Die Neuformulierung des Bildungsbegriffs unter dem Aspekt einer gemeinsamen Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen [Textfassung a]
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5. Die Neuformulierung des Bildungsbegriffs unter dem Aspekt einer gemeinsamen Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen

[124:1] Der Begriff
Bildung
, wie er heute im deutschsprachigen Raum, wenngleich gelegentlich mit durchaus verschiedenen Bedeutungen, verwendet wird, hat seine historische Wurzel in der Bildungsphilosophie der Jahre 1780 bis 1830. Im Kern meinte dieser Begriff eine Form des Bewußtseins und der Lebensführung, einen seelisch-geistigen
Habitus
, der im wesentlichen sich durch zwei Akzente auszeichnet: Bildung hieß dort der Vorgang und das Ergebnis (man
bildet sich
und
ist gebildet
) einerseits der Aneignung der geltenden kulturellen Bestände (Sprache, Künste, Wissensformen, Techniken), andererseits die in diesem Vorgang erworbene
Individualität
, die Selbständigkeit der Person (ihre Autonomie) gegenüber den kollektiven und also historisch veränderbaren Standards der gerade herrschenden gesellschaftlichen Erwartungen und kulturellen Inhalte. Dies war jenen Autoren (vor allem Rousseau, Diderot, Herder, Pestalozzi, Schiller, Schleiermacher, Humboldt, Hegel) wichtig, weil sie für ihre historische Lage (Französische Revolution) einen epochalen Wandel von ständisch-feudalen Gesellschaftsverhältnissen zu bürgerlich-demokratischen diagnostizierten und weil für diese historische Transformation drei Fähigkeiten/Fertigkeiten notwendig schienen: ein kompetenter Umgang mit den kulturellen Überlieferungen, die Ausbildung einer je eigenen und selbstsicheren Individualität (Persönlichkeit, Charakter) und die daraus folgende Kraft, in die kulturell-gesellschaftlichen Verhältnisse verbessernd einzugreifen, sich politisch zu beteiligen. Zudem war diese Bildungsvorstellung
egalitär
, und zwar in dem Sinne, daß ihnen die gesellschaftliche Evolution an einem Punkt angekommen schien, wo der Bürger zur Wahrnehmung von Rechtsgleichheit und der Gleichheit von Selbstbestimmungschancen gebildet werden müsse.
[124:2] Diese Ideen, das sahen jene Bildungstheoretiker sehr wohl voraus, müssen sich in der Schule bewähren, an dem gesellschaftlichen Ort also, wo vor allem Bildungsprozesse öffentlich organisiert werden. Der preußische Unterrichtsgesetzentwurf von 1819 war deshalb die naheliegende andere Seite der Bildungstheorie – auch wenn unstrittig blieb, daß Bildung mehr ist als das, was durch Schule und Unterricht vermittelt werden kann. Damit rückten zwei Fragen in den Vordergrund: An welchen kulturellen Inhalten |a 137|läßt sich jene Bildung erwerben? In welchen schulorganisatorischen Formen könnte das geschehen? Dabei durfte das Konzept einer allgemeinen Bildung, als Auseinandersetzung mit im Prinzip gleichen kulturellen Inhalten und als Bildung für alle, nicht verletzt werden. Neben der individuellen Unterschiedlichkeit sollte also auch eine gesellschaftlich
egalitäre
Zielsetzung zu ihrem Recht kommen.
[124:3] Naturgemäß ist, nach fünf Generationen, manches in den Details jener Vorstellungen veraltet. Ihre Prinzipien aber, als regulative Ideen für Schulreformen in modernen Gesellschaften, blieben gültig, ja entfalteten ihre Perspektiven wie freilich auch ihre Schwierigkeiten erst im 20. Jahrhundert voll. Dabei steht im Zentrum die Frage, wie jene Bildungsprinzipien angesichts der gegenwärtigen Lage moderner Gesellschaften auszulegen seien, und zwar auf ihre unausweichlichen Zukunftsthematiken hin. Am dichtesten stellen sich derartige Fragen für die Altersgruppe der Zehn- bis Vierzehn-, vielleicht gar der Zehn- bis Sechzehnjährigen. Vornehmlich an dieser Altersgruppe – schon im Besitz der elementaren
Kulturtechniken
und noch frei von spezialisierenden Erwartungen des Systems gesellschaftlicher Arbeitsteilung – müssen die modernen Gesellschaften unter Beweis stellen, ob die auf eine gemeinsame Kultur und auf die Beteiligung aller Bürger zielenden Bildungsprinzipien ernst gemeint sind und eine Zukunftschance haben.
[124:4] Wir prüfen und diskutieren diese Problemlage in den folgenden Schritten:
  1. 1.
    [124:5] Ertrag der Bildungsreformdiskussion zwischen 1960 und 1980 in der BRD;
  2. 2.
    [124:6] Gründe für einen allgemeinen Bildungsbegriff für die Zehn- bis Vierzehnjährigen;
  3. 3.
    [124:7] Die thematische Kontur eines zukunftsfähigen Bildungsbegriffs;
  4. 4.
    [124:8] Die soziale Dimension des Bildungsbegriffs;
  5. 5.
    [124:9] Bildung als Haltung.

5.1 Erfahrungen mit der Bildungsreform zwischen 1960 und 1980 in der Bundesrepublik Deutschland

[124:10] Bildung, wie immer sie auch bestimmt werden mag, hat eine soziale/gesellschaftliche Funktion. Deshalb skizzieren wir im folgenden zunächst den Problemstand zu dieser Seite der Sache.
[124:11] Die Bildungsreform der sechziger Jahre in der BRD (vgl. z.B. Flitner 1977, Klemm, Rolff u. Tillmann 1985, Tillmann 1987) war – in einigen Ländern früher, in anderen später – unter anderem von der Erkenntnis geleitet, daß es aus ökonomischen wie aus Gründen der demokratischen |a 138|Gerechtigkeit notwendig oder zumindest wünschenswert sei, einem größeren Anteil der Heranwachsenden den Zugang zu den sogenannten
weiterführenden
Bildungsgängen zu eröffnen. Es schien nötig wie möglich, ein vermutetes
Reservoir an Begabungen
besser auszuschöpfen. Solche Investitionen sollten die ökonomische Entwicklung fördern und zumindest die internationale Konkurrenzfähigkeit sichern. Zum anderen schien es den Bildungspolitikern angezeigt zu sein, die in vielen Untersuchungen aufgewiesene soziale Selektivität des Bildungssystems (am prominentesten dazu Dahrendorf 1965) zu beseitigen. Es war nämlich inzwischen nicht mehr zu übersehen, daß – aus verschiedenen Gründen und immer noch die Kinder aus sozial benachteiligten Gruppen (insbesondere der Arbeiterschaft) beim Zugang zu den weiterführenden Schulen benachteiligt waren. Darüber hinaus wurde gelegentlich erwartet, bei entsprechend geschickter und aufwendiger Gestaltung des schulischen Lernens, allen Kindern einen höher qualifizierten Abschluß vermitteln zu können (vgl. z.B. Bloom 1970).
[124:12] Als pädagogisches Konzept, mit dem nunmehr die klassischen Bildungsprinzipien (auch) für alle Schülerinnen und Schüler umgesetzt werden sollten, empfahl u.a. der Deutsche Bildungsrat 1969 die
Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen
. Darin sollten in der Sekundarstufe I alle Zehn- bis Sechzehnjährigen gemeinsam unterrichtet werden, um sie langfristig fördern und zu frühe Festlegungen vermeiden zu können. Möglichst viele Schüler, und insbesondere jene aus sozial benachteiligten Gruppen, sollten zu möglichst weit qualifizierenden Abschlüssen geführt werden. Ihr Bildungsgang sollte offengehalten, und möglichst vielen Schülern sollte möglichst viel
Bildung
vermittelt werden. Für solche
Bildung
wurde unter anderem damit geworben, daß diese sich
auszahle
, daß der bessere Schulabschluß den Zugang zu entsprechenden beruflichen und gesellschaftlichen Positionen eröffnen würde. Dadurch entstand – das können wir heute im nachhinein sagen – eine zunächst ausweglos scheinende Schwierigkeit: Das Versprechen, Bildung werde sich auszahlen, konnte und kann nur in dem Maße eingelöst werden, in dem mit einem wachsenden Anteil an höher qualifizierten Abschlüssen zugleich das Angebot an entsprechenden beruflichen Positionen erweitert wird. Wenn dies sich nicht einstellt, kann sich Bildung nur in dem Maße
auszahlen
, in dem andere, potentielle Mitbewerber in geringerem Maße
gebildet
werden und aus der Konkurrenz ausscheiden. Das Aufstiegsversprechen erforderte also – was seinerzeit als sicher erwartet wurde – ein stetiges wirtschaftliches Wachstum, oder es konnte, trotz der guten demokratischen Absichten einer gleichen Bildung für alle, nur zu Lasten anderer verwirklicht werden. Da die ökonomische Entwicklung nicht in dem erwarteten Maß expandierte, mußte sich notwendigerweise die Konkurrenz um die privilegierten Positionen bzw. den Erhalt eines erreich|a 139|ten Standards verschärfen. Was somit schon im damaligen Programm der
demokratischen Leistungsschule
(Sander, Rolff u. Winkler 1967) angelegt gewesen war, spitzte sich unter den folgenden ökonomischen Bedingungen zu: Bildung blieb ein Mittel, mit dem sich konkurrierende Arbeitsmarkterwartungen verwirklichen konnten. Eine so auf sozialen Status hin funktionalisierte Bildung aber widerspricht einem wesentlichen Moment der ursprünglichen begrifflichen Bestimmung, nämlich der Forderung, daß die Bildung der Person einzig nach dem Grad ihrer kulturellen Teilhabefähigkeit bestimmt werden dürfe und danach, in welchem Maße sie der Sozialität verpflichtet ist. Die Differenzierung des Unterrichtsangebots nach
Kern
-Unterricht, in dem alle gemeinsam unterrichtet werden, und
Kursen
, in denen eine Differenzierung nach Leistungsniveaus vorgenommen wird, war ein Versuch, diese Schwierigkeit unterrichtsorganisatorisch zu bewältigen.
[124:13] ln den Gesamtschulen, die seit Ende der sechziger Jahre überwiegend nach dem Konzept des Kern-/Kurs-Modells arbeiten, konnte das Ziel, möglichst viele Kinder insbesondere aus bis dahin benachteiligten Familien zu weiterführenden Abschlüssen zu führen, ein ganzes Stück weit erreicht werden (vgl. zusammenfassend Fend 1982). Nicht erfolgreich waren diese Schulen, wenn man sie an dem anspruchsvollen Ziel mißt, allen Schülern eine Grundbildung zu vermitteln, die wenigstens dem Niveau der
Mittleren Reife
(dem für die gymnasiale Oberstufe qualifizierenden Abschluß) entspricht. Nach wie vor genügen auch unter den pädagogisch insgesamt recht wirksamen Lernbedingungen etliche Schüler den Ansprüchen weiterführender Bildungsgänge nicht, nach wie vor gibt es erhebliche Unterschiede in den Leistungsständen, die Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schulzeit erreichen. Dadurch wurden allerdings diejenigen, die es denn immer noch nicht schaffen, um so mehr in ihrem geringeren Erfolg auf ihre eigene (Un-)Fähigkeit verwiesen und in ihrem Selbstwertgefühl wie in ihren sozialen und beruflichen Chancen benachteiligt. Zugleich bedeutet ein gestiegener Anteil an höher qualifizierten Abschlüssen, daß diese selbst nicht mehr jene be(vor)rechtigende Bedeutung haben, die einst im Kontext des Aufstiegsversprechens zu Bildungsanstrengungen motivieren sollte und motiviert hatte. Unter der Bedingung einer Koppelung des Bildungssystems an ein konkurrenzorientiertes Beschäftigungssystem hebt eine erfolgreiche pädagogische Arbeit ihre Grundlagen insofern selbst auf, als sie die versprochenen Gratifikationen entwertet und in den Lern- bzw. Bildungsprozessen an jenen Konkurrenzmechanismen festhält, die sie gerade abschaffen wollte.
[124:14] Das zeigt sich auch in den Beziehungen der Schüler zum schulischen Lernen. Die Einstellungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen der Schule gegenüber werden in der Forschung überwiegend folgendermaßen beschrieben: Die
Akzeptanz
der Schule (also: ihre Wertschätzung) hat nach außen |a 140|hin, an der Oberfläche des Verhaltens, zugenommen, im Innern ist sie jedoch geringer geworden. Die Schülerinnen und Schüler akzeptieren die Schule als eine notwendige, auch für ihre eigene Lebensplanung unvermeidliche Institution, aber innerlich, emotional verhalten sie sich eher neutral oder gar distanziert. Nicht das Lernen selbst, nicht
die Sache
ist ihnen vorwiegend wichtig, sondern das Zertifikat; der gesellschaftliche
Tauschwert
dominiert den erwünschten
Bildungswert
(vgl. z.B. Arbeitsgruppe Schulforschung 1980, Haecker u. Werres 1983: Nach der Untersuchung der Arbeitsgruppe Schulforschung haben die Schüler
dieses Prinzip der Verteilung und Rechtfertigung von Ungleichheiten offensichtlich so weit verinnerlicht, daß ihnen die gegebenen Verhältnisse ... als natürlich und wenig beeinflußbar erscheinen
(S. 187)
. Es habe sich eine
Mischung aus
Arbeitnehmerhaltung
und
Wohlfahrtsempfänger
(S. 195)
entwickelt.
Man tut seine Arbeit mit mehr oder weniger Interesse an der Sache, um nachfolgend dann belohnt zu werden.
(ebd.)
). Zugleich aber ist bei den Jugendlichen der Anspruch stärker geworden, Schule solle sich eben nicht darauf beschränken, Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln und Zertifikate zu erteilen, sondern schulisches Lernen solle aus sich selbst heraus und für sich selbst bedeutsam, eben ein
Bildungsprozeß
sein, in dem die zu bildenden Schülerinnen und Schüler nicht nur etwas im Beruf Verwertbares erwerben, sondern – ihrer eigenen Erwartung nach – für ihre eigene Persönlichkeit gewinnen könnten. Wenn wir nun dennoch im Sinne des traditionellen Bildungsbegriffs an der Programmatik einer Schule für alle Kinder (hier vor allem der Zehn- bis Vierzehnjährigen) festhalten, so bedarf dies angesichts der historischen Erfahrungen der erneuten Prüfung und Begründung.

5.2 Gründe für einen allgemeinen Bildungsbegriff für die Zehn- bis Vierzehnjährigen

[124:15] Das oben beschriebene Dilemma läßt indessen einige wesentliche Annahmen unberührt, von denen einige sogar durch die vorliegenden Erfahrungen der letzten Jahrzehnte bekräftigt wurden. Sie betreffen vor allem die gesellschaftliche Funktion bzw. Lokalisierung von
Bildung
. Wir nennen drei solcher Annahmen:
  • [124:16] In einem integrierten Lernsystem dieser Altersphase ist es offenbar – das jedenfalls lehren die sorgfältig begleiteten und ausgewerteten Versuche in ihrer Mehrheit – besser möglich, mehr Kinder zu fördern und ihre Entwicklungsmöglichkeiten länger offenzuhalten.
  • [124:17] Ohne verschiedene Spezialisierungsniveaus und -richtungen können moderne Industriegesellschaften nicht existieren. Andererseits zeigen sich |a 141|deutlich Grenzen der Arbeitsteilung (Kern u. Schumann 1984). Dies wiederum bedeutet, daß ein gemeinsames Niveau an Grundbildung in Kenntnissen, Lernbereitschaften, Kooperationsfähigkeiten angestrebt werden müßte.
  • [124:18] Jede Schul- und Unterrichtsorganisation, jeder Lehrplan samt vorgesehenen Handlungsformen, präsentiert der heranwachsenden Generation ein
    Modell
    für Bildungsprozesse und deren gesellschaftliche Bedeutsamkeit. In solchen Modellen spielt, unter gegenwärtiger Perspektive, die Frage eine wesentliche Rolle, ob überhaupt und wie in ihnen
    Individualität
    , persönlicher Lebensentwurf, Arbeit an der je eigenen Entwicklung, und zwar als kulturell-allgemeine Erwartung, lokalisiert ist. Entwicklungspsychologie und Adoleszenzforschung belehren darüber, daß derartige
    Entwürfe
    heute in der Altersspanne, von der hier die Rede ist, sich zu entwickeln beginnen.
[124:19] Über die Altersgruppe der Zehn- bis Vierzehnjährigen – wir würden lieber von Zehn- bis Sechzehnjährigen sprechen – gelten überdies einige spezifizierende Bedingungen, auf deren Grundlage erst eine inhaltliche Konturierung des Bildungsbegriffs vorgenommen werden kann:
  • [124:20] Sie haben den sozialen Übergang von der Familie in ein formelles, organisiertes Sozialsystem (
    Schule
    ) einigerma ßen bewältigt, sind also mit der Differenz zwischen eher privat-intimen zu eher öffentlich-rollenbestimmten Formen der Interaktion vertraut.
  • [124:21] Sie haben sich – in Familie, Kindergarten und Grundschule, aber auch in Fußgängerzonen, Kaufhäusern und am Bildschirm – elementare Techniken der kulturellen Teilhabe angeeignet: sie können lesen, schreiben, rechnen; sie können bewegte Bilder verstehen, mit Lebendigem umgehen, sich selbst als unterschieden von anderen bestimmen.
[124:22] Dies ist, ungefähr, der Startpunkt für Zehnjährige. Demgegenüber steht ihnen noch vieles bevor, das sie derzeit noch nicht vorwegnehmend sich realistisch vorstellen können:
  • [124:23] Sie können noch keine begründeten Berufswahlentscheidungen treffen;
  • [124:24] die Systemimperative der
    Polis
    liegen ihnen noch eher fern;
  • [124:25] ihre eigene Individualität, dauerhafte Stärken und Schwächen sind ihnen noch ein Rätsel
  • [124:26] mit schwierigen personalen Beziehungen, mit Freundschaft und Geschlecht, beginnen sie gerade erst zu experimentieren;
  • [124:27] die Probleme der Selbstlokalisierung in sozialen Kontexten, also sogenannte Identitätsprobleme der Adoleszenz, deuten sich gerade erst an.
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[124:28] Auf diese lebensgeschichtliche Lage hin skizzieren wir unseren Bildungsvorschlag. Diese Altersphase ist gekennzeichnet von beginnender Weltoffenheit, aber im Bruch: die primären lebensweltlichen Erwartungen der nächsten Beziehungen in den Herkunftsmilieus sind gerade noch in Kraft; die erweiterten Erfahrungen der verschiedenen Systemumwelten (Politik, Ökonomie, Religion, Siedlung usw.) mit ihren je eigenen Regeln geraten gerade erst in den Blick; die Qualitäten sozialer Beziehungen, also Sich-in-einen-anderen-Hineinversetzen, Rollenzuschreibungen und -abweisungen, Abhängigkeiten und Ausweglosigkeiten, Selbstwertgefühle und Solidaritätssicherheiten werden erst andeutungsweise zum Problem; die Selbst-Distanzierung des Ich von primären Gefühlen, Bedürfnissen, Motiven gelingt noch nicht recht. Es handelt sich also um eine Lebensphase in unserer Kultur, in der zum ersten Mal eine objektive Vielfalt von Problemen zur Disposition steht, eine Phase, in der Unterstützung dringend geboten ist.
[124:29] Die Vielfalt und Differenziertheit, der Probleme läßt gerade für diese Altersphase eine Trennung der Schülerinnen und Schüler nach sozialen Herkünften, nach Neigungen oder gar
Begabungen
dysfunktional erscheinen. Denn: Was in der Schule tatsächlich an Bildung geschieht und möglich ist, hängt nicht allein vom Lehrplan ab, sondern ebenso von den Problemstellungen des sozialen Feldes. Das gilt insbesondere für die ethische Dimension der Bildung: Schon längst nicht mehr können sittliche Urteile und kann sittliches Handeln durch Beschränkung auf soziale Teilgruppen legitimiert werden; zudem ist die Altersgruppe zwischen dem 10. und dem 16. Lebensjahr im Hinblick auf die Bildung des moralischen Urteils entscheidend; in dieser Spanne bildet das Kind/der Jugendliche im Regelfall jene Fähigkeit der
Perspektiven-Übernahme
, des Sich-hineinversetzen-Könnens in andere aus, die für moralisches Urteilen und Handeln in der Moderne fundamental ist (Piaget, Kohlberg). Die Erwartung, mit dem zu kooperieren, der in seinem kognitiven Stand
besser
oder
schlechter
ist, der unter anderen Lebenswelt- und Moralbedingungen aufwuchs, der anderen kulturellen Traditionen entstammt, ist deshalb das notwendige Praxismaterial, an dem eine zeitgemäße Sittlichkeit sich bilden kann, jedenfalls dann, wenn wir den Begriff
Solidarität
nicht auf kleinräumige Sozialverhältnisse, auf interne Beziehungen von Ethnien, Statusgruppen, kulturelle Regionen oder gar nur auf politisch-ideologische Bezugssysteme beschränken wollen.

5.3 Die thematische Kontur eines zukunftsfähigen Bildungsbegriffs

[124:30] Das Bildungskonzept der Klassik litt schon zu Beginn an einer wesentlichen Schwäche, dem Versuch nämlich, Bildung in dem Sinne als allgemeine |a 143|Menschenbildung bestimmen zu wollen, daß ihr universelle Geltung zugesprochen werden kann. Das aber ist argumentativ nicht möglich und führt empirisch-historisch in die Irre, weil
der Begriff des uneingeschränkt Allgemeinen niemals angemessen konkretisiert werden
kann
(Wolfgang Fischer 1987, S. 35)
. Die Folge aus diesem Irrtum war die Trennung von
Allgemeinbildung
und
Berufsbildung
(Blankertz), von
theoretischem
und
praktischem
Lernen (Fauser u.a. 1983) und, daraus gleichsam resultierend, die Bevorzugung des Gymnasiums als dem
eigentlichen
Ort der Bildung. Die Bestimmung von Bildung ist indessen ein Problem und eine
unendliche Aufgabe
(Fischer). Das bedeutet, daß immer wieder der historisch-konkrete Versuch unternommen werden muß, den Bildungsbegriff thematisch auszulegen, und zwar auf den je gegebenen Horizont gesellschaftlicher Existenz hin. Für diese Auslegung unterstellen wir die folgenden Kriterien:
[124:31] Die Bildung des Nachwuchses soll den wesentlichen Komponenten unserer Kultur einen elementaren Zugang erschließen; sie soll sich nicht nur an den zuverlässigen und bewährten kulturellen Beständen orientieren, sondern die lebensbedrohlichen Sachverhalte der modernen Zivilisation ernst nehmen; sie soll deshalb von den kleinräumigen kulturellen Orientierungen übergehen zu den großräumig-globalen, zu fremden Kulturen, zu den ökonomisch-politisch erzeugten Ungleichheiten und Ausbeutungen weit über unsere jeweiligen Herkunftsländer hinaus; sie soll schließlich, jedenfalls solange dieser Begriff noch Plausibilität hat, ein Bewußtsein von politischer und moralischer Verantwortung ermöglichen, z.B. auch etwas von dem, was in der gegenwärtigen Diskussion
Solidarität
genannt wird, mit Bezug auf die nächsten und die ferneren Verhältnisse.
[124:32] Versucht man, diesen Kriterien folgend (vgl. besonders Klafki 1985, Mollenhauer 1988), inhaltlich bestimmte Dimensionen/Bereiche, also ein thematisches Profil der Bildung zu ermitteln, dann ergibt sich etwa das Folgende. Zuvor scheint indessen eine Zwischenbemerkung angebracht: Eine derartige Bestimmung von inhaltlichen Komponenten eines zeitgemäßen Bildungskonzepts hat es mit zwei Schwierigkeiten zu tun – auch dann, wenn man, wie in diesem Fall, keine Wichtigkeits-Rangfolge unter ihnen bildet: Sie kann wie wir es an dem Inhaltskanon der klassischen Bildungstheorie oder an den versuchten differenziellen Katalogen einer
volkstümlichen
, mittleren und gymnasialen Bildung erfahren haben – bald überholt sein. Diese Bestimmungen sind außerdem empirisch offen; d.h. wir können nicht, im strengen Sinne des Ausdrucks
empirisch
, zuverlässig behaupten, daß eine Bildung des Nachwuchses in diesen thematischen Dimensionen tatsächlich auch jene Dispositionen erzeugt, die für die Zukunft wünschbar sind (vgl. dazu Beck 1986). In dieser Hinsicht sind wir allerdings, trotz |a 144|empirischer Forschung, kaum klüger als Sokrates, Erasmus oder Humboldt. Wir sind auf sensible Diagnosen der kulturellen Lage angewiesen und auf riskante Transformationen solcher Diagnosen in Bildungsprofile. (Auch bei üppiger Ausstattung der Bildungsforschungseinrichtungen würde es mindestens zwei Jahrzehnte brauchen, um empirisch zuverlässig nachzuweisen, ob das hier vorgeschlagene Bildungsprofil den gewünschten Effekt des
gebildeten Bürgers
erbringt. Derartige Erwartungen sind ebenso absurd wie die, eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt solle erst dann die beabsichtigte Programm-Struktur realisieren, wenn deren Folgen empirisch überprüft sind.) Derartige Risiken sind ebenso notwendig wie unvermeidbar. Ein Bildungsbegriff ist immer eine praktische Hypothese, die in den Geschichtsverlauf eingebracht wird; sie muß diskutiert werden; aber sie kann nicht, wie beim Bau einer Brücke, durch zuverlässige empirische Forschung gegen jeden Zweifel gesichert werden.
[124:33] Dennoch schlagen wir die folgende Profilierung vor:
  • [124:34] Unsere Kultur ist auf Verständigung angewiesen. Das bedeutet nicht nur Pflege der mündlichen Kommunikation, sondern auch Text- und Zeichen-Verstehen; nicht nur Verstehen des je Eigenen, Vertrauten, sondern auch des Fremden.
  • [124:35] Unsere Kultur ist in besonderer Weise durch Technik bestimmt. Das gilt freilich in einem ganz allgemeinen Sinne für jede Kultur (Werkzeuge).
    Technik
    ist aber für uns nicht mehr nur die instrumentell vermittelte Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse, sondern ein
    System
    , das unseren Lebenswelten gleichsam von außen auferlegt ist und in dessen Begreifen und Handhaben die junge Generation sich einfädeln muß (z. B. Maschinen, Geldverkehr, Computer).
  • [124:36] Das setzt ein Denken im
    Beobachterstatus
    voraus, so wie es in den Naturwissenschaften ausgebildet wurde: einen Sachverhalt zur Kenntnis nehmen, Ursachen und Folgen unterscheiden, Gesetzmäßigkeiten finden, objektiv prüfen, experimentieren.
  • [124:37] Andererseits hat eben dieses Denken für die Gegenwart problematische Folgen hervorgebracht, insbesondere die Einsicht, daß wir mit der Natur in einem Oikos, einem gemeinsamen
    Haushalt
    , einem unauflöslichen Wechselverhältnis, leben und also das
    System Technik
    sich auch gegen uns wenden kann. Ein sowohl aufmerksamer als auch empfindsamer Umgang mit der Natur als wesentlichem Teil unserer Umwelt muß offensichtlich gelernt und an Imperative der Sittlichkeit gebunden werden.
  • [124:38] Auch wir selbst sind
    Natur
    , jedenfalls unser Leib. Er speist immer erneut nicht nur unsere Bedürfnisse, sondern auch unsere Vorstellungen, Phantasien, Wünsche und Ängste. Die leibhaft-ästhetischen Darstellun|a 145|gen des Ich in seinem Selbstverhältnis, die Inszenierungen dieses Ich in Abgrenzung gegen öffentliche Standarderwartungen sind in unserer Kultur deshalb wichtiger geworden – auch wenn diese Selbstdarstellungen rasch vom Markt vereinnahmt werden nicht in dem klassizistischen Sinne der Erinnerung an
    das Wahre
    in den Darstellungen der Kunst, sondern im Sinne einer
    wahrhaftigen
    , einer authentischen oder aufrichtigen ästhetischen Darstellung jenes Verhältnisses (vgl. Mollenhauer 1988). Diese Thematik umfaßt also das ganze Feld der Sinnlichkeit, bis hin zu Sexualität, Ernährung und Gesundheit.
  • [124:39] Unsere Gesellschaft ist, weil kriegerische Konflikte – ganz anders als zur Zeit der klassischen Bildungstheorie – elementar und universell lebensbedrohend geworden sind, bei dem Versuch, die junge Generation in unsere Problemstellungen einzuführen, auf die Thematik Friedfertigkeit/Gewalt verpflichtet. Diese Thematik hat, wie übrigens auch die anderen, eine große Reichweite: von den Gewalthandlungen/Friedfertigkeiten in der Familie, auf dem Pausenhof, im Klassenzimmer bis zu den vergewaltigenden Handlungen gegenüber Frauen oder
    Ausländern
    ; von den Spielgewohnheiten im Kinderzimmer oder an Spielcomputern bis zu den kriegsstrategischen Planspielen. Dazwischen liegen freilich kategoriale Unterschiede. Als Dimension der Bildungsthematik aber scheint uns dieser Fragehorizont notwendig zu einem modernen Bildungsverständnis zu gehören.
  • [124:40] Angesichts von Verständigungserwartungen, Technikherausforderungen, Umweltbedrohungen, Leiberfahrungen, Friedfertigkeitszumutungen gewinnt menschliche Arbeit/Tätigkeit heute eine neue oder erneute Qualität. Da es, der Differenz zwischen Systemzumutungen und Lebenswelterwartungen wegen, schwierig geworden ist, marktförmige Arbeitsleistungen mit subjektiven Sinnentwürfen zu verknüpfen, besteht eine wesentliche Bildungsaufgabe darin, die Bedeutung dieser Differenz zugänglich zu machen. Das kann – in einer Lebensphase weit vor dem Eintritt in die arbeitsteilige Berufswelt – nicht anders gelingen als dadurch, daß die sinnstiftende und erfahrungserweiternde Funktion von Tätigkeiten, als Auseinandersetzung mit äußerer Natur, mit objektiv gegebenen Problemlagen, mit
    Umwelt
    also, in eigener Arbeit und in Kooperation mit anderen erlebbar wird. Sowohl der Widerstand des Objektiven (Natur, Material, technischer Stand etc.) als auch die produktive Fähigkeit des sich bildenden Subjekts können darin zugänglich werden.
  • [124:41] Alle diese Dimensionen eines thematischen Profils moderner Bildung blieben zukunftsleer, wenn sie nicht komplettiert würden durch politische Beteiligung. Diese allerdings setzt Grundqualifikationen in den anderen Bereichen der Bildungsthematik voraus. Vor allem ist darin vorausgesetzt, eigene Erfahrung und eigenes Wollen mit den Möglichkeiten von deren |a 146|Verallgemeinerbarkeit, zu verbinden, auch für andere geltend zu machen, was zunächst nur für mich, den einzelnen, gelten mag, also moralische Urteils- und Handlungskompetenz.

5.4 Die soziale Dimension des Bildungsbegriffs

[124:42] So brauchbar die prinzipiellen Fragegesichtspunkte der klassischen Bildungstheorie – kulturelle Teilhabe, Bildung zur Individualität, politische Mündigkeit – immer noch sind, so ist ihnen doch auf dem Hintergrund unserer historischen Erfahrungen und angesichts der Anforderungen unserer Gegenwart ein empfindlicher Mangel vorzuhalten: Es fehlt dieser Theorie die damals vielleicht entbehrlich scheinende, heute aber unumgehbare Einsicht in die Tatsache, daß Schule und Unterricht ein Lernfeld darstellen, in dem nicht nur Wissen angeeignet wird, sondern ununterbrochen auch soziale Handlungen stattfinden, in denen Einstellungen gelernt, Haltungen bekräftigt oder revidiert, Werte des sozialen Lebens vermittelt werden. Diese Einsicht wurde u.a. von John Dewey um die Jahrhundertwende formuliert, durch die Untersuchungen zum
hidden curriculum
präzisiert und seitdem in unzähligen Interaktionsstudien bestätigt. Wenn wir den Zugewinn durch empirische Schulforschung nicht ignorieren wollen, so muß dem Profil inhaltlich bestimmter Vorstellungs- und Könnensinhalte diese soziale Dimension an die Seite gestellt werden. Der Bildungsbegriff muß folglich auch in Hinsicht auf die Wirkungen bestimmt werden, die in dem sozialen lnteraktionsfeld Schule die kindliche Persönlichkeit formend beeinflussen. Wir unterscheiden auch hier mehrere Dimensionen, in diesem Fall von möglichen Erfahrungsgehalten sozialer Interaktion:
  • [124:43] Verständigung (häufig auch Kommunikation genannt) findet psychogenetisch zunächst mit Personen statt, zumal mit vertrauten. Die Schule ist zwar nicht der erste oder einzige, aber ein ausgezeichneter Ort des Sich-Verständigens mit Gleichaltrigen verschiedener Art, mit bis dahin Unvertrauten. Das darauf bezogene Thema unserer Kultur und die damit gegebene Bildungsfrage lautet: Wie kann das Für-sich-Sein im Vertrauten und das Miteinander-Sein mit Unvertrautem in eine Balance gebracht werden? Je stärker die Schule segregierend verfährt (mit
    Begabungsunterschieden
    nach Klassen oder Schularten, mit
    Sonderschülern
    ,
    Behinderten
    ,
    Ausländern
    u. ä.), um so eher verspielt sie diese Bildungschance; je mehr integrativ sie verfährt, um so eher eröffnet sie hier eine Bildungsperspektive, auch wenn sie schwieriger zu bewältigen sein mag.
  • [124:44] Statusdifferenzen, Wettbewerb, Hierarchien, Rollen gehören zum sozialen Handlungsalltag jeder Schule und Schulklasse, gehören mithin also auch |a 147|zum Lernfeld. Eine demokratische Bildungstheorie wäre schlecht beraten, wollte sie darauf setzen, derartige Strukturen abzuschaffen – sei es, daß diese von
    oben
    , von der Administration, von den professionellen Rollen her geprägt sind, sei es, daß sie von
    unten
    als informelle Gruppen- und Cliquen-Strukturen kommen. Sie können aber zum Thema gemacht werden, nicht nur im intellektuellen Diskurs, sondern durch das Arrangement verschiedenartiger Gruppen, durch das Ausprobieren wechselnder Rollen, den Austausch der Hierarchien, Verschiedenartigkeit der Wettbewerbschancen. Die Erfahrungen mit dem
    Team-Kleingruppen-Modell
    (vgl. Schlömerkemper u. Winkel 1987) haben die Bildungsbedeutsamkeit einer solchen vielfältigen sozialen Struktur und die Notwendigkeit von Transparenz der Lernbedingungen im Sinne ihrer sozialen Settings deutlich gemacht.
  • [124:45] Kooperation. Nicht nur ist die Arbeitswelt wichtiger Inhalt eines modernen Bildungsprofils – die Tätigkeit der Schülerinnen und Schüler kann selbst als Arbeit begriffen werden, als Kooperation zum Zweck der Herstellung eines nützlichen Produktes, wie klein auch immer die Sozietät sein mag, der es zum Nutzen gereicht. Sinn und Grenzen der Arbeitsteilung, ihre elementare Differenzierung nach Kompetenzen, nach Beteiligungsarten und -graden, die Balancen im Gruppenprozeß zwischen verschiedenen Neigungen und Lernfortschritten können erfahrbar werden. Arbeit ist in unserer Kultur vorwiegend ein in den Leistungen geteilter, aber kooperativer Gruppenvorgang, auch wenn, in den großindustriellen Ausprägungsgraden und in der größten Zahl der Fälle, die Kooperation gegenüber der Teilung zurücktritt. In der elementaren Form vermittelt sie Grunderfahrungen, in denen individuelle Leistungen, Wettbewerb, Status über das gemeinsame Produkt transparent und rational zugänglich werden. (Die Arbeitsschulbewegung des ersten Jahrhundertdrittels hat diesen Gesichtspunkt dem Bildungsbegriff hinzugefügt; die neuesten Untersuchungen zum
    praktischen Lernen
    haben ihn, auf gegenwärtige Problemlagen hin, modifiziert und bekräftigt.)

5.5 Bildung als Haltung

[124:46] Wenn es – zumindest unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und schulischen Bedingungen – nicht gelingt, allen Schülern alles zu vermitteln, wenn also die erworbenen kulturellen Kompetenzen in ihrem Grad unterschiedlich bleiben, dann stellt sich die Frage, wie die Heranwachsenden (und natürlich zuvorderst die Lehrenden) mit dieser Unterschiedlichkeit und ihren sozialen Folgen umgehen wollen und sollen. Diese Frage hat eine bildungspolitische Komponente insofern, als immer wieder Statusdifferenzen des Beschäfti|a 148|gungssystems zur Legitimation einer Hierarchie von Schulformen und Bildungsprofilen herangezogen wurden und werden, bzw. umgekehrt die verschieden erreichten Niveaus kultureller Kompetenzen zur Rechtfertigung gesellschaftlicher Ungleichheit Verwendung finden. Nun kann es allerdings nicht Aufgabe der Bildungstheorie sein, die gesellschaftlichen Bedingungen zu definieren und ggf. herstellen zu wollen, unter denen dies nicht mehr geschieht. Gleichwohl ist zu prüfen, ob ein Konzept von Bildung möglich ist, das jener wechselseitigen Legitimation nicht unterworfen ist bzw. Distanz zu ihr hält.
[124:47] Wir schlagen für diese Komponente der Bildungsaufgabe den Begriff
Haltung
vor: Wenn Bildung sich nicht in der Verfügung über kulturelle Kompetenzen inhaltlicher Art erschöpft, sondern zugleich eine bestimmte Haltung beinhaltet und erfordert, so ist unter dieser Perspektive zu klären, wie gebildete Menschen im sozialen Handlungsfeld damit umgehen, daß ihre Mitmenschen in unterschiedlichem Grad (und in je individuell verschiedenem Profil) über kulturelle Kompetenzen in den oben genannten Dimensionen verfügen. Diese
Haltung des Gebildeten
läßt sich als
konstruktiv
und
sozial
näher bestimmen:
  • [124:48] Konstruktiv sollte eine gebildete Person mit den ihr verfügbaren Kompetenzen insofern umgehen, als sie diese nicht als ein für allemal erworben betrachtet, sondern sie in der Auseinandersetzung mit der kulturellen Tradition und ihren Entwicklungen ständig erneuert und zu erweitern trachtet;
  • [124:49] Sozial sollte eine gebildete Person mit den ihr verfügbaren Kompetenzen insofern umgehen können, als sie über die verschiedenen Grade und Profile der kulturellen Kompetenzen hinweg sich um Kommunikation bemüht, die eigene Position selbstkritisch distanziert und zu kooperativem Handeln fähig und bereit ist.
[124:50] Eine solche Haltung steht in einer Spannung zu dem Anspruch, jeder Mensch solle zum höchstmöglichen Grad gebildet werden. Die Verkürzung dieses Spannungsverhältnisses zugunsten eines hierarchischen Bildungsverständnisses scheint uns die wesentliche Ursache dafür zu sein, daß Bildung als Mittel der gesellschaftlichen Hierarchiebildung verwendet werden konnte (vgl. Schlömerkemper 1986).
[124:51] Eine Voraussetzung zur Förderung einer derartigen Haltung sehen wir darin, daß die Jugendlichen möglichst lange in einem gemeinsamen sozialen Kontext lernen, in dem sie ihre teils unterschiedlichen, teils gleichen individuellen Neigungen und Fähigkeiten entfalten, in dem sie aber zugleich so miteinander leben und arbeiten können, daß jene Haltung als Aufgabe im Alltag des Unterrichts erfahren und als Übung bekräftigt wird.
|a 149|
[124:52] Der Bildungsbegriff für die Zehn- bis Vierzehnjährigen in einer Schule für alle mißt sich also nicht allein an seinen thematischen und sozialen Inhalten, sondern auch daran, ob es gelingt, die Lernenden zur Entfaltung ihrer jeweiligen Fähigkeiten zu führen und dabei zugleich die Bereitschaft und die Fähigkeit zu der hier knapp skizzierten, sowohl solidarischen als auch kritischen Haltung zu vermitteln, einer Haltung reflektierter Sittlichkeit.

5.6 Nachbemerkung

[124:53]
Reflektierte Sittlichkeit
hat, als Dimension von Menschenbildung und nach unserer Deutung der gegenwärtigen Lage, zwei bestürzende und, wie uns scheint, unumgehbare historische Daten zu verarbeiten: Daß innerhalb unserer deutschsprachigen Kultur der Holocaust möglich war, hat uns mit dem nationalen Bankrott von Bildung und Sittlichkeit konfrontiert. Daß der Mensch sich selbst als Gattung auslöschen kann, weiß jeder seit dem ersten Fall einer Atombombe und seit wir die drohende Zerstörung unserer biologisch-ökologischen Existenzgrundlage kennen. Was in apokalyptischen Mythen nur phantasiert wurde, wissen wir als empirische Möglichkeit. Das ist eine qualitativ neue Lage. In beiden Hinsichten – Auschwitz und ruinierter Globus – steht nicht die europäische Rationalität zur Disposition, aber ihre Bindung an eine dialogische und tendenziell universelle Sittlichkeit. Das ist keine Norm, aber eine Aufgabe, und zwar für
jedermann
; und sie ist, lebensgeschichtlich bedeutsam, erstmals für die Zehn- bis Sechzehnjährigen auslegungsfähig.
Auslegung
aber ist keine Operation empirischer Forschungstätigkeit, sondern ein Vorgang des Verstehens, in diesem Fall nach zwei Seiten hin: um die Kontur eines neuformulierten Bildungsbegriffs zu gewinnen, mußten wir die gegenwärtige Kulturlage nach ihren kategorial wichtigen Dimensionen hin auslegen. Wir mußten überdies diese Dimensionen in die in Schulen mögliche Bildungsfiguration transformieren und dabei nicht nur die hier in Rede stehende Altersgruppe, sondern auch die Schule als soziales Handlungsfeld bedenken. Jede dieser Operationen ist riskant, und zwar nicht im Sinne empirischer Fehlerrisiken, sondern vor allem in dem Sinne, daß Bildungsbegriffe nicht anders zu gewinnen sind denn als Ergebnisse von Deutungsentwürfen. Ob diese valide, objektiv und relevant sind, läßt sich nirgends anders als im Diskurs der freien und gleichen Bürger entscheiden. Im Hinblick auf zwei Deutungsfiguren sehen wir allerdings in der Gegenwart keine begründeten Zweifel: Auschwitz zwingt jede regionale Moral zu immer universelleren Urteilen und Handlungen der Sittlichkeit; Hiroshima und die ökologischen Pendants zwingen zu einer notwendenden Bildung, in der die Imperative der sozialen Systeme einerseits an die kommunikativen Erfahrungen der Lebenswelten gebunden bleiben |a 150|können, andererseits beide der praktischen Vernunft verpflichtet bleiben, der Frage also, inwiefern unser Wissen und Können noch dem dienlich ist, was wir
Leben
nennen.

Literatur

    [124:54] Allgemeinbildung: Beiträge zum 10. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 10. bis 12. März 1986 in der Universität Heidelberg. Im Auftrag des Vorstands herausgegeben von Helmut Heid und Hans-Georg Herrlitz. 21. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik. Weinheim und Basel 1987.
    [124:55] Arbeitsgruppe Schulforschung: Leistung und Versagen. Alltagstheorien von Schülern und Lehrern. München 1980.
    [124:56] Beck, U.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 1986.
    [124:57] Bloom, B. S.: Alle Schüler schaffen es. betrifft: erziehung, 1970/11, S. 15–27.
    [124:58] Dahrendorf, R.: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg 1965.
    [124:59] Fauser, P., Fintelmann K. J. u. Flitner, A. (Hg.): Lernen mit Kopf und Hand. Berichte und Anstöße zum praktischen Lernen in der Schule. Forum Bildungsreform. Weinheim, Basel 1983.
    [124:60] Fend, H.: Gesamtschule im Vergleich. Bilanz der Ergebnisse des Gesamtschulversuchs. Weinheim, Basel 1982.
    [124:61] Fischer, W.: Was kann Allgemeinbildung heute bedeuten? Allgemeinbildung 1987, S. 35 ff.
    [124:62] Flitner, A.: Mißratener Fortschritt. Pädagogische Anmerkungen zur Bildungspolitik. München 1977.
    [124:63] Haecker, H. u. Werres, W.: Schule und Unterricht im Urteil der Schüler. Bericht einer Schülerbefragung in der Sekundarstufe I. Frankfurt a. M., 1983.
    [124:64] Kern, H. u. Schumann M.: Das Ende der Arbeitsteilung? München 1984.
    [124:65] Klafki, W.: Konturen eines neuen Allgemeinbildungskonzepts. In: Klafki, W.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beiträge zur kritisch-konstruktiven Didaktik. Weinheim 1985, S. 12–30.
    [124:66] Klafki, W.: Die Bedeutung der klassischen Bildungstheorien für ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung. Zeitschrift für Pädagogik 32, 1986/4, S. 455–476.
    [124:67] Klemm, K., Rolff, H.-G. u. Tillmann, K.- J.: Bildung für das Jahr 2000. Bilanz der Reform, Zukunft der Schule. Reinbek 1985.
    [124:68] Mollenhauer, K.: Ist ästhetische Bildung möglich? Zeitschrift für Pädagogik 34, 1988/4, S. 443–461.
    [124:69] Mollenhauer, K.: Ist der überlieferte Bildungsbegriff zukunftsfähig? In: Achs, O. u.a. (Hg.): Umbruch der Gesellschaft – Krise der Schule? Wege der Schulentwicklung: Vorträge und Diskussionen anläßlich des 2. Internationalen Glöckel-Symposions 1987. Wien, München 1988, S. 38-45.
    |a 151|
    [124:70] Rang, A.: Zur Bedeutung des
    Allgemeinen
    im Konzept der allgemeinen Bildung. Zeitschrift für Pädagogik 32, 1986/4, S. 477–487.
    [124:71] Sander, T., Rolff, H.-G. u. Winkler, G.: Die Demokratische Leistungsschule. Zur Begründung und Beschreibung der differenzierten Gesamtschule. Hannover 1967.
    [124:72] Schlömerkemper, J.: Bildung für alle. Über das Verhältnis von Egalität und Bildung. Die Deutsche Schule 78, 1986/4, S. 405–416.
    [124:73] Schlömerkemper, J. unter Mitarbeit von Winkel, K.: Lernen im Team-Kleingruppen-Modell. Biographische und empirische Untersuchungen zum Sozialen Lernen in der Integrierten Gesamtschule Göttingen-Geismar. Frankfurt 1987.
    [124:74] Tenorth, H.-E. (Hg.): Allgemeine Bildung. Analysen zu ihrer Wirklichkeit, Versuche über ihre Zukunft. Weinheim, München 1986.
    [124:75] Tillmann, K.-J.: Zwischen Euphorie und Stagnation. Erfahrungen mit der Bildungsreform. Hamburg 1987.