5. Die Neuformulierung des Bildungsbegriffs unter dem Aspekt einer gemeinsamen Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen
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1.[124:5] Ertrag der Bildungsreformdiskussion zwischen 1960 und 1980 in der BRD;
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2.[124:6] Gründe für einen allgemeinen Bildungsbegriff für die Zehn- bis Vierzehnjährigen;
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3.[124:7] Die thematische Kontur eines zukunftsfähigen Bildungsbegriffs;
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4.[124:8] Die soziale Dimension des Bildungsbegriffs;
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5.[124:9] Bildung als Haltung.
5.1 Erfahrungen mit der Bildungsreform zwischen 1960 und 1980 in der Bundesrepublik Deutschland
5.2 Gründe für einen allgemeinen Bildungsbegriff für die Zehn- bis Vierzehnjährigen
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•[124:16] In einem integrierten Lernsystem dieser Altersphase ist es offenbar – das jedenfalls lehren die sorgfältig begleiteten und ausgewerteten Versuche in ihrer Mehrheit – besser möglich, mehr Kinder zu fördern und ihre Entwicklungsmöglichkeiten länger offenzuhalten.
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•[124:17] Ohne verschiedene Spezialisierungsniveaus und -richtungen können moderne Industriegesellschaften nicht existieren. Andererseits zeigen sich |a 141|deutlich Grenzen der Arbeitsteilung (Kern u. Schumann 1984). Dies wiederum bedeutet, daß ein gemeinsames Niveau an Grundbildung in Kenntnissen, Lernbereitschaften, Kooperationsfähigkeiten angestrebt werden müßte.
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•[124:18] Jede Schul- und Unterrichtsorganisation, jeder Lehrplan samt vorgesehenen Handlungsformen, präsentiert der heranwachsenden Generation ein„Modell“für Bildungsprozesse und deren gesellschaftliche Bedeutsamkeit. In solchen Modellen spielt, unter gegenwärtiger Perspektive, die Frage eine wesentliche Rolle, ob überhaupt und wie in ihnen„Individualität“, persönlicher Lebensentwurf, Arbeit an der je eigenen Entwicklung, und zwar als kulturell-allgemeine Erwartung, lokalisiert ist. Entwicklungspsychologie und Adoleszenzforschung belehren darüber, daß derartige„Entwürfe“heute in der Altersspanne, von der hier die Rede ist, sich zu entwickeln beginnen.
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•[124:20] Sie haben den sozialen Übergang von der Familie in ein formelles, organisiertes Sozialsystem („Schule“) einigerma ßen bewältigt, sind also mit der Differenz zwischen eher privat-intimen zu eher öffentlich-rollenbestimmten Formen der Interaktion vertraut.
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•[124:21] Sie haben sich – in Familie, Kindergarten und Grundschule, aber auch in Fußgängerzonen, Kaufhäusern und am Bildschirm – elementare Techniken der kulturellen Teilhabe angeeignet: sie können lesen, schreiben, rechnen; sie können bewegte Bilder verstehen, mit Lebendigem umgehen, sich selbst als unterschieden von anderen bestimmen.
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•[124:23] Sie können noch keine begründeten Berufswahlentscheidungen treffen;
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•[124:24] die Systemimperative der„Polis“liegen ihnen noch eher fern;
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•[124:25] ihre eigene Individualität, dauerhafte Stärken und Schwächen sind ihnen noch ein Rätsel
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•[124:26] mit schwierigen personalen Beziehungen, mit Freundschaft und Geschlecht, beginnen sie gerade erst zu experimentieren;
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•[124:27] die Probleme der Selbstlokalisierung in sozialen Kontexten, also sogenannte Identitätsprobleme der Adoleszenz, deuten sich gerade erst an.
5.3 Die thematische Kontur eines zukunftsfähigen Bildungsbegriffs
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•[124:34] Unsere Kultur ist auf Verständigung angewiesen. Das bedeutet nicht nur Pflege der mündlichen Kommunikation, sondern auch Text- und Zeichen-Verstehen; nicht nur Verstehen des je Eigenen, Vertrauten, sondern auch des Fremden.
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•[124:35] Unsere Kultur ist in besonderer Weise durch Technik bestimmt. Das gilt freilich in einem ganz allgemeinen Sinne für jede Kultur (Werkzeuge).„Technik“ist aber für uns nicht mehr nur die instrumentell vermittelte Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse, sondern ein„System“, das unseren Lebenswelten gleichsam von außen auferlegt ist und in dessen Begreifen und Handhaben die junge Generation sich einfädeln muß (z. B. Maschinen, Geldverkehr, Computer).
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•[124:36] Das setzt ein Denken im„Beobachterstatus“voraus, so wie es in den Naturwissenschaften ausgebildet wurde: einen Sachverhalt zur Kenntnis nehmen, Ursachen und Folgen unterscheiden, Gesetzmäßigkeiten finden, objektiv prüfen, experimentieren.
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•[124:37] Andererseits hat eben dieses Denken für die Gegenwart problematische Folgen hervorgebracht, insbesondere die Einsicht, daß wir mit der Natur in einem Oikos, einem gemeinsamen„Haushalt“, einem unauflöslichen Wechselverhältnis, leben und also das„System Technik“sich auch gegen uns wenden kann. Ein sowohl aufmerksamer als auch empfindsamer Umgang mit der Natur als wesentlichem Teil unserer Umwelt muß offensichtlich gelernt und an Imperative der Sittlichkeit gebunden werden.
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•[124:38] Auch wir selbst sind„Natur“, jedenfalls unser Leib. Er speist immer erneut nicht nur unsere Bedürfnisse, sondern auch unsere Vorstellungen, Phantasien, Wünsche und Ängste. Die leibhaft-ästhetischen Darstellun|a 145|gen des Ich in seinem Selbstverhältnis, die Inszenierungen dieses Ich in Abgrenzung gegen öffentliche Standarderwartungen sind in unserer Kultur deshalb wichtiger geworden – auch wenn diese Selbstdarstellungen rasch vom Markt vereinnahmt werden nicht in dem klassizistischen Sinne der Erinnerung an„das Wahre“in den Darstellungen der Kunst, sondern im Sinne einer„wahrhaftigen“, einer authentischen oder aufrichtigen ästhetischen Darstellung jenes Verhältnisses (vgl. Mollenhauer 1988) . Diese Thematik umfaßt also das ganze Feld der Sinnlichkeit, bis hin zu Sexualität, Ernährung und Gesundheit.
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•[124:39] Unsere Gesellschaft ist, weil kriegerische Konflikte – ganz anders als zur Zeit der klassischen Bildungstheorie – elementar und universell lebensbedrohend geworden sind, bei dem Versuch, die junge Generation in unsere Problemstellungen einzuführen, auf die Thematik Friedfertigkeit/Gewalt verpflichtet. Diese Thematik hat, wie übrigens auch die anderen, eine große Reichweite: von den Gewalthandlungen/Friedfertigkeiten in der Familie, auf dem Pausenhof, im Klassenzimmer bis zu den vergewaltigenden Handlungen gegenüber Frauen oder„Ausländern“; von den Spielgewohnheiten im Kinderzimmer oder an Spielcomputern bis zu den kriegsstrategischen Planspielen. Dazwischen liegen freilich kategoriale Unterschiede. Als Dimension der Bildungsthematik aber scheint uns dieser Fragehorizont notwendig zu einem modernen Bildungsverständnis zu gehören.
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•[124:40] Angesichts von Verständigungserwartungen, Technikherausforderungen, Umweltbedrohungen, Leiberfahrungen, Friedfertigkeitszumutungen gewinnt menschliche Arbeit/Tätigkeit heute eine neue oder erneute Qualität. Da es, der Differenz zwischen Systemzumutungen und Lebenswelterwartungen wegen, schwierig geworden ist, marktförmige Arbeitsleistungen mit subjektiven Sinnentwürfen zu verknüpfen, besteht eine wesentliche Bildungsaufgabe darin, die Bedeutung dieser Differenz zugänglich zu machen. Das kann – in einer Lebensphase weit vor dem Eintritt in die arbeitsteilige Berufswelt – nicht anders gelingen als dadurch, daß die sinnstiftende und erfahrungserweiternde Funktion von Tätigkeiten, als Auseinandersetzung mit äußerer Natur, mit objektiv gegebenen Problemlagen, mit„Umwelt“also, in eigener Arbeit und in Kooperation mit anderen erlebbar wird. Sowohl der Widerstand des Objektiven (Natur, Material, technischer Stand etc.) als auch die produktive Fähigkeit des sich bildenden Subjekts können darin zugänglich werden.
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•[124:41] Alle diese Dimensionen eines thematischen Profils moderner Bildung blieben zukunftsleer, wenn sie nicht komplettiert würden durch politische Beteiligung. Diese allerdings setzt Grundqualifikationen in den anderen Bereichen der Bildungsthematik voraus. Vor allem ist darin vorausgesetzt, eigene Erfahrung und eigenes Wollen mit den Möglichkeiten von deren |a 146|Verallgemeinerbarkeit, zu verbinden, auch für andere geltend zu machen, was zunächst nur für mich, den einzelnen, gelten mag, also moralische Urteils- und Handlungskompetenz.
5.4 Die soziale Dimension des Bildungsbegriffs
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•[124:43] Verständigung (häufig auch Kommunikation genannt) findet psychogenetisch zunächst mit Personen statt, zumal mit vertrauten. Die Schule ist zwar nicht der erste oder einzige, aber ein ausgezeichneter Ort des Sich-Verständigens mit Gleichaltrigen verschiedener Art, mit bis dahin Unvertrauten. Das darauf bezogene Thema unserer Kultur und die damit gegebene Bildungsfrage lautet: Wie kann das Für-sich-Sein im Vertrauten und das Miteinander-Sein mit Unvertrautem in eine Balance gebracht werden? Je stärker die Schule segregierend verfährt (mit„Begabungsunterschieden“nach Klassen oder Schularten, mit„Sonderschülern“,„Behinderten“,„Ausländern“u. ä.), um so eher verspielt sie diese Bildungschance; je mehr integrativ sie verfährt, um so eher eröffnet sie hier eine Bildungsperspektive, auch wenn sie schwieriger zu bewältigen sein mag.
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•[124:44] Statusdifferenzen, Wettbewerb, Hierarchien, Rollen gehören zum sozialen Handlungsalltag jeder Schule und Schulklasse, gehören mithin also auch |a 147|zum Lernfeld. Eine demokratische Bildungstheorie wäre schlecht beraten, wollte sie darauf setzen, derartige Strukturen abzuschaffen – sei es, daß diese von„oben“, von der Administration, von den professionellen Rollen her geprägt sind, sei es, daß sie von„unten“als informelle Gruppen- und Cliquen-Strukturen kommen. Sie können aber zum Thema gemacht werden, nicht nur im intellektuellen Diskurs, sondern durch das Arrangement verschiedenartiger Gruppen, durch das Ausprobieren wechselnder Rollen, den Austausch der Hierarchien, Verschiedenartigkeit der Wettbewerbschancen. Die Erfahrungen mit dem„Team-Kleingruppen-Modell“(vgl. Schlömerkemper u. Winkel 1987) haben die Bildungsbedeutsamkeit einer solchen vielfältigen sozialen Struktur und die Notwendigkeit von Transparenz der Lernbedingungen im Sinne ihrer sozialen Settings deutlich gemacht.
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•[124:45] Kooperation. Nicht nur ist die Arbeitswelt wichtiger Inhalt eines modernen Bildungsprofils – die Tätigkeit der Schülerinnen und Schüler kann selbst als Arbeit begriffen werden, als Kooperation zum Zweck der Herstellung eines nützlichen Produktes, wie klein auch immer die Sozietät sein mag, der es zum Nutzen gereicht. Sinn und Grenzen der Arbeitsteilung, ihre elementare Differenzierung nach Kompetenzen, nach Beteiligungsarten und -graden, die Balancen im Gruppenprozeß zwischen verschiedenen Neigungen und Lernfortschritten können erfahrbar werden. Arbeit ist in unserer Kultur vorwiegend ein in den Leistungen geteilter, aber kooperativer Gruppenvorgang, auch wenn, in den großindustriellen Ausprägungsgraden und in der größten Zahl der Fälle, die Kooperation gegenüber der Teilung zurücktritt. In der elementaren Form vermittelt sie Grunderfahrungen, in denen individuelle Leistungen, Wettbewerb, Status über das gemeinsame Produkt transparent und rational zugänglich werden. (Die Arbeitsschulbewegung des ersten Jahrhundertdrittels hat diesen Gesichtspunkt dem Bildungsbegriff hinzugefügt; die neuesten Untersuchungen zum„praktischen Lernen“haben ihn, auf gegenwärtige Problemlagen hin, modifiziert und bekräftigt.)
5.5 Bildung als Haltung
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•[124:48] Konstruktiv sollte eine gebildete Person mit den ihr verfügbaren Kompetenzen insofern umgehen, als sie diese nicht als ein für allemal erworben betrachtet, sondern sie in der Auseinandersetzung mit der kulturellen Tradition und ihren Entwicklungen ständig erneuert und zu erweitern trachtet;
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•[124:49] Sozial sollte eine gebildete Person mit den ihr verfügbaren Kompetenzen insofern umgehen können, als sie über die verschiedenen Grade und Profile der kulturellen Kompetenzen hinweg sich um Kommunikation bemüht, die eigene Position selbstkritisch distanziert und zu kooperativem Handeln fähig und bereit ist.