weil er damals – in den klassischen Theorien der drei Generationen zwischen Lessing, Schelling und Schopenhauer – die schwierige Übergangzone zwischen Individualität und Sozialität betrifft (Freud hat uns dann belehrt, wie schwierig diese Zone ist). Diese Übergangszone hat etwas zu tun – aber wirklich nur
«etwas»
– mit dem, was wir kulturelle oder gesellschaftliche Innovation nennen, und zwar in einem ganz elementaren Sinne: Innovation, mit Bezug auf den Bildungsprozeß des Individuums, möchte ich beschreiben als die Suche nach einer neuen Balance zwischen Antrieben des je unteilbaren Leibes, den wir haben oder der wir sind, und den historisch-kulturellen Milieus, innerhalb derer wir uns bilden (zu diesen Milieus gehören auch die je herrschenden
«Verstandesbegriffe»
). Zwischen beidem spielt die Einbildungskraft und spielen ihre Produkte. Ungefähr so hatte auch Schiller sich das gedacht. Was Phänomenologen heute das
«Leib-Apriori»
nennen, ist jedenfalls für ästhetische Erziehung (Aisthesis!) fundamental, ist allemal der Ausgangspunkt (wenngleich nicht auch der Anlaß) ästhetischer Ereignisse.
[116:9] 9. Wie also läßt sich das Geschehen, das in dieser Differenz von Leib und Verstand, von Antrieb und Anlaß, von Individuellem und Allgemeinem spielt, empirisch genauer beschreiben, als spezifische bildende Wirkung? Wie können wir sicher sein, daß wir nicht von einem Phantasma reden, sondern von etwas, das der Fall ist (übrigens und u. a. das Thema Karl Valentins!)? Ich sehe zwei Wege der Annäherung: der eine verläuft über Fragen nach
«Bedeutungen»
, der andere über Fragen nach dem Verhältnis des
«Ich»
zum
«Selbst»
, zum Objekt der Rede in Sätzen, in denen es etwa heißen mag
«ich spüre mich selbst»
.
[116:10] 10. Der erste Weg: Thomas Lehnerer hat eine nachdenkenswerte Skulptur geschaffen mit dem Titel
«Denkzweimal für Odo Marquard»
.
Hier ist eine Schwarz-Weiß-Fotografie von Odo Marquard, der vor dem ihm gewidmeten «Denkzweimal» von Thomas Lehnerer aus dem Jahr 1990 steht, zu sehen.
O. Marquard vor dem
«Denkzweimal»
, 1990
Sie ist nachdenkenswert nicht nur als Skulptur, sondern auch im Titel: Was bedeutet die eingeschobene
«–zwei–»
? Der Philosoph Paul Ricœur hat so etwas eine
«semantische Kollision»
genannt und dies an sprachlichen Metaphern erläutert. Metaphern aber sind ein spezieller Fall ästhetischer Ereignisse. Diese Kollision nämlich –
«semantisch»
ist sie vielleicht nur im Falle der sprachlichen Metapher zu nennen – ist eine Eigentümlichkeit jedes ästhetischen Ereignisses, jedenfalls in der Moderne, nach der Autonomisierung der Künste. Sie findet, als Kollision von Verschiedenem, statt zwischen Antrieb und Material, Einbildungskraft und Begriff, individueller Kontur und konventionalisiertem Ikon-
«Denkzweimal»
.
[116:11] 11. Der zweite Weg: Was geschieht in solchen Akten, hervorbringend oder empfänglich, mit dem Subjekt dieser Akte? Meine Vermutung ist, daß darin das Ich – das hervorbringende oder empfangende, das spontane oder das rezipierende – sich zu sich selbst anders verhält als sonst im Alltag der gesellschaftlichen Praxen. Es fädelt sich nicht ein in dasjenige, was heute zumeist
«Identität»
genannt wird, in die Zuverlässigkeit von Lebensfeldern, in die in Verstandesbegriffen vermessenen Verhältnisse, in eingespielte Erwartung und Erwartungserwartungen, sondern es schafft sich, wie immer minimal auch, eine Distanz zu diesen.
[116:12] 12. Was geschieht in diesem Akt der Distanzierung – wenn er denn überhaupt stattfinden sollte? Was verändert sich am
«Selbst»
und an dem Verhältnis des Ich zu diesem und, in der Folge, an seinem Weltverhältnis? Etabliert sich da vielleicht ein anderes, ein exzentrisches Ich, als
«ästhetische Identität»
? Wollen wir das? Sollte dies der Fall sein, dann wären vielleicht, jenseits der Halbierung in Didaktik und Therapie, nächste und neue Schritte in Praxis und Therapie zu erwarten.