Konjekturen und Konstruktionen [Textfassung a]
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Konjekturen und Konstruktionen

Welche
Wirklichkeit
der Bildung referieren Dokumente der Kunstgeschichte? – Eine bildungstheoretische Reflexion im Anschluß an Svetlana Alpers

[123:1] Der fiktionale Gehalt historiographischer Behauptungen zeigt sich in Konjekturen (Bätschmann 1988), d. h. im Zusammenwerfen verschiedener und verschiedenartiger Tatsachenfeststellungen, damit aus diesen ein berichtenswerter Zusammenhang entsteht. Die Tatsachenfeststellungen allein geben einen solchen Zusammenhang nicht her; er muß, so könnte man sagen,
fingiert
werden. Insofern sind Konjekturen Möglichkeitsbedingungen für Erzählungen, denn sie machen
Sinn
möglich: Jeder, der noch unterstellt, der Verlauf der Geschichte habe, wenigstens hier oder dort, einen rekonstruierbaren Sinn, muß zu Konjekturen greifen. Solche Konjekturen aber folgen Regeln. H. White hat für die Historiographie des 19. Jahrhunderts poetologische Regeln ausgemacht. Die Geschichtsschreibung der Pädagogik ließe sich dem teilweise zuordnen – teilweise aber folgte sie anderen, wenigstens modifizierenden Konstrukten: Fortschrittsgeschichte, Geschichte der bürgerlichen Autonomie- und Identitätsvorstellungen, romantische Erinnerung, Modernitätsprojekte der Erziehung und Bildung, praxeologische Traditionsbestände usw.. In all dem dominierte und dominiert ein praktisches Sinnbedürfnis.
Sinn
ist aber eine Kategorie, die weder unhistorisch noch irreal ist. In der Bedeutung, in der man die Eintragung des Todes eines zweijährigen Kindes ins Sterberegister einer Kirchengemeinde
sinnvoll
nennen kann, und zwar im Zusammenhang mit anderen Tatsachenfeststellungen, sind auch alle anderen Definitionen sozialer Situationen
sinnvoll
; also auch Konjekturen. Die pädagogische Geschichtsschreibung, wenn sie Bildmaterialien als Quellen verwenden |a 26|will, hat es deshalb vielleicht weniger mit der kategorialen Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität zu tun, als mit einem methodischen Problem:
Fiktionale
Produkte folgen – in ihrer Produktionsregel – anderen Gütekriterien als modern-historiographische. Es wäre gewiß abwegig, die Romane Balzacs oder Flauberts, die Bilder Delacroixs oder Runges vorwiegend nach dem Gesichtspunkt ihrer historischen Tatsachen-Genauigkeit zu beurteilen; sie interessieren uns lediglich als Deutungen, als
definitions of the situation
. Die Verwendung von Erzählungen und Daten im Rahmen einer Geschichtsschreibung der Bildung aber muß den Gütekriterien wissenschaftlich-zuverlässiger Darstellung unterworfen werden, und es wäre gleichfalls abwegig, sie nur nach den Kriterien ästhetisch-konjekturaler Sinnentwürfe zu beurteilen.
[123:2] Diese Problemstellung könnte im Falle der Verwendung kunsthistorischer Bildmaterialien in bildungshistorischer Absicht einige ihrer Komponenten deutlich hervortreten lassen. Man darf von diesem Fall einigen Aufschluß erhoffen, sofern man die Erwartungen nicht überspannt: Erstens gibt es – trotz einiger Versuche in diesem Feld – keine respektable Forschungslage zu einer pädagogischen Historiographie sogenannter Kunstprodukte – das meiste suchen wir uns aus Sekundärliteratur andernorts (vgl. den Bericht über den Diskussionsstand von Keck 1991); zweitens hat die Kunstgeschichtsschreibung selbst – vor allem unter dem Namen
Ikonologie
– einer Fiktion der Historiographie zugearbeitet, die erst allmählich zum Bewußtsein zu kommen scheint; und drittens ist in der Malkunst und in dem Verhältnis, das der historiographische Betrachter zu ihr einnimmt, eine besondere Schwierigkeit enthalten, für die das Verhältnis von Fiktionalität und Realität sich vielleicht anders und deutlicher stellt als sonst.
[123:3] Im Hinblick auf Bild-Materialien, von bildungstheoretisch interessierter Geschichtsschreibung als Dokument verwendet, zu sagen, sie seien
fiktiv
, ist also entweder trivial oder führt in schwierige begriffliche Problemstellungen hinein. Gleiches gilt für den propositionalen Gehalt historiographischer Sätze. Die Schwierigkeiten – sie würden übrigens ähnlich im Hinblick auf literaturhistorische Quellen auftauchen – stellen sich angesichts der Frage ein, in welchem Sinne behauptet werden könnte, daß
fingierte
Bilddokumente keine zu sichernde Realitätsreferenz enthalten, in welchem Sinne es also vernünftig wäre zu behaupten, daß antike Bildwerke, niederländische Interieurs oder Landschaften, die
Lindenstraße
oder die Graffiti an Betonwänden keine Auskunft geben |a 27|können über den je historischen Stand einer Bildungswelt. Zu einer derartigen Behauptung wird man sich schwerlich entschließen können.
[123:4] Die
Realität
der Bildung, zu gegebenen historischen Zeitpunkten, ist mithin ein Sachverhalt, der mit der Erwartung
empirisch
zuverlässiger Daten, also zählbar und meßbar nicht hinreichend beschrieben werden kann. Wenn – nach einem Theorem des symbolischen Interaktionismus – nicht nur die zähl- und meßbaren Daten einer Situation zu deren Realität gehören, sondern auch die von den Beteiligten vorgenommenen Definitionen der Situation, der vor- oder zugeschriebene Sinn, dann können auch Bildwerke als Sinnentwürfe und also als Bestandteile von historischer
Realität
genommen werden. Derartige Situationsdefinitionen oder Sinnentwürfe sind es, die für eine Historiograpie der Bildung, die sich auf Bildwerke stützen möchte, bedeutungsvoll werden. Daraus folgt, daß nicht die Abbildungsrepertoires im Zentrum des Interesses stehen, nicht die ikonographischen Details den relevanten Wirklichkeitsgehalt verbürgen, sondern die Komposition oder Konstruktion.
[123:5] Ich konzentriere mich im folgenden auf die Frage, wie in Bildern Wirklichkeit fingiert wird oder – weniger mißverständlich gesprochen – auf welche Weise in der Malkunst Bedeutungen, Sinn,
definitions of the situation
hergestellt werden, die bildungstheoretisch von Interesse sind. Ich erläutere das, unter Verwendung der Untersuchungen von Svetlana Alpers, am Beispiel der
albertinischen
und der
niederländischen
Malerei.

1. Ut pictura poesis

[123:6] 1538 soll Michelangelo in einem Gespräch über die Malerei folgendes gesagt haben:
[123:7]
Die flämische Malerei ... wird ... jedem Frommen mehr zu sagen als irgendein Bild der italienischen Schule. ... Frauen wird sie gefallen, besonders den sehr alten und den sehr jungen; desgleichen Mönchen und Nonnen und gewissen Edelleuten, denen es an Empfindung für wahre Harmonie gebricht. In Flandern malt man nämlich, um das äußere Auge durch Dinge zu bestechen, welche gefallen und denen man nichts Übles nachsagen kann, wie Heilige und Propheten. Ferner malen sie Gewänder, Maßwerk, grüne Felder, schattige Bäume, Flüsse, Brücken und was sie so
Landschaften
nennen, und dazu viele lebhaft bewegte Figuren, |a 28|hierhin und dorthin verstreut. Und obgleich alles dies gewissen Augen zusagt, so fehlt daran in Wahrheit doch die rechte Kunst, das rechte Maß und das rechte Verhältnis sowie Auswahl und klare Verteilung im Raume und schließlich selbst Kraft und Substanz
(zit. nach Alpers 1985, S. 30f.)
.
[123:8] Ein anderer Meister der Malkunst, Sir Reynolds, schreibt über die gleiche Art von Malerei, der niederländischen nämlich zwischen Erasmus und Comenius:
[123:9]
Vieh und ein Hirte von Albert Cuyp, das Beste, was ich je von ihm gesehen habe; und auch die Figur ist besser als gewöhhnlich: aber was er den Hirten in seiner Einsamkeit tun läßt, ist nicht sehr poetisch: man muß indessen zugeben, daß es Wahrheit und Natur für sich hat; er fängt Flöhe oder etwas noch Ärgeres
(zit. nach Alpers 1985, S. 21)
.
[123:10] Es handelt sich um Quellenmaterialien, die Svetlana Alpers in ihren verblüffenden und erstaunlichen Argumentationen verwendet. Die Erzeuger von Malkunst bringen offenbar etwas hervor, was nur im Zusammenhang mit
Seh-Kulturen
(Baxandall 1985, vgl. auch Mollenhauer 1988/89) verstehbar wird. Die Seh-Kultur aber ist eine Komponente dessen, was wir die Bildungsentwürfe von oder innerhalb von Lebensformen nennen können. Da diese aber verschieden sein können, können auch die Referenten verschieden sein. Was meint Michelangelo, wenn er
Substanz
vermißt? Was meint Reynolds, wenn er sagt, die niederländischen Bilder seien
nicht sehr poetisch
? Es spielt hier offensichtlich eine Rolle, was N. Goodman (1973) zur Sprache gebracht hat, als er die Symbolisierungsfunktionen der Malkunst unterschied: die Repräsentation, die Exemplifikation und die Expression – also Bezeichnen, Probenvorlegen, Inneres als Ausdruck zur Darstellung bringen. Michelangelos Malkunst exemplifiziert offenbar anderes, nimmt offenbar, so interpretiere ich die Zitate, nicht nur andere, sondern andersartige Referenten in Anspruch als das Bild des Flöhe fangenden Hirten. Das zeigt sich nicht nur im Sujet, sondern auch in der Malweise. Michelangelo – und mit ihm die anderen Theoretiker der Malkunst jener Epoche, angefangen mit Alberti – setzte für die Konstruktionsregeln von Bilder-Machen andere Bezugsgrößen fest, gab Proben von etwas der Art nach anderem als die Niederländer. Er folgte der (konjekturalen) Regel des Horaz: ut pictura poesis – oder, in älterer Formulierung: das Bild eröffnet, der Möglichkeit nach, den Blick auf den Logos (vgl. Rittelmeyer 1991).
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[123:11] Giovanni Bellini malte um 1470 eine Szene, die
Darbietung Jesu als Säugling im Tempel
genannt werden kann (Abb. 1). Er malte zu dieser Zeit im Dogen-Palast; wenig später wurde er offiziell ernannter Stadtmaler, repräsentierte in seinen Werken also offenbar ziemlich gut, was die ökonomische und intellektuelle Oberschicht Venedigs von der Malkunst erwartete. Man könnte sich diese Bildquelle gut in einem erziehungshistorischen Text mit dem Titel
Mutter-Kind- und Familiendarstellungen in der Kunst des späten Mittelalters und der Renaissance
(Arnold 1991) denken. Daß dieses Bild – in einem unpräzisen Sinne des Wortes – eine
Geschichte
erzählt, unterstelle ich als unstrittig; auch, daß diese Geschichte eine Art Nacherzählung ist, und daß diese Nacherzählung ein historisches Kontinuum behauptet zwischen der Ursprungserzählung und dem Stand historisch-religiösen Erinnerns im Venedig von 1470. In diese Geschichte ist nun eingebunden – so würde beispielsweise Arnold argumentieren, aber viele andere auch – die Darstellung des Jesusknaben als Wickelkind. Hier beginnt schon eine, die einfachste Schwierigkeit: der Ausdruck
Wickelkind
, wenn ich ihn denn in einer Paraphrase auf das Bild leichtfertig verwenden würde, unterstellt die Differenz von derart eingewickelten Säuglingen zu anderen, deren Gliedmaßen frei blieben; daß diese Differenz wichtig ist, zeigen uns viele Madonnen-Bilder schon der gleichen Zeit; sozialisationstheoretisch aufgeklärte Pädagogen finden ihn höchst interessant. Dies könnte das Bildmerkmal sein, das den pädagogischen Historiographen vor allem interessiert; ein Bildzeichen, dessen Denotat leicht bestimmbar ist.
[123:12] Im nächsten Schritt, schon etwas schwieriger, könnte der Historiograph sich der seit 20 Jahren – und wenn man Hayden White folgt, schon seit Heinrich Heine – geführten Diskussion über den fiktionalen Gehalt nicht nur historiographischer Erzählungen erinnern, sondern schon der Quellen, auf die solche Erzählungen sich stützen. In dieser Diskussion hat Wolfgang Iser eine Unterscheidung vorgeschlagen, von vielen anderen darin bekräftigt, die mir hilfreich scheint (Henrich/Iser 1983): Iser unterscheidet zwischen dem Realen, dem Imaginären und dem Fiktiven (dabei dient das Imaginäre nur als Abgrenzungskategorie, als ein Etwas, das es zwar irgendwie gibt, das aber, weil gestaltlos, nicht zur historischen Quelle werden kann. (O. Marquard hat es deshalb, kommentierend, die
Amorphie des bloß Imaginären
genannt.) Mit Bezug auf das Bild Bellinis kann man deshalb sagen, daß es mindestens zwei Referenzen ins Spiel bringt: den Säugling – merkwürdigerweise kann er schon |a 30|stehen – und die Szene, in der er präsentiert wird. In dieser historischen Quelle ist also mindestens zweierlei anwesend: die
Routine der vorhandenen Wirklichkeit
(Marquard 1983, S. 490)
– ich möchte diesen
Wirklichkeits
-Bestandteil eher
routinierte Komponenten von Lebensformen
nennen – und die (allerdings zum Gebrauch empfohlene, insofern also nicht schlechterdings irreale) Fiktion einer Szene, die das Bildganze zur Darstellung bringt. Was daran ist
fiktiv
?
[123:13] Die Frage klingt nur rhetorisch; denn selbstverständlich sind wir der Meinung, daß Kunstprodukte – grosso modo gesprochen – fingieren. Gelegentlich wird dies sogar zu einem ausgezeichneten, unterscheidenden Merkmal von Kunst erhoben; ich will das hier nicht diskutieren. Auf jeden Fall aber können wir sagen – ohne schon die kunsttheoretischen Detailfragen ins Spiel zu bringen, die sich auf das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem der Quelle beziehen (vgl. Imdahl 1983) –, daß das Bild einerseits in einer routinierten Lebensform, andererseits in einer entworfenen, deutenden Inszenierung seine Referenzpunkte oder -flächen hat.
[123:14] Das tritt noch deutlicher hervor, wenn wir uns der Entstehungsbedingungen dieses Produktes venezianischer Malkunst vergewissern. Andrea Mantegna war der Schwager Bellinis; beide waren Könner in ihrem Metier. Sie wetteiferten. Und sie hatten verschiedene
Fiktionen
. Bellinis Bild ist eine Art Kopie eines Bildes von Mantegna, ungefähr so wie die Vivaldi-Bearbeitungen, die Bach vornahm, oder die Bach-Bearbeitungen, die A. Webern hinterlassen hat. Außerordentliche Treue zur Vorlage (Abb. 2) zeichnet das Bild Bellinis aus, aber ebenso entschiedene, wenngleich sparsamste Variation (vgl. Ringbom 1965, Belting 1985).
[123:15] Das Gemeinsame: Beiden Malern waren die von Alberti formulierten Grundregeln der damals geltend gemachten Moderne vertraut (Alberti 1970, Alberti 1991; vgl. auch Abels 1985, Alpers 1985, Ruhloff 1989). Mantegna macht einige davon in seinem Bild deutlich: eine
finestra aperta
, hinter der sich eine bedeutende Szene abspielt, eine im Bild erzählte Geschichte, die die Figuren staffelt, die das realistische Detail nicht vergißt, die Leibhaftigkeit modelliert, die Gewänder und auch Relevanzabstufungen zwischen den Figuren vornimmt. Die Balance ist gewahrt zwischen mythischer Erinnerung und realistischer Erzählweise. Gegenstand der Erzählung ist zwar der Mythos; die Partikel der Erzählung sind aber die visuellen, der Realität entnommenen
Perzepte
(Otto/Otto 1987) des Malers. Alles dies ist auch in dem Bild Bellinis zur |a 31|Darstellung gebracht. Ich kann mir deshalb vorstellen, daß ein Sammler kunsthistorischer Quellen-Dokumente, etwa zur Geschichte der Kindheit, beide Bilder unter der gleichen Kategorie archiviert. Was hat dieser Sammler getan? Er hat die Differenzen vernachlässigt und sich aufs angeblich
Reale
konzentriert, die Fast-Identität der beiden Säuglinge, den Mutterblick, die Handhaltung – d. h. er hat eine Abstraktion geltend gemacht, unter die sich freilich beide Bilder subsumieren lassen. Was hat er mit der Verschiedenheit gemacht?
[123:16] Das Differente: Trotz Leonardos selbstsicherer Behauptung, gemalte Bilder enthalten (weil vom Auge kommend) zuverlässigere Wahrheit als geschriebene Texte, folgen Mantegna und Bellini der Maxime
ut pictura poesis
– die Malerei hat darzustellen, was uns aus den Geschichtserzählungen an Bedeutendem überliefert ist. Bellini bringt zur (Bild-)Sprache, daß selbst diese Übereinstimmung wichtige Unterscheidungen zuläßt. Die
routinierten Komponenten der Lebensform
(mindestens also das Wickelkind) werden respektiert; die Wirklichkeitskonstruktion als Deutungsrahmen für die sinnlich-gegenständlichen Erfahrungen (finestra aperta) wird in Szene gesetzt. Aber dann werden Variationen eingebaut, die dem Projekt einen anderen Sinn geben. Nämlich: die Heiligenscheine entfallen; die Balustrade wird vergrößert und bringt schon im Vordergrund mehr Tiefe ins Spiel; die Hauptfiguren lassen zu den Seiten hin Raum; auch im Hintergrund entsteht Raum durch die Hinzufügung zweier weiterer Figuren und der Formierung einer Art von Halbkreis. Bellinis Bild ist nicht mehr in demselben Sinne ein Andachtsbild wie das Bild Mantegnas. Der zum
Narrativen
hin sich bewegende Bild-Duktus produziert den anderen Bildsinn weniger durch die Hinzufügung oder Variation neuer Referenz-Partikel, sondern durch ein anderes Akzentuieren der Bildstruktur, durch Komposition. In dieser Komposition ist auch das Kind anders situiert: das Tuch nämlich, in das der Säugling gewickelt ist, verweist bei Mantegna – hier glaube ich einfach den kunsthistorisch-ikonologischen Befunden – auf das Leichentuch des Christus der Passion (Ringbom 1965, S. 74). Bellinis Bild tilgt nicht diese Konnotation, aber er bringt sie gleichsam in die Schwebe; wenn der Bildraum sich als fingierter Realraum öffnet, dann werden auch die einzelnen Bildzeichen ambivalent. Giorgione – er hätte Bellinis Schüler sein können – war ein Meister in diesem Spiel mit Ambivalenzen (vgl. Settis 1982). Es können nun mehrere Geschichten gleichzeitig erzählt werden – mindestens die Geschichten über Wickelkinder und die über die Passion Jesu.
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[123:17] Aber es werden Geschichten erzählt. Die in beiden Bildern konstruierte Wirklichkeit ist eine erzählbare Wirklichkeit. Beide gehören dem
albertinischen
Bildtypus an: das Bild ist ein offenes Fenster, das, in perspektivischer Malweise, den Blick auf bedeutende Handlungen hin öffnet. Die perspektivische Ordnung, in der die Handlungen zur Darstellung kommen, die Komposition also, exemplifizieren wenigstens Komponenten dessen, was als Vorstellung von Bildung Geltung beanspruchte und, jedenfalls für die Oberschicht, einen Rückhalt in den
routinierten Lebensformen
hatte.

2. Das Bild auf der Netzhaut

[123:18] Läßt man sich von den Argumentationen Hayden Whites beeindrukken, dann liegt die Idee nahe, für historiographische Bemühungen, die Produkte der Malkunst als Quellen verwenden, ähnlich zu klassifizieren. Das, was als historische Realität unterstellt wird, wäre dann allerdings nicht nach den poetologischen Gattungsregeln etwa der Romanze, Tragödie, Komödie und Satire konstruiert, wie White es für das 19. Jahrhundert versucht hat, sondern nach ästhetischen Entwürfen, deren Kriterien dem ikonischen Material entstammen müßten. Es wäre allerdings voreilig, wollte man hier den Ausdruck ästhetisch nur auf das Kunstgebilde beziehen: wenn ich beispielsweise behaupte, der albertinische Bildtypus sei narrativ, dann bringe ich damit nicht schon Kriterien ins Spiel, die im engeren Sinne ästhetisch genannt werden können. Sagen wir also, die albertinische, gelegentlich
narrativ
genannte Konstruktion der Wirklichkeit, in Bildern fingiert und repräsentiert, lasse menschliche Handlungen in perspektivischer Ordnung erscheinen, und geben wir zu, daß florentinische Bankhäuser und Tuchhändler sich dadurch befriedigt fühlen, aber auch venezianische Herrschafts- und Kontrollgesten dadurch bestärkt werden konnten. Jedenfalls sind es Handlungen und ist es deren gedachte Struktur, die hier routinierte Lebensform und
Fiktion
aneinander anschließen, also die ins Spiel gebrachten Konjekturen als realen
Sinn
plausibel erscheinen lassen.
[123:19] Es gibt aber in der Geschichte der Malkunst auch andere ästhesiologische Typen. Daß Comenius gerade Amsterdam zum späten Wohn- und Arbeitsort wählte, war – nach der Quellenlage – gewiß keine Zufallswahl. Gott offenbart sich, so meinte er, vor allem dadurch, daß er in der Schöpfung seinen
Abdruck
hinterläßt. Die unbeholfenen Holzschnitte |a 33|des
Orbis pictus
geben davon indessen kein Zeugnis, aber die holländischen Schildermaler, seine Zeitgenossen, tun es. Es gehört zum Argumentationstypus der
riskanten Konjekturen
, wenn
S. Alpers (1985, S. 79ff., 176ff.)
niederländische Malkunst, die pädagogische Philosophie des Comenius und Keplers Untersuchungen zur Optik zu einem Grundgedankengang zusammenschließt. Aus den Quellen ergibt sich beispielsweise die folgende Geschichte: Der englische Botschafter in Den Haag, Sir Henry Wotton, besuchte 1620 Johannes Kepler in Linz und berichtete darüber in einem Brief an Francis Bacon (zit. nach Alpers 1985). Kepler habe ihm folgendes vorgeführt: ein kleines schwarzes Zelt auf einer Wiese, nach allen Richtungen drehbar, mit einer kleinen öffnung und einem Fernrohr darin; auf der Gegenseite weißes Papier – eine camera obscura also. Kepler zeichnete auf dem Papier das darauf geworfene Bild nach, drehte das Zelt Stück um Stück und hatte so schließlich ein vollständiges Rundumpanorama auf seinem Blatt. Also nicht
ut pictura poesis
, sondern, wie Kepler selbst sagte,
ut pictura, ita visio
, das Bild auf der Netzhaut.
[123:20] Diese Geschichte exemplifiziert ein kategorial anderes Konzept der Malkunst, mithin auch der Bildung des Menschen, als das albertinische. Nicht der Blickpunkt des Betrachters in bezug auf den Fluchtpunkt der perspektivischen Malweise und die von diesem Punkt aus vorgenommene Konstruktion von bedeutenden Handlungen sind das Thema, sondern der
Berührungspunkt (die Berührungsfläche, K. M.) zwischen gesehener Welt und gemalter Welt
(Alpers 1985, S. 93)
. Ein hervorragendes Beispiel für diese Art der bildnerischen Konstruktion von Wirklichkeit ist Vermeers
Ansicht von Delft
. Darin ist ein Weltverhältnis formuliert das nicht ein narrativ-poetisches Konstrukt zur Geltung bringt, sondern eines, das dichter an den Leibfunktionen angesiedelt ist, und das diese nicht schon im Sinne perspektivisch gerichteter Handlungsentwürfe in Form bringt (die Vorliebe niederländischer Erziehungswissenschaftler für die Phänomenologie hat hier vielleicht eine ihrer Quellen). Der von Vermeer zur höchsten Meisterschaft gebrachte Fiktionstypus läßt sich, in statu nascendi gleichsam, an vielen Vorzeichnungen anderer niederländischer Maler für ihre später ausgeführten Ölbilder gut studieren, z.B. an Saenredams Skizzen von Kirchen-Innenräumen (Abb. 3): Das Verstehen der Skizze erfordert eine Drehung des Blicks, wie in Keplers Zelt, und hält fest, was als
Abdruck
auf der Netzhaut erscheinen könnte. Dieses Weltverhältnis zeigt sich selbst dort noch, wo in didaktischer Absicht auf narrative Miniaturen zurückgegriffen wird |a 34|(Abb. 4). Die Szene ist zwar
pädagogisch
; der didaktische Gestus wird aber nicht bei dem Erwachsenen lokalisiert, nicht als Handlung, sondern bei den Abbildungen des Buches; diese aber, die Kuh und der Baum, sind eindeutig nicht von der Art der Orbis-pictus-Holzschnitte. Daraus folgt eine Frage: Wie sind die Produkte der niederländischen Malkunst, die vielen Interieurs beispielsweise mit Szenen, deren pädagogische Relevanz auf der Hand zu liegen scheinen, aber auch die vielen anderen (z.B. Vermeer), die keine pädagogischen Handlungen zur Darstellung bringen, in der Absicht einer Historiographie der Bildung zu interpretieren?
[123:21] Für die mit pädagogischen Szenen ausgestalteten Interieurs scheint eine ikonologisch-narrative Deutung nahezuliegen, im Sinne von Erzählungen über die pädagogischen Innenwelten bürgerlicher Haushalte. Wer so verfährt, macht indessen den albertinischen Blick universell geltend. Der Schritt zu einer sozialgeschichtlichen Stilisierung solcher Quellen ist in dieser Blickweise nur sehr klein, wie sich in folgendem Zitat zeigt:
[123:22]
Kunst ist in dieser bürgerlichen Gesellschaft (der niederländischen des 17. Jahrhunderts, K. M.) Ware und ihre Produktion nach Marktgesetzlichkeiten ausgerichtet ... Die in den Interieurs gespiegelte (!) bürgerliche Welt verdoppelt sich, indem die in Privatbesitz eingefügte Ware Kunst den Besitzbereich des bürgerlichen Menschen ... permanent im Innenraum vergegenwärtigt.
(Möller 1981, S. 28)
[123:23] In diesem Zitat – und das ist nun keine Fiktion der Quelle, sondern eine des Historiographen – wird nicht nur die Kunstgeschichte als bürgerliche Privatisierungsgeschichte sozialhistorisch fingiert. Vielmehr ist diese Fiktion, obgleich sie Komponenten von Richtigkeit enthält, zur falschen Historiographie geworden, und zwar insofern, als sie die Realität der niederländischen Malfiktion nicht begreifen konnte. Der Autor durfte also, im sozialhistorisch erweiterten ikonologischen Blick befangen, die Bilder Vermeers vollständig mißverstehen, wenn er sie vorzugsweise als Darstellung intim-bürgerlicher Privatheit, als
gespiegelte
und soziale Konstellationen formulierende sozialräumliche Innenwelt-Bilder deutete. Die gleiche Deutungsmentalität macht sich geltend, wenn im Zusammenhang pädagogisch-historiographischer Bemühungen etwa Vermeer sonst kaum auftaucht, und zwar – wie ich vermute – deshalb nicht, weil dort angeblich keine pädagogisch bedeutenden Erzählungen vorgetragen werden. Ist das Interesse am
Narrativen
– und |a 35|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes „Darbringung im Tempel“ (1454) von Andrea Mantegna zu sehen.
Abb. 1: Berlin, Staatl. Museen Preuß. Kulturbesitz. Darbringung im Tempel (Mantegna). Zit. nach Belting 1985
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes „Die Darbringung Christi im Tempel“ (um 1470) von Giovanni Bellini zu sehen.
Abb. 2: Venedig, Galleria Querini Stampalia. Darbringung im Tempel (Bellini). Zit. nach Belting 1985
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Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung der Zeichnung „Innenansicht der Burenkirche“ (1636) von Pieter Saenredam zu sehen.
Abb. 3: Pieter Saenredam, Innenansicht der Burenkirche, Utrecht, 1636. Topographische Sammlungen des Stadtarchivs Utrecht. Zit. nach Alpers 1985
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung der Federzeichnung „Mutter und Kind beim Betrachten eines Bilderbuches (1620) von Jacques de Gheyn zu sehen.“
Abb. 4: Jacques de Gheyn, Mutter und Kind beim Betrachten eines Bilderbuches. Staatl. Museen Preuß. Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Berlin. Zit. nach Alpers 1985
|a 37|sei es die sozial- oder sozialisationshistorische Erzählung – also eine albertinisch-ikonographische Obsession, die zwar gelegentlich Wichtiges zutage fördert, gelegentlich aber auch in die Irre führt? Ich vermute, daß, innerhalb dessen, was wir
Pädagogik
als wissenschaftliche Disziplin nennen, derartige Unstimmigkeiten mit dem zu tun haben, was
Bildung
heißt: Die niederländische Malerei führt uns einen anderen Begriff von der Bildung des Menschen vor Augen als die italienische Renaissance. Um diesen je besonderen Begriff historisch zuverlässig zu rekonstruieren, sind dargestellte pädagogische Szenen zwar gelegentlich hilfreich; sie können aber in dem, was sie bedeuten, erst dann zuverlässig beschrieben werden, wenn der Bildungs-Gestus klar vor Augen steht, der als das generative Prinzip der je besonderen Form von Malkunst behauptet werden kann.
[123:24]
Ut pictura poesis
und
ut pictura, ita visio
sind nur zwei Varianten. Es gibt deren viele: die Bildungsentwürfe in den Engel-Darstellungen der ottonischen Buchmalerei, das sensualistische Bildungsprojekt Chardins (vgl. Mollenhauer 1988/89), die pessimistische Variante der Bildung bei Goya oder Manet, die kognitivistischen Entwürfe Mondrians oder Kandinskys, die Phänomenologie Cezannes, der archaische Erinnerungsentwurf Kiefers, die Ich-Reflexionen C. D. Friedrichs, F. Bacons oder A. Rainers usw.. Sie allesamt bringen nicht die sozialen Konstellationen von Erziehungsverhältnissen zur Sprache, sondern die Frage nach deren Möglichkeitsbedingung, nach dem Begriff von Bildung.

3. Fiktionen von Fiktionen

[123:25] Wie lassen sich diese Stichworte, Beispiele, Assoziationen so ordnen, daß sie der Thematik dieses Symposions dienlich sind? Einen Ordnungs- und Unterscheidungsbedarf sehe ich in den folgenden Hinsichten:
  1. 1.
    [123:26] Zum Status der Quellenmaterialien. Kunsthistorische Quellen für Bildungsgeschichtsschreibung haben einen anderen Status als Quellen, die wir sonst historiographisch verwenden. Sie sind Dokumente von Sichtweisen und nicht Dokumente für etwas, das auch unabhängig von der Sichtweise der Fall ist. Sie erzwingen deshalb hermeneutische Operationen der Erkenntnisgewinnung. Das Resultat solcher Operationen kann nicht – um diesen höchst mißverständlichen Ausdruck zu verwenden –
    Realgeschichte
    sein, sondern eine Geschichte konstruierter Deutungsentwürfe. Solche Deutungsentwürfe aber können nicht wahr |a 38|oder falsch sein, sondern nur kontextuell passend oder unpassend (Was sollte denn an den Mantegna- und Bellini-Bildern falsch sein?). Die Deutungskonstrukte, die die Bilder vorführen, gibt es oder gibt es nicht; es kann sie selten oder in Häufungen geben; als Kopien oder als Varianten usw., aber nicht als wahre oder falsche Konstruktionen. Weil es nur Vorschläge zur Deutung sind, brauchen wir keine Wahrheitsabsicht zu unterstellen (das ist bei Bekkedorffs preußischen Jahrbüchern, bei Sterberegistern, bei Schulordnungen ganz anders). Die von Malern – von Leonardos bis Cezannes – zwar immer wieder behauptete Wahrheits- und Erkenntnisabsicht liegt auf einem anderen Feld. Nicht bestreitbar aber scheint mir, daß auch derartige Konstruktionen zu dem gehören, was wir historische Realität nennen.
  2. 2.
    [123:27] Quelle und Historiographie. So wenig der Pädagoge als Historiograph, wenn er gelegentlich romanhafte Literatur verwendet, z.B. den Anton Reiser, nun seinerseits beginnen sollte, jedenfalls nach modernem Verständnis, Romane zu schreiben und dadurch die Deutungsvielfalt zu bereichern – ebensowenig sollte er, als Verwender von Bildern in bildungshistorischer Absicht, nun Bilder malen. Seine produktive Aufgabe besteht, wenn ich recht sehe, gerade darin, die ästhetischen Deutungsentwurfskonstrukte nicht einfach zu vermehren, sondern zu ihnen eine professionelle Distanz zu halten. Ästhetische Gütekriterien verbieten sich also – wenngleich sie als rhetorische Erleichterung für Lesefreuden willkommen sind. Der Historiograph will keine Deutungen konstruieren, er will vorhandene Deutungen rekonstruieren. Für die Verwendung kunsthistorischer Materialien in bildungsgeschichtlicher Absicht bedeutet dies: Die Gütekriterien für historiographische Berichterstattung sind nicht ästhetischer Natur, sondern z.B. zuverlässige Lokalisierung der Quellen in ihren historischen Kontexten, meßbarer Vergleich mit anderen, valide hermeneutische Deutung, wirkungsgeschichtliche Relevanzkontrolle. Das sind Kriterien, die den propositionalen Gehalt der historiographischen Sätze betreffen und mit der narrativen, konjekturalen Kompetenz des Bildungshistorikers nichts zutun haben.
  3. 3.
    [123:28] Hermeneutische Validität. Die gerade formulierte Behauptung muß ich nun, in ihrer apodiktischen Form, wieder zurücknehmen. Die hermeneutische Deutung des Quellenmaterials, jedenfalls wenn es sich um Produkte der bildenden Kunst handelt, enthält selbst eben dasjenige |a 39|Moment von Konstruktivität, dessen der nur rekonstruierende Historiograph sich ja gerade, der professionellen Erwartung wegen, enthalten sollte. Da die Quellen, wie ich gesagt habe,
    Sichtweisen
    oder
    Seh-Kulturen
    zur Darstellung bringen und da die hermeneutischen Operationen notwendig Subjektives ins Spiel bringen, stellt jede historische Quelle, besonders aber das Bilddokument, eine Verführung dar. Rousseau, als Quelle, ist für die Geschichtsschreibung der Pädagogik eine solche Verführung gewesen; die albertinische
    finestra aperta
    war es für den ikonologischen Typus der Kunstgeschichtsschreibung; für mich war es der mir durch El Lissitzky, Mondrian oder Gropius präformierte Blick auf die Bilder der Frührenaissance, in denen ich eine Verwandtschaft mit der Bildungsidee Albertis und mit aktuellen Problemstellungen – nicht entdeckte, sondern konstruierte (Mollenhauer 1985). Aus der allerjüngsten Bildungsgeschichtsschreibung präsentiert uns Rittelmeyer ein herausforderndes Beispiel: Werke der griechisch-antiken Kunst werden nach Maßgabe der platonischen
    Genealogie
    der Bildung interpretiert und für diese Deutungsfigur wird, wenngleich mit großer Vorsicht, die Hypothese universell-anthropologischer Geltung vorgeschlagen (Rittelmeyer 1991). Ob derartige Konstruktionen aber auch Entdeckungen, d.h. zuverlässige Rekonstruktionen sind, muß nach anderen Regeln entschieden werden als denen, die die fiktionale Güte einer Konstruktion zu beurteilen erlauben.
  4. 4.
    [123:29] Ästhesiologische Gütekriterien. Ich zögere, mich mit der letzten Auskunft zufriedenzugeben, und zwar aus einem hermeneutischen Grund. Bilder sind, im Vergleich zu Worten, andersartige Quellen. Sie fordern unseren Sinnen – von denen doch jede Erfahrung abhängt – eine andere Art von Tätigkeit ab;
    Bild-Zeichen und Sprach-Zeichen sind irreduzibel
    (vgl. Wünsche 1991, S. 275)
    . Der abstrahierende Übergang etwa von der kalligraphischen Qualität einer Handschrift in die gedruckte Nachschrift, nach Maßgabe der meisten historiographischen Interessen durchaus und mit Gründen vernachlässigenswert, ist hier nicht sinnvoll; er ist sogar gelegentlich sinnzerstörend. Man kann die beispielhafte Probe machen, indem man das Faksimile des Manuskripts der Bauhaus-Vorlesungen Paul Klees mit der typographischen Normalform vergleicht (Klee 1987, S. 91ff). Wenn wir also die Bilddokumente der Kunstgeschichtsschreibung bildungshistorisch verwenden wollen, dann rücken sie nicht dadurch ins Licht, daß sie als Reservoirs von Objekt-Beschreibungen genommen, sondern dadurch, daß sie ästhetisch ver|a 40|standen werden. In welcher Richtung die Gütekriterien für ein solches Verstehen zu suchen wären, wird von manchen Kunsthistorikern heute erläutert (z.B. Boehm 1980, 1990; Imdahl 1986), aber nicht nur deren phänomenologische Bemühungen scheinen mir eine bedeutende Erweiterung und Präzisierung des Hermeneutik-Konzepts zu sein, sondern auch die analytische Philosophie der ästhetischen symbolischen Formen (vgl. Goodman 1973). Für ästhetische Objekte, besonders Bilder, unterscheidet Goodman, worauf oben schon hingewiesen wurde, im Prinzip drei Symbolisierungen, denen je auch ein Verstehenszugang entspricht: das Bild
    repräsentiert
    erstens Momente der routinierten Lebensform, dessen also, was in der Alltagsrede
    Realität
    genannt wird; es
    exemplifiziert
    , zweitens, Eigenschaften, die nicht seine eigenen sind – es gibt beispielsweise eine Probe von Seide, die indessen mit Kreide gemalt ist (vgl. Imdahl 1983, S. 359ff.); und es ist, drittens, eine
    Expression
    , es drückt, auf metaphorische Weise, etwas aus, das der Innenwelt zugehört – nicht das Bild, etwa Bellinis gemalte Madonna in der zitierten Version
    ist
    traurig-ernst, sondern es ist eine gemalte Metapher für die ernste Trauer, die sich beim Betrachter einstellen mag.
[123:30] Diese dritte Symbolisierungsfunktion von Bildern wirft für den bildungstheoretisch interessierten Historiographen die schwierigsten Probleme auf. Ohne eine Reflexion auf die Leibhaftigkeit seiner Konfrontation mit dem Gebilde kann der hermeneutische Zugang nicht gelingen. Damit kommt etwas ins Spiel, das methodologischen Hardlinern und strenggläubigen Universalisten wie Relativisten höchst verdächtig sein muß: der Bezug auf die eigene Innenwelt. Er hat zwar nur einen heuristischen Status; dieser aber ist notwendig, weil sonst, ohne diese heuristische Bemühung, auch die historische Wirklichkeit solcher Bilder unbegriffen bliebe.
[123:31] Konjekturen zur Erzeugung sinnvoller Geschichte sind also nicht nur zwischen verschiedenen Datenmengen nötig, sondern – jedenfalls bei der Verwendung von Bildern – auch bei der Bestimmung der expressiv-metaphorischen Gehalte. Von der hermeneutischen Nötigung, mir einen, wenn auch vorläufigen, Begriff von dem metaphorischen Ausdrucksgehalt eines Bildes zu machen, kann mich kein zeitgenössischer Kommentator entlasten, weder Platon noch Alberti noch Panofsky. Die dafür nützlichen Operationen haben in der gegenwärtigen Diskussion viele Namen: Verstehen, Nachvollzug, Mimesis, Einbildungskraft, Imagination usw.. Sie alle beanspruchen, erkenntnisrelevant zu sein.
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[123:32] Derartige heuristische Konjekturen zwischen Innenwelt und Außenwelt sind freilich, in der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes, immer
fingiert
, wenngleich sie dem interpretierenden Subjekt gelegentlich nicht so scheinen. Derartige Konstruktionen beginnen nicht erst mit den kognitiven Entwürfen, die wir uns dazu machen und die wir uns je, wie man sagt,
verinnerlicht
haben mögen; sie beginnen, jedenfalls angesichts von Bildern, schon dort, wo solche Entwürfe aus der Konfrontation von Triebkräften unseres Organismus mit Umwelten sich bilden. Aber selbst für derartige Bildungen oder Konstruktionen muß die Frage in Geltung bleiben: ob es stimmt?

Literatur

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