[120:1] Weder Künstler oder Designer, noch Philosoph, noch in der
Diagnostik gegenwärtiger Kulturlage besonders profiliert, habe ich wenig
Legitimation, zu den hier in Rede stehenden Sachverhalten etwas
Nennenswertes beizutragen. Die Pädagogik, sofern sie sich überhaupt an den
Ästhetik-Diskursen der Gegenwart beteiligt, ist in dieser Hinsicht eher ein
Mauerblümchen. Der Beitrag von unsereins muß also relativ bescheiden
bleiben. Eine Chance könnte sich dadurch eröffnen, daß ich mich auf das
beschränke, was mein Metier gestattet: nämlich nach den konkreten
Bedeutungen zu fragen, die ästhetische Tätigkeiten, insbesondere solche, die
in der Werkbundwerkstatt
Nürnberg zu beobachten sind, für den Lebenszusammenhang eines
Zeitgenossen der Moderne oder Postmoderne haben könnten.
[120:2] Mit dieser Aufgabenstellung habe ich nun freilich meine
angekündigte Bescheidenheit schon wieder dementiert; Lebenszusammenhänge von
Zeitgenossen können kaum beschrieben werden, ohne auf charakteristische
Merkmale solcher Lagen in der Zeit Bezug zu nehmen. Allein: welchen
Blickpunkt man wählt, ist nicht zwingend vorgeschrieben. Ich jedenfalls
wähle nicht den Blickpunkt der Makro-Analyse. Zu vieles in solchen
Beschreibungen oder Analysen scheint mir einer genaueren Aufmerksamkeit
bedürftig, auch wenn sich gelegentlich ein geradezu überwältigender Eindruck
von Plausibilität einstellt. Ich will vielmehr versuchen, einen anderen Weg
einzuschlagen, und zwar den über die Beschreibung des Details. Die anderen
mögen dann entscheiden, ob es paßt oder nicht und ob das Mauerblümchen etwas
beizutragen hat.
[120:3] Ich gliedere das Folgende in vier Darstellungsschritte. Zunächst
werde ich meine bildungstheoretische Perspektive erläutern, sodann eine
Beschreibung der Produkte der Werkbundwerkstatt versuchen, schließlich einige
verallgemeinernde Deutungen anschließen und daraus endlich versuchen, einige
bildungstheoretische Schlußfolgerungen zu ziehen.
Die Perspektive der Bildungstheorie
[120:4] Eine bildungstheoretische Perspektive ist nicht identisch mit einer
pädagogischen. Die Bildungstheorie fragt, jedenfalls seit Lessing und Herder nach dem,
was sich ereignet, wenn das Individuum, gleich welchen Alters, sich
anschickt, Zugänge zur Welt und zu sich selbst zu finden. Aisthesis ist ein Wort für eine wichtige
Komponente solcher Zugänge. Ich denke, es ist ein Vorteil, daß die
Diskussionen spätestens seit Schillers berühmten Briefen unter dem Namen
“Ästhetische Bildung”
die alte sensualistische These,
nichts sei im Verstand, was nicht zuvor von den Sinnen aufgenommen wurde,
verlassen haben und das Nachdenken über Ästhetisches an dem orientieren, was
wir
“Kunst”
nennen, ohne damit zu bestreiten, welch’
hervorragende Rolle der Sinnentätigkeit in allen Erfahrungs- und
Erkenntnisprozeduren zukommt. Wer sich damit einverstanden erklären mag, der
hätte zweierlei gewonnen.
[120:5] Er wäre, erstens, von Normativitätszumutungen und
Normalitätserwartungen befreit, denn die Kunst, seit sie autonom wurde,
weist ihre Beurteilung nach Kriterien gesellschaftlicher Brauchbarkeit
ebenso zurück wie irgendeine andere Art lebenspraktischer Hilfestellung. Sie
wirft uns auf uns zurück, sonst nichts. Freilich hält der Markt auch anderes
bereit. Aber den Markt mit dem Begriff der Sache zu verwechseln, das scheint
mir wenig hilfreich zu sein. Soziologisch aufgeklärte Kritik des
Kunstmarktes desillusioniert nicht nur, sondern bringt umso deutlicher zum
Vorschein, was denn
“Erfahrung”
angesichts
“Kunst”
sein könnte, und zwar im Hinblick auf die
Bildung des Individuums.
[120:6] Der zweite Gewinn liegt gleichsam am anderen, dem sensualistischen
Ort des Problemspektrums: erst durch die an
“Kunst”
orientierten Ästhetik-Diskussionen konnten wir uns darüber belehren, daß es
nicht nur sinnliche Wahrnehmung überhaupt gibt, sondern – innerhalb dieser –
eine besonders gerichtete Aufmerksamkeit, in der das Verhältnis des Ich zu
seinen Empfindungen in den Blick, ins Gespür, ins Gehör kommt. Es muß nun
also nicht mehr marktförmig anerkannte
“Kunst”
sein, die
uns ästhetische Erfahrungen vermittelt. Jedes von dieser Art Aufmerksamkeit
begleitete Sinnen-Ereignis birgt die Möglichkeit solcher Erfahrung.
|a 27|
[120:7] Von Bildung zu reden ist nur sinnvoll, sofern sie Erfahrungen, auch
ästhetische, impliziert. Diese Erfahrungen können gelegentlich höchst mager
sein. Aber selbst noch für die mageren gilt die allgemeine Bestimmung von
Bildung, zwischen W.v. Humboldt und J. Piaget, daß es sich dabei einerseits um eine
Aneignung von
“Welt”
, andererseits um eine Konturierung
der
“Kräfte”
des Menschen handelt. Dieses Wechselspiel
von Rezeptivität und Produktivität, von zugleich passiver und aktiver
Haltung des Organismus, ist weder spekulativ noch empirisch strittig. Ebenso
unstrittig ist, daß diese
“Bildung”
genannte Art von
Ereignissen nicht auf diese oder jene Lebensphase begrenzt ist, sondern –
wenngleich mit unterschiedlicher Dramatik – lebenslang stattfindet.
“Ästhetische Erfahrung”
ist eine Komponente solcher
Bildung. Sie folgt Regeln, die von
“Erkenntnis”
und
“Praxis”
verschieden sind. Es ist nicht die Frage, ob
dieser Erfahrungsmodus statthat oder nicht, sondern nur, ob er kulturell
eine gleiche Ausarbeitung erfährt wie die beiden anderen.
[120:8] Aber was wird dort erfahren? Die Werkbundwerkstatt Nürnberg stellt uns
Materialien bereit, die erlauben, diese Frage versuchsweise zu erörtern.
Beschreibungen
[120:9] Was ist zu beschreiben? Belehrt durch die Hypothesen der Gestalttheorien aus der ersten und die philosophischen Argumente aus der zweiten Jahrhunderthälfte (1)
|a 29|(1)Vgl. z.B. Rudolf
Arnheim: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen
Auges, Berlin 1965 – und Martin Seel: Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen
Rationalität, Frankfurt/M. 1985.
, können wir
wissen, daß der Gegenstand ästhetischer Erfahrung nicht etwa das
beschreibbare Ding ist, das uns vor Augen tritt, sondern eine Konstellation,
die sich zwischen dem Objekt und dem produzierenden oder rezipierenden
Subjekt einstellt. Das hervorgebrachte Objekt ist demnach der Anlaß und das
Dokument dieser Erfahrung. Ich will deshalb versuchen, die Dokumente der
Werkbundwerkstatt so zu
beschreiben, daß es zu einer Beschreibung der ästhetischen Erfahrungen
kommt, mithin also zu einer Beschreibung der Bildungsbewegung, die in diesen
Objekten dokumentiert ist.
–
[120:10] Keines der Objekte ist eine Bearbeitung roher Natur. Schon
im materialen Ausgangspunkt ist menschliche Arbeit investiert:
Holzbalken, Metallplatten, Glasscheiben – Geschichte also.
–
[120:11] Jedes Objekt konfrontiert das Material mit einer Idee,
einer Vorstellung. Man sieht das daran, daß man je leicht ausfindig
machen kann, wo und warum die gestalterische Tätigkeit endet. Die
Vorstellungen, denen die jeweils gefundene Gestalt folgt, entstammen
nicht der Semantik zuhandener Lebenswelt bzw. der Praxis des Alltags,
sondern dem Formen-Reservoir unserer Sinnestätigkeit.
–
[120:12] Die gefundenen Gestalten dokumentieren experimentelle
Eingriffe, und zwar sowohl in die Materialien als auch in das
Vorstellungsvermögen, in die Einbildungskraft. Die Materialien werden
verformt, die Einbildungskraft wird konturiert. Die Resultante daraus
ist eine
“dynamische Gestalt”
(Arnheim) ähnlich dem, was etwa
Goethe
mit morphologischen Bildebewegungen im Sinn hatte.
–
[120:13] Der experimentierende Eingriff findet seine Grenze in der
Beschaffenheit des Materials. Die Objekte dokumentieren, trotz aller
Eingriffs- und Verformungslust, eine Art Respekt oder Takt. Die
Kategorie des Taktes von Pleßner als das zwischenmenschliche Geltenlassen
des Eigensinns und der Freiheit des Anderen erläutert, möchte ich hier
auch auf die Welt der Dinge ausdehnen. Freilich gibt es keine Freiheit
der Dinge. Phänomenologen sprechen indessen gelegentlich von der
“Sprache der Dinge”
. Auch diese Rede ist
mißverständlich oder nur metaphorisch. Sie weist aber darauf hin, daß es
offenbar einerseits imperiale Gesten im Umgang mit der Dingwelt gibt und
andere, die sich von aufmerksamer Betrachtung dessen leiten lassen, was
sich vom Material her zeigt.
–
[120:14] Wenn die von der Materialbeschaffenheit sich zeigenden
Figurationen zwanglos mit unseren Vorstellungen verbunden werden können,
dann nannte G.E. Lessing das Ergebnis
“bequeme
(ästhetische) Zeichen”
. In ihnen versammelt sich äußere
Wahrnehmung, innere Empfindung und ideeller Vorstellungsgehalt. Den
Objekten denWerkstatt ist anzusehen, daß
sie sich auf der Spurensuche nach solchen Zeichen bewegen. Eine solche
Suche schützt vor Willkür. Ihr, der Willkür, werden nun Grenzen gesetzt
nach jenen drei Seiten hin – zur Idee, zur Empfindung und zum
Material.
–
[120:15] Alle Objekte sind normativ unterbestimmt. Man weiß nicht,
ob sie auf dem Wege zur Kunst oder zum Design sind. Mir scheint, es sind
Vorübungen zu dem, was Albrecht
Wellmer
“Gebrauchsästhetik”
(2)
|a 29|(2)Albrecht Wellmer: Zur Dialektik
von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno,
Frankfurt/M. 1985, S.115ff.
nennt. Sie
verlangen nicht nach jener emphatischen Zuschreibung, die Martin Seel mit dem
Ausdruck
“gelungen”
, und zwar im Sinne der Qualität
von professionellen Kunstwerken, vornehmen möchte. Es genügt ihnen, als
ästhetisch
“relevant”
behandelt zu werden. Und eben
dies qualifiziert sie für
“Gebrauchsästhetik”
, deren
Produkte sich, nach Wellmer,
“in die kommunikative Klärung gemeinsamer Zwecke
verstricken”
(3)
|a 29|(3)Wellmer, a.a.O., S.131.
lassen.
[120:16] Derart verallgemeinernde Beschreibungen haben naturgemäß die Art
von Hypothesen. Sie könnten, bei genauerem Hinsehen, hier und da vielleicht
falsifiziert werden. Mir scheint aber, daß der ästhetische Gestus, dem sie
folgen, ungefähr so beschrieben werden kann, wie ich es versucht habe.
Dennoch sind diese Beschreibungen deutungsbedürftig. Mindestens nach zwei
Seiten hin müßten sie genauer bestimmt werden: Sie sind Momente im
gesellschaftlichen Prozeß und sie sind
“Objektivationen”
individueller Bildung. Ich konzentriere mich auf das zweite.
Deutungen
[120:17] Paul
Klee hat in seiner berühmten Vorlesung am Bauhaus 1921/22 eine
gute Problemstellung vorgegeben (übrigens ist die Nähe der Werkbundwerkstatt zur Bauhaus-Vorlehre
gar nicht zu übersehen). Die Vorlesung beginnt mit Posaunenklängen, wie sie
uns seit Rousseau vertraut sind:
[120:18]
“Wir sind Bildner, werktätige Praktiker, und werden
uns hier daher naturgemäß auf vorzugsweise formalem Gebiet bewegen.
Ohne darüber zu vergessen, daß vor dem formalen Anfang oder
einfacher vor dem ersten Strich eine ganze Vorgeschichte liegt,
nicht nur etwa die Sehnsucht, die Lust des Menschen, sich
auszudrücken, nicht nur die äußere Notwendigkeit dazu, sondern auch
ein allgemeiner Zustand der Menschheit, dessen Richtung man
Weltanschauung nennt, der mit innerer Notwendigkeit zur
Manifestation da- oder dorthin drängt. Das betone ich, damit nicht
das Mißverständnis entsteht, als ob ein Werk nur aus Form bestehe.
[120:19] |a 28|Aber noch mehr muß ich andererseits hier betonen, daß die
genaueste wissenschaftliche Kenntnis der Natur, der Pflanzen, der
Tiere, der Erde und ihrer Geschichte, der Sterne uns nichts nützt,
wenn wir nicht mit allem Rüstzeug versehen sind zu ihrer
Darstellung. Daß uns die geistvollste Auffassung des Zusammenwirkens
dieser Dinge im Weltganzen nichts nützt, wenn wir nicht auch nach
dieser Richtung mit Formen ausgerüstet sind. Daß uns das tiefste
Gemüt, die schönste Seele nichts nützt, wenn wir die dazu gehörigen
Formen nicht bei der Hand haben”
(4)
|a 29|(4)Paul Klee: Kunst-Lehre. Aufsätze,
Vorträge, Rezensionen und Beiträge zur bildnerischen
Formenlehre, hrsg. von Günther Regel, Leipzig 1987,
S.92ff.
.
[120:20] Nach diesem wahrhaft imposanten Anfang aber kommt Paul Klee sogleich zur
Sache:
[120:21]
“Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen beginne ich
da, wo die bildnerische Form überhaupt beginnt, beim Punkt, der sich
in Bewegung setzt”
(5)
|a 29|(5)Klee, a.a.O., S.95
.
[120:22] Im Fortgang des Textes wird deutlich, daß nicht nur die
allmähliche Differenzierung graphischer Mittel beschrieben wird (wie H.v. Kleists
“Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden”
),
sondern daß Klee eine Art
Gestalt-Logik zu erläutern versucht, die einerseits auch auf andere Medien
(Holz, Glas, Metall) übertragbar ist (er konnte das ja an seinen Bauhaus-Kollegen beobachten) und die andererseits als
Symbolisierung von Sachverhalten der Innenwelt gelesen werden kann. Dies
aber ist – seit Lessing,
Herder und Humboldt – ein Thema der
Bildungstheorie.
[120:23] Wellmers Terminus
“Gebrauchsästhetik”
erinnert, ich vermute gewollt, an
die materialistische Unterscheidung von Tausch- und Gebrauchswert der Güter
und Geldmengen. Da diese Unterscheidung, jedenfalls von Marx, nicht auf
die Sphäre der Ökonomie beschränkt gedacht wurde, sondern als Beschreibung
eines Grundproblems der gesellschaftlichen Formation der Moderne, darf man
sie auch auf
“Bildung”
anwenden – etwa so, wie Georg Simmel das zum
Jahrhundertbeginn in seiner
“Philosophie des Geldes”
getan hatte (6)
|a 29|(6)Georg Simmel: Philosophie des Geldes,
Leipzig 1900.
. Auch was Wolfgang Welsch
“Ästhetisierung”
nennt, gehört, wenn ich ihn recht verstehe, zur Tauschwertseite, der gegenüber er Alternativen geltend macht (7)
|a 29|(7)Wolfgng Welsch: Das Ästhetische – eine Schlüsselkategorie
unserer Zeit? Manuskript Hannover 1992
. Auf das triviale kulturelle Detail
von Bildung bezogen heißt das, was für den Tauschwert zu Buche schlägt:
Prüfungen, Zertifikate, Berechtigungen, Kalkulierbarkeit von Bildungszeiten,
Marktförmigkeit der Ausbildungsgänge u.ä..
[120:24] Individuelle oder kommunikativ verbundene kollektive
Gebrauchswerte lassen sich zwar von Fall zu Fall abzweigen; derartige
Wertorientierungen aber können keine Sinnlinien konstituieren, die noch
zuverlässig mit der Leibgebundenheit unserer Existenz verbunden sind – auch
wenn wir diesem Leib gegenüber in
“exzentrischer
Position”
(Pleßner)
uns befinden.
[120:25] Sinnlinien sind ohne Bezug auf
“Innenwelt”
für
das in Bildung begriffene Subjekt leer. Das gilt insbesondere für diejenigen
Sinnlinien, die (mindestens) einen Halt in der Sphäre ästhetischer Erfahrung
benötigen oder die gar überhaupt nicht anders als über ästhetische Erfahrung
begonnen oder aufgegriffen werden können. Eine
“Gebrauchsästhetik”
benötigte also Auskünfte darüber, wie und unter
welchen Bedingungen sich die verallgemeinerten Muster ästhetischer
Zeichenwelten mit den je individuellen Sinnentwürfen verknüpfen können, und
zwar so, daß dabei diese Sinnentwürfe in ihrem kommunikativen Gehalt nicht
schon von vornherein der Tauschwertmentalität, der Marktförmigkeit, der
“Verhübschung”
(Welsch) geopfert werden.
[120:26] Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß solche Hoffnung nicht eitel ist.
Ich erwähne nur zwei gut begründete Argumentationen. Die eine legte der
Kognitivist Jean Piaget, die
andere der Psychoanalytiker Winnicott vor. Beide sind miteinander verträglich.
[120:27] Piagets
Beschreibung des
“Symbolspiels”
(8)
|a 29|(8)Jean Piaget: Nachahmung, Spiel und Traum,
Stuttgart 1969.
bringt die kognitiven
Komponenten ästhetischer Tätigkeit zur Sprache: In der spielerischen
Tätigkeit des Symbolisierens werden Objektmerkmale der Außenwelt mit
Gehalten der Einbildungskraft derart verknüpft, daß die aneignende, das
Äußere dem Inneren assimilierende Tätigkeitskomponente ins Gleichgewicht
gebracht wird zu der akkomodierenden, in der der Organismus, insbesondere die Wahrnehmungsoperation und
ihre kognitiven Folgen, der Außenweltcharakteristik angepaßt werden.
[120:28] Das
“Übergangsobjekt”
, dessen Begriff Winnicott entfaltet (9)
|a 29|(9)D.W. Winnicott: Vom Spiel zur
Kreativität, Stuttgart 1973; auch Peter Rech: Abwesenheit und
Verwandlung. Das Kunstwerk als Übergangsobjekt,
Basel/Frankfurt/M. 1981.
, ist demgegenüber im
Affekt- und Beziehungshaushalt des Menschen lokalisiert. Es ist ein Objekt
der libidinösen Tätigkeit. Winnicott erläutert das u.a. an einem so ambivalenten
Design-Produkt wie dem Teddybär: Die Produktcharakteristik sei in der Lage,
zwischen Abwesenheit und Anwesenheit des leibhaften Begehrens-Objektes zu
vermitteln, Nähe und Ferne in eine Balance zu bringen und dies als Tätigkeit
der Sinne in Szene zu setzen. Es könne deshalb Zugehörigkeit
aufrechterhalten und zugleich individueller Autonomie zur Geltung
verhelfen.
[120:29] Beide Autoren blieben mit ihren Verallgemeinerungsansprüchen
bescheiden und beschränkten sich in der Beweisführung auf ihr
Erfahrungsmaterial, auf die inneren und äußeren Tätigkeiten von Kindern
nämlich. Ich sehe indessen keinen Grund, derartige Einsichten nicht
hypothetisch zu verallgemeinern, und zwar auf die Charakteristik
ästhetischer Tätigkeiten und Objekte überhaupt hin. Wenn der
Objektfiguration, wie Klee
meinte und wie uns von der Gestalttheorie empirisch zuverlässig mitgeteilt
wird, immer auch eine innere Bewegung korrespondiert, und wenn diese durch
einen nicht-alltäglichen, jedenfalls aber besonderen Zustand von
Gleichgewicht, von
“Schwebe”
, von exzentrischer Autonomie
charakterisiert werden kann, dann müssen die Beschreibungen von Piaget und Winnicott nicht auf die
Kindheit begrenzt werden: Es sind Beschreibungen der Bildungsbedeutung, die
ästhetischen Ereignissen zugeschrieben werden muß.
Schlußfolgerungen
[120:30] Diese Bedeutung, dieser Erfahrungstypus, den wir
“ästhetisch”
nennen, ist indessen höchst fragil. Er kann nach zwei
Seiten hin wegrutschen: als bloß behaupteter Ausdruck von sogenannter
Selbsterfahrung, in der Außenweltkriterien – und dazu gehört auch ihre
soziale Verständlichkeit – kaum noch eine Rolle spielen; und als nur noch
marktförmig konzipiertes Design, dem kein Interesse an Sinn-Verständigung
mehr abzulesen ist, gleichviel ob es sich dabei um Architektur, Videos,
Porträts, Autos, Sitzmöbel oder Gabeln handelt.
|a 29|
[120:31] Pierre
Bourdieu hat uns darüber belehrt, wie dicht unsere ästhetischen Tätigkeiten in die Regeln von Kapitalmärkten und Status-Hierarchien eingebunden sind (10)
|a 29|(10)Pierre Bourdieu: Die feinen
Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft,
Frankfurt/M. 1982.
. Die Lokalisierung in
einem Diagramm, das durch die Koordinaten
“soziale
Position”
(Verortung nach Geld und Macht) und
“Kapitalfraktion”
(Verortung nach Zugehörigkeit zu diesen oder jenen
Zweigen der Wirtschaft) gebildet wird, kann uns ziemlich gut vorhersagen,
welche ästhetischen Tätigkeiten und Objekte wir bevorzugen oder ablehnen.
Das ist die Bestimmung ästhetischer Vorgänge zu ihrer Tauschwertseite hin.
Bourdieu verwendet dafür
den Ausdruck
“Habitus”
. Der Habitus ist eine dem
einzelnen Gesellschaftsmitglied inkorporierte Regel, nach der es seine
Präferenzen bestimmt und seine Erfahrungen macht. Indessen hat Bourdieu den Begriff
“Habitus”
einer Analyse der gotischen Ikonologie
entnommen, die von Panofsky vorgetragen wurde. Panofsky schließlich hat ihn der Philosophie
des Thomas von Aquin entnommen (11)
|a 29|(11)Vgl. dazu Wolf-Ulrich Klünker: Die
Bedeutung von
“habitus”
und
“forma”
für die mittelalterliche Bildung, in: Erziehung
und Bildung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit,
Informationen zur erziehungs- und bildungshistorischen
Forschung, Heft 31, Hannover 1987.
. Wenn also
etwa Vilém Flusser(12)
|a 29|(12)Vilém Flusser: Zur Zukunft der Werkstatt,
in: werkundzeit 2/91, S.11ff.
uns eine Rückbesinnung
auf die hochmittelalterlichen Bauhütten empfiehlt, ist eine Erinnerung an
Thomas von Aquin
vielleicht nicht ganz verkehrt.
“Habitus”
heißt dort die
sinnlich perzipierbare Gestalt – etwa in der Form von Marien-, Jesus- oder Engel-Bildern –,
die eine geistige Haltung in die Form einer Bildgeste bringt, und zwar so,
daß der Betrachter in die Lage versetzt wird, die Geste nachzuvollziehen und
damit in sich selbst die ihr entsprechende Haltung hervorzubringen, sie zu
“inkorporieren”
.
[120:32] Das ist ein riskantes Unternehmen, denn der Habitus kann gut oder
schlecht, die Folge für die Bildung also verderblich, gleichgültig oder
förderlich sein. Das bringt mich auf Wellmers Idee einer
“Gebrauchsästhetik”
und
auf die Produkte der Werkbundwerkstatt zurück. Solche Produkte sind immer dann
“gelungen”
zu nennen, wenn sie einen Gestalt-Habitus zur
sinnlichen Darstellung bringen, der eine nachahmenswerte geistige Haltung
präsentiert. Was als Wert bestimmt wird, das steht aber zur Disposition,
jedenfalls in der Moderne, läßt sich nur in Diskursen zur Entscheidung
bringen.
“Gebrauchsästhetische”
Produkte beteiligen sich
an solchem Diskurs, und zwar ohne schon vorweg den Habitus zu seiner
abstrakten Tauschwertseite hin zu stilisieren.
[120:33] Da indessen die kommunikativen Chancen ästhetischer Darstellung
u.a. davon abhängen, ob überhaupt das urteilende Ich darin zur Darstellung
kommen kann, muß eine bildungstheoretische Erörterung ästhetischer
Erfahrungen sich auch dieses zum Thema machen. Ein als
“gebrauchsästhetisch”
zu charakterisierendes Produkt müßte demnach
zwei Komponenten erkennen lassen: den Bezug auf mögliche Gebrauchsweisen der
Kommunität und den Bezug auf das sinnlich produzierende und urteilende Ich.
Da nun aber die ästhetische Tätigkeit wie keine andere das produzierende
Subjekt mit sich selbst konfrontieren kann, also auch ein Selbstgespräch ist
im Medium der sinnlichen Operationen und Materialien, enthalten solche
“Vorschulen der Ästhetik”
wie die Werkbundwerkstatt oder die Vorlehre am Bauhaus immer auch die Möglichkeit von Ich-Irritationen, den
schwierigen Weg vom Material über die Werkzeuge zur eigenen Selbstempfindung
und wieder zurück. Auf diesem Weg geschieht Unvorhersehbares. Diese
Unvorhersehbarkeit wäre vermutlich nicht gut zu ertragen, wenn das
produzierende Ich sich nicht sicher sein könnte, daß es hier als
ästhetisches tätig ist, ohne Rücksicht auf
“Praxis”
und
“Theorie”
. Ob die dabei mögliche ästhetische
Erfahrung auch in soziale Gebrauchsweisen eingefädelt werden kann, ist dann
die zweite Frage.
[120:34] Über das, was mit dem Ich geschieht, in derart auf die
Sinnentätigkeit konzentrierten Vorgängen, läßt sich vielleicht nur
metaphorisch reden. Mir scheint, daß Hugo von Hofmannsthal eine ziemlich gute Metapher fand, als er
schrieb, im Augenblick der ästhetischen Tätigkeit fühle das Ich sich
“sicher schweben im Sturze des Daseins”
(13)
|a 29|(13)Hugo von Hofmannsthal: Der Dichter
und diese Zeit, in: Ders., Ausgewählte Werke in zwei Bänden,
Bd.2, Frankfurt/M. 1957, S.464.
. Diese Metapher ist gewiß erläuterungsbedürftig. Und schließlich ist
auch die Frage, ob Derartiges lehrbar sei, eine schwierige. Ich suche mir
Hilfe bei der romantisch-ironischen Diktion Jean Pauls:
“Allerdings lehrt und lehre die Poesie”
, schrieb er 1804 in der
“Vorschule der Ästhetik”
,
aber sie tue das nur,
“wie die Blume durch ihr blühendes Schließen und
Öffnen und selber durch ihr Duften das Wetter und die Zeiten des
Tages wahrsagt; hingegen nie werde ihr zartes Gewächs zum hölzernen
Kanzel- und Lehrstuhl gefället, gezimmert und verschränkt; die
Holzfassung und wer darinsteht, ersetzen nicht den lebendigen
Frühlings-Duft”
(14)
|a 29|(14)Jean Paul: Vorschule der Ästhetik,
zitiert nach Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich
Richter. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1991, S.249.
. Hinter der romantisch-idyllischen Metapher ist die herbe Kritik an
unsereins kaum überhörbar.